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Mietvertrag - Sozialklausel

 Normen 

§§ 574 - 574c BGB

 Information 

1. Allgemein

Widerspruchsrecht des Mieters trotz berechtigter Kündigung des Vermieters:

Als Sozialklausel wird das Recht des Wohnraummieters bezeichnet, trotz einer berechtigten Kündigung des Vermieters die Fortsetzung des Mietverhältnisses zu verlangen. Voraussetzung ist, dass die Beendigung des Mietverhältnisses für den Mieter, seine Familie oder für andere Angehörige seines Haushalts eine Härte bedeuten würde. Die berechtigten Interessen des Vermieters sind dabei zu berücksichtigen.

Das Widerspruchsrecht ist ausgeschlossen, wenn der Vermieter zur außerordentlichen fristlosen Kündigung berechtigt ist.

2. Voraussetzungen

Voraussetzungen sind:

  • Das Vorliegen einer nicht zu rechtfertigenden Härte.

    Hohes Alter des Mieters:

    Der BGH hat nun ausführlich zu den Anforderungen an das Vorliegen einer Härte aufgrund Alters Stellung genommen und geurteilt, dass allein das Alter des Mieters keine Härte begründet (BGH 03.02.2021 - VIII ZR 68/19):

    "Das hohe Lebensalter eines Mieters kann in Verbindung mit weiteren Umständen - im Einzelfall auch der auf einer langen Mietdauer beruhenden tiefen Verwurzelung des Mieters in seiner Umgebung - bei der gebotenen wertenden Gesamtbetrachtung, mithin unter Berücksichtigung der sich aus diesen Faktoren konkret für den betroffenen Mieter ergebenden Folgen eines erzwungenen Wohnungswechsels, eine Härte begründen (BGH 22.05.2019 - VIII ZR 180/18). Insbesondere kann eine Härte zu bejahen sein, wenn zu den genannten Umständen (hohes Lebensalter, Verwurzelung aufgrund langer Mietdauer) Erkrankungen des Mieters hinzukommen, aufgrund derer im Falle seines Herauslösens aus der Wohnumgebung eine Verschlechterung seines gesundheitlichen Zustands zu erwarten steht. Lässt der gesundheitliche Zustand des Mieters einen Umzug nicht zu oder besteht im Falle eines Wohnungswechsels zumindest die ernsthafte Gefahr einer erheblichen Verschlechterung der gesundheitlichen Situation des (schwer) erkrankten Mieters, kann sogar allein dies einen Härtegrund darstellen (BGH 22.05.2019 - VIII ZR 180/18).

    Suizidgefahr des Mieters:

    Nach der Rechtsprechung des BGH (Urteil s.u.) ist sowohl bei der Feststellung des Vorliegens einer Härte im Sinne als auch bei deren Gewichtung im Rahmen der Interessenabwägung zwischen den berechtigten Belangen des Mieters und denen des Vermieters ist im Einzelfall zu berücksichtigen, ob und inwieweit sich die mit einem Umzug einhergehenden Folgen durch die Unterstützung des Umfelds des Mieters beziehungsweise durch begleitende ärztliche und/oder therapeutische Behandlungen mindern lassen.

    Aber: "Die Ablehnung einer möglichen Therapie durch den suizidgefährdeten Mieter führt nicht grundsätzlich dazu, dass das Vorliegen einer Härte abzulehnen oder bei der Interessenabwägung den Interessen des Vermieters der Vorrang einzuräumen wäre. Vielmehr ist dieser Umstand im Rahmen der umfassenden Würdigung der Gesamtumstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, bei der auch die Gründe für die Ablehnung, etwa eine krankheitsbedingt fehlende Einsichtsfähigkeit in eine Therapiebedürftigkeit, sowie die Erfolgsaussichten einer Therapie zu bewerten sind" (BGH 26.10.2022 - VIII ZR 390/21).

  • Eine Interessenabwägung, wonach die Beendigung des Mietverhältnisses für den Mieter, seine Familie oder einen anderen Angehörigen seines Haushalts eine Härte bedeuten würde, die auch unter Würdigung der berechtigten Interessen des Vermieters nicht zu rechtfertigen ist.

Die Anerkennung eines Härtegrundes beurteilt sich nach den Gegebenheiten des Einzelfalls. Lediglich in § 574 Abs. 2 BGB ist ein Härtegrund gesetzlich normiert: Danach ist eine Härte gegeben, wenn angemessener Ersatzwohnraum zu zumutbaren Bedingungen nicht beschafft werden kann.

Hinweis:

Der BGH hat mit dem Urteil BGH 22.05.2019 - VIII ZR 180/18 in ungewöhnlich umfassender Weise Leitsätze sowohl für das Vorliegen einer Härte als auch für die Interessenabwägung, angemessenen Ersatzwohnraum und das Verfahren aufgestellt, so u.a.

"Eine Ersatzwohnung ist angemessen, wenn sie im Vergleich zu der bisherigen Wohnung den Bedürfnissen des Mieters entspricht und sie finanziell für ihn tragbar ist. Dabei sind die Lebensführung des Mieters und seine persönlichen und finanziellen Lebensverhältnisse maßgebend. Die Wohnung muss allerdings dem bisherigen Wohnraum weder hinsichtlich ihrer Größe, ihres Zuschnitts oder ihrer Qualität noch nach ihrem Preis vollständig entsprechen."

