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Bundesgerichtshof
Urt. v. 17.11.2022, Az.: VII ZR 297/21
Nichtbeachtung der Vorlagepflicht; Entzug der erneuten Beurteilung der grundsätzlichen Bedeutung der Sache dem Kollegium als dem gesetzlich zuständigen Richter durch den Einzelrichter
Gericht: BGH
Entscheidungsform: Urteil
Datum: 17.11.2022
Referenz: JurionRS 2022, 44334
Aktenzeichen: VII ZR 297/21
ECLI: ECLI:DE:BGH:2022:171122UVIIZR297.21.0

Verfahrensgang:

vorgehend:

LG Stade - 22.01.2020 - AZ: 2 O 51/19

OLG Celle - 10.03.2021 - AZ: 7 U 187/20 (S. 7a)

Fundstellen:

BGHZ 235, 163 - 168

BauR 2023, 528-530

ErbR 2023, 246

FA 2023, 25-26

MDR 2023, 118

NJW 2023, 925-926 "Vorlagepflicht des Einzelrichters"

WM 2023, 543-544

ZAP EN-Nr. 45/2023

ZfBR 2023, 241-242

BGH, 17.11.2022 - VII ZR 297/21

Amtlicher Leitsatz:

  1. a)

    Der Einzelrichter muss den Rechtsstreit nach § 526 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO dem Kollegium zur Entscheidung über eine Übernahme vorlegen, wenn sich eine aus seiner Sicht gegebene grundsätzliche Bedeutung aus einer - nach der Übertragung auf ihn eingetretenen - wesentlichen Änderung der Prozesslage ergibt.

  2. b)

    Durch Nichtbeachtung der Vorlagepflicht entzieht der Einzelrichter die erneute Beurteilung der grundsätzlichen Bedeutung der Sache dem Kollegium als dem gesetzlich zuständigen Richter.

Der VII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat gemäß § 128 Abs. 2 ZPO im schriftlichen Verfahren, in dem Schriftsätze bis zum 17. Oktober 2022 eingereicht werden konnten, durch den Vorsitzenden Richter Pamp, die Richter Halfmeier und Dr. Kartzke sowie die Richterinnen Dr. Brenneisen und Dr. C. Fischer
für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Einzelrichters des 7a. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Celle vom 10. März 2021 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als zum Nachteil der Klägerin erkannt worden ist, jedoch mit Ausnahme des Antrags auf Feststellung, dass der Kaufpreiserstattungsanspruch der Klägerin aus einer vorsätzlichen unerlaubten Handlung der Beklagten herrührt.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht (Einzelrichter) zurückverwiesen.

Gerichtskosten für das Revisionsverfahren werden nicht erhoben.

Der Streitwert für die Revisionsinstanz wird auf bis 16.000 € festgesetzt.

Tatbestand

1

Die Klägerin nimmt die beklagte Fahrzeugherstellerin wegen der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung auf Schadensersatz in Anspruch.

2

Die Klägerin erwarb mit Kaufvertrag vom 22. September 2015 von einem Autohändler ein Kraftfahrzeug des Typs VW Caddy als Gebrauchtwagen zum Preis von 26.500 €. Das Fahrzeug ist mit einem von der Beklagten hergestellten Dieselmotor der Baureihe EA 189 ausgestattet. Dieser verfügte über eine Motorsteuerungssoftware, die das Durchfahren des Neuen Europäischen Fahrzyklus auf dem Prüfstand erkannte und in diesem Fall eine höhere Abgasrückführungsrate als im Normalbetrieb bewirkte. Am 27. Oktober 2020 veräußerte die Klägerin das Fahrzeug weiter.

