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Bundesgerichtshof
Beschl. v. 22.10.2015, Az.: V ZR 146/14
Voraussetzungen eines verschuldensunabhängigen nachbarrechtlichen Ausgleichsanspruchs wegen Beschädigung einer Stützmauer
Gericht: BGH
Entscheidungsform: Beschluss
Datum: 22.10.2015
Referenz: JurionRS 2015, 31495
Aktenzeichen: V ZR 146/14
ECLI: [keine Angabe]

Verfahrensgang:

vorgehend:

LG Trier - 29.05.2013 - AZ: 5 O 287/12

OLG Koblenz - 30.05.2014 - AZ: 10 U 834/13

Fundstellen:

NJW-RR 2016, 210-211 "Rechtliches Gehör als Prozessgrundrecht"

NZM 2016, 180-181

BGH, 22.10.2015 - V ZR 146/14

Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 22. Oktober 2015 durch die Vorsitzende Richterin Dr. Stresemann, die Richterinnen Prof. Dr. Schmidt-Räntsch und Dr. Brückner, den Richter Dr. Göbel und die Richterin Haberkamp
beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des 10. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Koblenz vom 30. Mai 2014 wird zurückgewiesen.

Die Beklagten tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der Kosten der Streithilfe zur Hälfte.

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers wird das Urteil des 10. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Koblenz vom 30. Mai 2014 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die restlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der restlichen Kosten der Streithilfe, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Der Gegenstandswert für das Beschwerdeverfahren wird auf insgesamt 69.166,07 € festgesetzt (Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers 69.166,07 €, Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten 69.166,07 €).

Gründe

I.

1

Der Kläger ist Eigentümer einer Kreisstraße sowie einer der Abstützung dieser Straße dienenden Schwergewichtsmauer. Die Mauer befindet sich oberhalb des im Eigentum der Beklagten stehenden Grundstücks. Die Beklagten beauftragten die Streithelferin des Klägers mit der Errichtung eines neuen Wohnhauses in Fertigbauweise mit einem massiven Keller. Zur Herstellung des Kellers mussten in dem steil ansteigenden Grundstück der Beklagten Abgrabungen vorgenommen werden. Während dieser Arbeiten stürzte am 16. November 2009 ein großer Teil der Schwergewichtsmauer ein. Mit der Klage nimmt der Kläger die Beklagten auf Zahlung eines Betrages von 69.166,07 € in Anspruch. Das Landgericht hat die Beklagten antragsgemäß verurteilt. Auf ihre Berufung hat das Oberlandesgericht den Klageanspruch dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt und den Rechtsstreit wegen der Höhe des Anspruchs an das Landgericht zurückverwiesen; die Revision hat es nicht zugelassen. Hiergegen wenden sich beide Parteien mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde.

II.

2

Nach Auffassung des Berufungsgerichts ist der Anspruch des Klägers wegen Beschädigung der Stützmauer dem Grunde nach gegeben. Es lägen die Voraussetzungen eines verschuldensunabhängigen nachbarrechtlichen Ausgleichsanspruchs in entsprechender Anwendung des § 906 Abs. 2 Satz 2 BGB vor. Auf Veranlassung der Beklagten sei beim Bau des Hauses eine Vertiefung ihres Grundstückes im Sinne des § 909 BGB vorgenommen worden. Der Kläger habe keine Möglichkeit gehabt, den Schaden zu verhindern. Zur Höhe sei die Sache noch nicht entscheidungsreif. Die Beklagten hätten die von dem Kläger in Ansatz gebrachten Positionen substantiiert bestritten. Der Rechtsstreit sei entsprechend dem Hilfsantrag der Beklagten insoweit an das Landgericht zurückzuverweisen. Das erstinstanzliche Verfahren leide an einem wesentlichen Mangel, da das Landgericht das Bestreiten der Beklagten zur Höhe übergangen habe. Insoweit seien weiterer Vortrag beider Parteien sowie eine aufwendige Beweisaufnahme erforderlich.

III.

3

Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils nach § 544 Abs. 7 ZPO, weil das Berufungsgericht den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat.

4

1. Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen und Anträge der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Das Gebot des rechtlichen Gehörs soll als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die Entscheidungen frei von Verfahrensfehlern ergehen, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. Das Gericht muss sich zwar nicht mit jedem Vorbringen der Prozessbeteiligten in den Entscheidungsgründen ausdrücklich befassen. Ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG liegt aber vor, wenn im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass das Vorbringen der Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung ersichtlich nicht erwogen worden ist (BGH, Beschluss vom 3. Dezember 2013 - XI ZR 311/11, NJW-RR 2014, 381 Rn. 9 [BGH 03.12.2013 - XI ZR 301/11] mwN).

