Wikipedia und das Recht auf Pressefreiheit – wenn Grundrechte nicht mehr passen

Staat und Verwaltung
13.12.2012809 Mal gelesen
Die Wikimedia-Foundation berichtete letzte Woche in einer Pressemitteilung über die Entscheidung des LG Tübingen (Urt. v. 18.07.2012, Az. 7 O 525/10), in der das Gericht festgestellt habe, Wikimedia dürfe sich auf die Pressefreiheit aus Art. 5 Grundgesetz (GG) berufen.

Ein Universitätsprofessor aus Tübingen hatte Wikimedia verklagt, nachdem diese sich geweigert hatte, einen Beitrag über ihn zu löschen. Der Eintrag berichtet über das berufliche Wirken des Hochschullehrers, insbesondere über Details seines Lebenslaufs. Der Kläger fühlte sich dadurch in seinem Persönlichkeitsrecht verletzt.

Das Gericht wies die Klage als nicht schlüssig ab. Der Wikipedia-Eintrag sei nicht widerrechtlich, zumal es sich um wahre Tatsachenbehauptungen handele.

Das Gericht wertete den Artikel zwar einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Klägers, in der Abwägung unterschiedlicher Rechtsgüter sei aber das Grundrecht auf Pressefreiheit höher zu bewerten. Die Online-Enzyklopädie erfülle "das Interesse der Öffentlichkeit an einer ausreichenden Versorgung mit Informationen".

Laut dem LG Tübingen könne sich Wikimedia auf die Pressefreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG berufen. Problematisch erscheint, daß es an einem Grundrechtsträger der Pressefreiheit fehlt. Zwar schützt Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG auch Redakteure, bei Wikipedia sind aber keine einzelnen Autoren verantwortlich für einen Beitrag.

Für das Gericht war dies jedoch nicht ausschlaggebend. Ein Wikipedia-Artikel entsteht aus einer Vielzahl von Autoren, die den Artikel initiieren, kontrollieren, verändern und ggf. ständig aktualisieren. Auch und gerade darin liegt die grundsätzliche Qualität dieser Artikel und der Erfolg der Enzyklopädie.

Das Entstehen eines Artikels bei Wikipedia ist wohl vergleichbar mit einem netzwerkinitiierten Flashmob. Der Begriff Flashmob (englisch: Flash mob; flash = Blitz; mob [von mobilis beweglich] = Volksmenge) bezeichnet einen kurzen, scheinbar spontanen Menschenauflauf auf öffentlichen oder halböffentlichen Plätzen, bei denen sich die Teilnehmer persönlich nicht kennen und ungewöhnliche Dinge tun (Quelle: Wikipedia).

Würde man Flashmobs als Veranstaltung deklarieren, wäre zwar die Versammlungsfreiheit nach Art. 8 GG berührt, diese würde aber ausgehebelt, wenn jeder, der sich auf sie beruft, für alle Schäden haften müßte, die Demonstranten anrichten könnten. Die Rechtsprechung wird diese Vorkommnisse rechtlich verorten müssen, da das klassische Versammlungsrecht offensichtlich keine Anwendung finden kann. Die Fragen und Durchführung einer Anmeldungspflicht sind völlig ungeklärt.

Bei der Abwägung zwischen dem Persönlichkeitsrecht und der Pressefreiheit führt das LG Tübingen aus: "Die Inhalte sind ferner zwar abrufbereit im Internet verfügbar, allerdings werden diese nur dann zur Kenntnis genommen, wenn sich ein Nutzer aktiv informieren möchte. Anders als beispielsweise bei einer Zeitungsveröffentlichung ist hier nicht von einer breiten Ausstrahlungswirkung des Beitrags auszugehen, mit welchem potenziell die gesamte Bevölkerung informiert werden soll."

Zwar hat Wikipdia keine publizistische Grundausrichtung, faktisch wird hier aber wie bei einem Lexikon Zeitgeschichte festgehalten. Das Ergebnis  - ob gezielte Publikation eines Presseorgans, oder ein Wikipedia-Artikel - ist dasselbe. Es liegt eine Veröffentlichung vor, die auch Wertungen oder Abwägungen enthält.

Bezüglich des Persönlichkeitsechtes wird entscheidend sein, ob jemand eine absolute oder relative Person der Zeitgeschichte ist und nicht Unwahrheiten verbreitet werden. Absolute Personen der Zeitgeschichte stehen unabhängig von einem Einzelereignis im Blickpunkt und sind aufgrund ihrer Lebensweise, gesellschaftlichen Stellung oder besonderen Leistungen für die Öffentlichkeit besonders interessant.

Die Entscheidung des LG Tübingen ist also zu begrüßen, da das Internet neue Entwicklungen zur Folge hatte und hat, die die sog. Väter des Grundgesetzes nicht kennen konnten. Hier sind exemplarisch zwei Grundrechte genannt, die von "klassichen" Konstellationen ausgehen, die vorliegend nicht mehr gegeben sind (Versammlung und Presseveröffentlichung - Flashmob und freie Internet-Enzyklopädie).

Jedenfalls besteht hier Handlungsbedarf des Gesetzgebers, damit ein langwieriges und ggf. uneinheitliches Richterrecht vermieden wird. 

Das zeigen verschiedene Urteile zum Thema Wikipedia, die die Frage, ob hier die Pressefreiheit tangiert wird entweder offen lassen (LG Schweinfuhrt, Urt. v. 23.10.2012, Az. 22 O 934/10), oder zugunsten der Presse ausführten, daß Wikipedia eher wie ein Internetforum funktioniere (LG Hamburg, Urt. v. 16.5.2008, Az. 324 O 847/07). 

Rechtsanwalt Holger Hesterberg 

Bundesweite Tätigkeit. Mitgliedschaft im DAV. 

Mail:kanzlei@anwalthesterberg.de