3

Das Landgericht (Einzelrichter) hat die Beklagte zur Erstattung des Kaufpreises nebst Prozesszinsen Zug um Zug gegen Zahlung von 6.168,25 € Nutzungsersatz und Herausgabe des - zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiterveräußerten - Fahrzeugs sowie zum Ausgleich vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten in Höhe von insgesamt 2.077,74 € verurteilt und festgestellt, dass der Kaufpreiserstattungsanspruch der Klägerin aus einer vorsätzlichen unerlaubten Handlung der Beklagten herrührt. Gegen dieses Urteil haben beide Parteien Berufung eingelegt. Das Berufungsgericht hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 5. November 2020 auf den Einzelrichter übertragen. Mit Schriftsatz vom 19. Januar 2021 hat die Klägerin die Veräußerung des Fahrzeugs mitgeteilt.

4

Die Klägerin hat in der Berufungsinstanz zuletzt beantragt, das erstinstanzliche Urteil dahingehend abzuändern, dass die Kaufpreiserstattung Zug um Zug gegen Zahlung von (lediglich) 5.509,90 € Nutzungsersatz und - statt der Herausgabe des Fahrzeugs - 8.000 € Wertersatz zu erfolgen habe. Das Berufungsgericht, das durch den Einzelrichter entschieden hat, hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Auf die Berufung der Beklagten hat es deren Verurteilung - unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels und Klageabweisung im Übrigen - auf die Zahlung von Prozesszinsen aus einem Betrag von 19.855,91 € für die Zeit bis zur Fahrzeugveräußerung und den Ausgleich vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten in Höhe von insgesamt 1.171,67 € beschränkt.

5

Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren aus der Berufungsinstanz mit Ausnahme des Antrags auf Feststellung, dass ihr Kaufpreiserstattungsanspruch aus einer vorsätzlichen unerlaubten Handlung der Beklagten herrührt, weiter.

Entscheidungsgründe

6

Die Revision ist zulässig und begründet. Das Berufungsurteil unterliegt im Umfang der Anfechtung schon deshalb der Aufhebung, weil es als Einzelrichterentscheidung unter Verletzung des verfassungsrechtlichen Gebots des gesetzlichen Richters gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ergangen ist.

I.

7

Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung, soweit für das Revisionsverfahren von Interesse, im Wesentlichen Folgendes ausgeführt:

8

Zwar sei die Beklagte grundsätzlich gemäß § 826 BGB verpflichtet, den Käufern von Fahrzeugen mit dem Motor EA 189 den um eine Nutzungsvergütung geminderten Kaufpreis Zug um Zug gegen Übereignung des Fahrzeugs zu erstatten. Der Schaden der Klägerin sei jedoch durch die Weiterveräußerung des Fahrzeugs, mit der sie sich von den letzten verbliebenen Folgen des "ungewollten" Kaufvertrags befreit habe, entfallen. Einen durch den "Diesel-Abgasskandal" bedingten Mindererlös habe die Klägerin trotz eines gerichtlichen Hinweises nicht dargetan. Unberührt bleibe ein Anspruch auf Prozesszinsen bis zur Weiterveräußerung und auf Ersatz vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten.

9

Die Revision sei zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung nach § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO zuzulassen, da die Auswirkungen einer Weiterveräußerung des Fahrzeugs auf den Schadensersatzanspruch nach § 826 BGB in der obergerichtlichen Rechtsprechung unterschiedlich beurteilt würden.

II.

10

Die Revision ist aufgrund der Zulassung durch das Berufungsgericht gemäß § 543 Abs. 1 Nr. 1 ZPO statthaft. Die Zulassung durch den Einzelrichter ist nicht deshalb unwirksam, weil dieser es versäumt hat, den Rechtsstreit gemäß § 526 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO dem Kollegium zur Entscheidung über eine Übernahme vorzulegen (vgl. zu § 568 Satz 2 Nr. 2 ZPOBGH, Beschluss vom 23. März 2022 - VII ZB 71/21 Rn. 7, juris; Beschluss vom 9. Oktober 2018 - VIII ZB 44/18 Rn. 8 m.w.N., juris). Der Statthaftigkeit der Revision steht auch keine Zulassungsbeschränkung entgegen. Das Berufungsgericht hat die Zulassung der Revision im Urteilstenor ohne Einschränkungen ausgesprochen und in den Entscheidungsgründen lediglich den Grund für die Zulassung angegeben (vgl. BGH, Urteil vom 16. September 2021 - VII ZR 192/20 Rn. 16 f., NJW 2022, 321).