Diese Rechtsprechung wurde mit dem Urteil BGH 11.12.2019 - VIII ZR 144/19 fortgeführt.

3. Form und Frist

Der Mieter hat den Widerspruch schriftlich zu erklären. Er ist grundsätzlich nur auf Verlangen des Vermieters, dann aber unverzüglich, zu begründen.

Zeitlich ist der Widerspruch bis spätestens zwei Monate vor der Beendigung des Mietverhältnisses zu erklären. Der Vermieter muss den Mieter bis zum Ablauf dieser Widerspruchsfrist auf sein Widerspruchsrecht sowie dessen Form und Frist hinweisen. Unterlässt er dies, so kann der Mieter den Widerspruch noch im ersten Termin des Räumungsrechtsstreits erklären.

Hinweis:

Der Mieter kann das Widerspruchsrecht bei Vorliegen der Voraussetzungen wiederholt anwenden.

4. Räumungsklage

Der BGH hat mit der Entscheidung BGH 28.04.2021 - VIII ZR 6/19 zu dem Inhalt der Darlegungslast des Mieters bei der Abwehr einer Räumungsklage Stellung genommen:

"Auch wenn ein Mieter seine Behauptung, ihm sei ein Umzug wegen einer bestehenden Erkrankung nicht zuzumuten, unter Vorlage bestätigender ärztlicher Atteste geltend macht, ist im Falle des Bestreitens dieses Vortrags regelmäßig die Einholung eines Sachverständigengutachtens zu der Art, dem Umfang und den konkreten Auswirkungen der beschriebenen Erkrankung auf die Lebensführung des betroffenen Mieters im Allgemeinen und im Falle des Verlusts der vertrauten Umgebung erforderlich. (...)

Dabei sind nicht nur Feststellungen zu der Art und dem Ausmaß der Erkrankungen sowie den damit konkret einhergehenden gesundheitlichen Einschränkungen, sondern auch zu den konkret feststellbaren oder zumindest zu befürchtenden Auswirkungen eines erzwungenen Wohnungswechsels zu treffen, wobei im letzteren Fall auch die Schwere und der Grad der Wahrscheinlichkeit der zu befürchtenden gesundheitlichen Einschränkungen zu klären ist."

5. Entscheidungserheblicher Zeitpunkt

Der BGH hat den Zeitpunkt zur Vornahme der Interessenabwägung wie folgt bestimmt (BGH 22.05.2019 - VIII ZR 167/17):

"Maßgeblicher Zeitpunkt für die nach wirksamem Widerspruch des Mieters gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB vorzunehmende Abwägung der wechselseitigen Interessen von Vermieter und Mieter sowie der sich anschließenden Beurteilung, ob, beziehungsweise für welchen Zeitraum das durch wirksame ordentliche Kündigung nach § 573 BGB beendete Mietverhältnis nach § 574a BGB fortzusetzen ist, ist der Schluss der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz".

6. Folgen eines erfolgreichen Widerspruchs

Ist das Mietverhältnis durch den Widerspruch verlängert, sind nach der gesetzlichen Regelung des § 574c BGB zwei Fälle zu unterscheiden:

  1. a)

    Das Mietverhältnis wurde durch Vereinbarung der Parteien oder Urteil befristet verlängert: Gemäß § 574c Abs. 1 BGB kann der Mieter eine weitere Fortsetzung des Mietverhältnisses über die Befristung hinaus nur verlangen, wenn dies durch eine wesentliche Änderung der Umstände gerechtfertigt ist oder wenn Umstände nicht eingetreten sind, deren Eintritt für die Befristung bestimmend war.

  2. b)

    Das Mietverhältnis wurde unbefristet verlängert: Gemäß § 574c Abs. 2 BGB hat der Mieter bei einer erneuten Kündigung ein weiteres Widerspruchsrecht. Eine erneute Verlängerung des Mietverhältnisses ist ausgeschlossen, wenn sich die Umstände nur unerheblich geändert haben.

 Siehe auch 

Mietvertrag

Mietvertrag - fristlose Kündigung

Mietvertrag - Kündigungsfrist

Mietvertrag - ordentliche Kündigung

Mietvertrag - Sonderkündigungsrecht

BGH 15.11.2000 - VIII ARZ 2/00 (Anwendbarkeit des Sozialklauselgesetzes auf Fälle vor Inkrafttreten des Gesetzes)

Blank: Anmerkung zu AG Hamburg, U. v. 05.10.2007 - 46 C 24/07 (Verhältnis der Sozialklausel zur Räumungsfrist); Wohnungswirtschaft & Mietrecht - WoM 2008, 15

Fleindl: Die Sozialklausel in Zeiten der Wohnungsnot. § 574 Abs. 2 BGB: eine vergessene Norm auf dem Prüfstand; Wohnungswirtschaft und Mietrecht - WuM 2019, 165

Harz/Riecke/Schmid: Handbuch des Fachanwalts Miet- und Wohnungseigentumsrecht; 7. Auflage 2021

Herlitz/Saxinger: Handbuch sozialer Wohnungsbau und Mietrecht; 1. Auflage 2019

Sternel: Zur Auslegung und Anwendung des Sozialklauselgesetzes; Zeitschrift für Miet- und Raumrecht - ZMR 1995, 1