III.

11

Der Erlass des Berufungsurteils durch den Einzelrichter verletzt Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.

12

1. Das vollbesetzte Berufungsgericht hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 5. November 2020 gemäß § 526 Abs. 1 ZPO einem seiner Mitglieder als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen. Der so ermächtigte Einzelrichter ist zur Entscheidung über die Berufung auch dann befugt, wenn er abweichend von der Mehrheit des Kollegiums (vgl. § 526 Abs. 1 Nr. 3 ZPO) von vornherein die grundsätzliche Bedeutung der Sache angenommen hat (vgl. BGH, Urteil vom 10. Dezember 2020 - IX ZR 80/20 Rn. 11, WM 2021, 257; Urteil vom 11. Oktober 2018 - VII ZR 288/17 Rn. 14 m.w.N., BGHZ 220, 68). Er kann auch ohne Verfahrensverstoß die Revision zulassen (BGH, Urteil vom 5. Februar 2013 - VI ZR 290/11 Rn. 11, NJW 2013, 1149).

13

Der Einzelrichter muss den Rechtsstreit jedoch nach § 526 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO dem Kollegium zur Entscheidung über eine Übernahme vorlegen, wenn sich die aus seiner Sicht gegebene grundsätzliche Bedeutung aus einer - nach der Übertragung auf ihn eingetretenen - wesentlichen Änderung der Prozesslage ergibt (vgl. BGH, Urteil vom 29. April 2020 - VIII ZR 355/18 Rn. 12, NJW 2020, 1947; Urteil vom 11. Oktober 2018 - VII ZR 288/17 Rn. 14, BGHZ 220, 68; Urteil vom 16. Juli 2015 - IX ZR 197/14 Rn. 19, WM 2015, 1622; Urteil vom 16. Juli 2003 - VIII ZR 286/02, NJW 2003, 2900, juris Rn. 5). Eine solche Vorlagepflicht hat der Einzelrichter im Streitfall nicht beachtet. Mit der Zulassung der Revision hat er die - im Sinne aller in § 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO genannten Zulassungsgründe zu verstehende (vgl. BGH, Beschluss vom 28. Januar 2022 - VI ZB 13/20 Rn. 5, NJW-RR 2022, 570; Beschluss vom 9. Oktober 2018 - VIII ZB 44/18 Rn. 9, juris; Beschluss vom 15. Juni 2011 - II ZB 20/10 Rn. 18, NJW 2011, 2974; jeweils m.w.N.) - grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache gemäß § 526 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO bejaht. Konkret hat er die Frage als zulassungsrelevant angesehen, welche Rechtsfolgen sich aus der Weiterveräußerung des Fahrzeugs durch die Klägerin ergeben. Die Weiterveräußerung ist dem Berufungsgericht aber erst mit Schriftsatz der Klägerin vom 19. Januar 2021, also nach der Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter mitgeteilt worden. Damit ergab sich die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache aus der maßgeblichen Sicht des Einzelrichters aus einer wesentlichen Änderung der Prozesslage im Sinne von § 526 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO.

14

2. Durch die Nichtbeachtung der Vorlagepflicht gemäß § 526 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO hat der Einzelrichter die erneute Beurteilung der grundsätzlichen Bedeutung der Sache dem Kollegium als dem gesetzlich zuständigen Richter entzogen (vgl. BGH, Beschluss vom 23. März 2022 - VII ZB 71/21 Rn. 10, juris; Urteil vom 13. August 2013 - VI ZR 389/12 Rn. 8 m.w.N., NJW 2014, 300; Beschluss vom 27. Oktober 2005 - III ZB 66/05, NJW-RR 2006, 286, juris Rn. 3). Gleiches gilt für die Entscheidung in der Sache, da aus der Sicht des Einzelrichters eine Übernahme des Rechtsstreits durch das Kollegium gemäß § 526 Abs. 2 Satz 2 ZPO geboten gewesen wäre. Das Vorgehen des Einzelrichters stellt sich angesichts der widersprüchlichen gleichzeitigen Bejahung und (impliziten) Verneinung der Grundsatzbedeutung als objektiv willkürlich dar und verletzt daher das Verfassungsgebot des gesetzlichen Richters gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (vgl. BGH, Beschluss vom 28. Januar 2022 - VI ZB 13/20 Rn. 5, NJW-RR 2022, 570; Beschluss vom 9. Oktober 2018 - VIII ZB 44/18 Rn. 9, juris; Beschluss vom 15. Juni 2011 - II ZB 20/10 Rn. 18, NJW 2011, 2974; Beschluss vom 13. März 2003 - IX ZB 134/02, BGHZ 154, 200, juris Rn. 7 f.).

15

Das Revisionsgericht hat den Verfassungsverstoß von Amts wegen zu beachten (vgl. BGH, Beschluss vom 28. Januar 2022 - VI ZB 13/20 Rn. 5, NJW-RR 2022, 570; Beschluss vom 9. Oktober 2018 - VIII ZB 44/18 Rn. 9, juris; Beschluss vom 27. Oktober 2005 - III ZB 66/05, NJW-RR 2006, 286, juris Rn. 3; jeweils m.w.N.). § 526 Abs. 3 ZPO steht - in verfassungskonformer Auslegung - der Beachtlichkeit der Rechtsverletzung nicht entgegen (vgl. BGH, Urteil vom 10. Dezember 2020 - IX ZR 80/20 Rn. 9, WM 2021, 257; Urteil vom 11. Oktober 2018 - VII ZR 288/17 Rn. 13, BGHZ 220, 68; Urteil vom 18. November 2016 - V ZR 221/15 Rn. 7, NJW-RR 2017, 260; Urteil vom 16. Juli 2015 - IX ZR 197/14 Rn. 19, WM 2015, 1622; Urteil vom 12. Dezember 2006 - VI ZR 4/06 Rn. 5, BGHZ 170, 180).

IV.

16

Entscheidet der Einzelrichter - wie hier - unbefugt allein, ist der absolute Revisionsgrund der fehlerhaften Gerichtsbesetzung gemäß § 547 Nr. 1 ZPO gegeben (vgl. BGH, Beschluss vom 25. November 2015 - XII ZB 105/13 Rn. 10, NJW-RR 2016, 388; Urteil vom 13. August 2013 - VI ZR 389/12 Rn. 7, NJW 2014, 300). Das Berufungsurteil ist ohne Sachprüfung im Umfang seiner Anfechtung aufzuheben und die Sache insoweit an das Berufungsgericht (Einzelrichter) zurückzuverweisen.

17

Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass der Einzelrichter nicht gehindert ist, die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 526 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO nach erneuter Prüfung zu verneinen, nachdem der Bundesgerichtshof die Rechtsfolgen einer Weiterveräußerung des Fahrzeugs durch den Geschädigten zwischenzeitlich im Grundsatz geklärt hat (vgl. BGH, Urteil vom 16. Dezember 2021 - VII ZR 389/21 Rn. 20, ZIP 2022, 220; Urteil vom 20. Juli 2021 - VI ZR 533/20 Rn. 24 ff., NJW 2021, 3594).

V.

18

Hinsichtlich der durch die Revision entstandenen Gerichtskosten macht der Senat von der Möglichkeit des § 21 GKG Gebrauch.

Pamp

Halfmeier

Kartzke

Brenneisen

C. Fischer

Von Rechts wegen

Verkündet am: 17. November 2022

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