5

2. Nach diesen Maßstäben ist Art. 103 Abs. 1 GG verletzt.

6

a) aa) Das Berufungsgericht begründet das Vorliegen eines wesentlichen Mangel des Verfahrens des Landgerichts (§ 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO) mit der Erwägung, das Landgericht habe das Bestreiten der Beklagten zur Höhe des klägerischen Anspruchs übergangen. Worauf das Berufungsgericht diese Feststellung stützt, wird nicht näher erläutert. Eine Auseinandersetzung mit den Feststellungen in dem Tatbestand des Urteils des Landgerichts, die gemäß § 314 ZPO Beweis für das mündliche Parteivorbringen liefern, fehlt. Das Landgericht hat es aber als unstreitig dargestellt, dass dem Kläger ein Schaden in Höhe von 69.166,07 € entstanden ist. Zur näheren Begründung der Schadenshöhe hat es ergänzend auf die Klageschrift Bezug genommen. Einen Antrag auf Berichtigung des Tatbestandes (§ 320 ZPO) haben die Beklagten nicht gestellt. Dass das Berufungsgericht gleichwohl ohne weitere Begründung von einem Bestreiten der Beklagten ausgegangen ist, lässt nur den Rückschluss zu, dass es den Tatbestand des erstinstanzlichen Urteils und damit auch das Vorbringen der Parteien in der ersten Instanz entweder nicht zur Kenntnis genommen oder aber bei der Entscheidung nicht erwogen hat.

7

bb) Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der von der Beschwerdeerwiderung in Bezug genommenen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, dass einem Tatbestand keine Beweiswirkung zukommt, wenn er in sich widersprüchlich ist. Vorauszusetzen ist hierfür nämlich ein Widerspruch zwischen den tatbestandlichen Feststellungen und einem konkret in Bezug genommenen schriftsätzlichen Vorbringen einer Partei (BGH, Urteil vom 12. Mai 2015 - VI ZR 102/14, VersR 2015, 1165 Rn. 48 mwN), an dem es hier fehlt. Der weitere Hinweis der Beklagten, nach der Rechtsprechung des Senats (Urteil vom 20. März 2004 - V ZR 257/03, BGHZ 158, 269, 280 ff.) hindere § 314 ZPO das Gericht nicht, den gesamten Streitstoff in den Grenzen der §§ 529 bis 531 ZPO zu berücksichtigen, ist unzutreffend. Richtig ist, dass einem Tatbestand keine negative Beweiskraft zukommt, so dass ein Parteivorbringen, das sich aus den vorbereitenden Schriftsätzen ergibt, nicht allein deshalb in dem Rechtsmittelverfahren unberücksichtigt bleiben kann, weil es in dem Tatbestand des erstinstanzlichen Urteils keine Erwähnung gefunden hat. Vorliegend geht es jedoch um die positive Beweiskraft des Tatbestands, die das Berufungsgericht zu beachten hat.

8

b) Unabhängig davon hat sich das Berufungsgericht auch nicht mit den Ausführungen des Klägers in der Berufungserwiderung vom 16. Dezember 2013 und in dem nachgelassenen Schriftsatz vom 25. April 2014 auseinandergesetzt. In diesen Schriftsätzen hat der Kläger darauf hingewiesen, dass nach der eigenen Darstellung der Beklagten das Bestreiten bezüglich der Höhe der Klageforderung erst nach Schluss der mündlichen Verhandlung in einem Schriftsatz vom 24. Mai 2013 erfolgt sei. Seitens des Landgerichts habe keine Veranlassung bestanden, dieses verspätete Bestreiten zu berücksichtigen. Auch dieses Vorbringen hätte dem Berufungsgericht im Hinblick auf die Vorschrift des § 296a ZPO Veranlassung geben müssen seine Auffassung, das Landgericht habe das Bestreiten der Beklagten zur Höhe "übergangen", zu überprüfen. Nach Schluss der mündlichen Verhandlung können Angriffs- und Verteidigungsmittel nicht mehr vorgebracht werden. Das Fehlen jeglicher Auseinandersetzung mit dem Vorbringen des Klägers verletzt ebenfalls Art. 103 Abs. 1 GG.

9

c) Das Berufungsurteil beruht auch auf dieser Verletzung. Hiervon ist schon dann auszugehen, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Gericht bei Berücksichtigung des übergangenen Vorbringens anders entschieden hätte (BGH, Beschluss vom 3. Dezember 2013 - XI ZR 311/11, NJW-RR 2014, 381 Rn. 11 [BGH 03.12.2013 - XI ZR 301/11] mwN). Dies ist hier der Fall. Es ist nicht auszuschließen, dass das Berufungsgericht das Vorliegen der Voraussetzungen des § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO verneint hätte, wenn es die Feststellungen in dem Tatbestand des landgerichtlichen Urteils sowie die Hinweise des Klägers auf ein Bestreiten der Schadenshöhe erst nach Schluss der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht in seine Überlegungen miteinbezogen hätte. Haben die Beklagten die Höhe des von dem Kläger geltend gemachten Anspruchs erstmalig im Berufungsrechtszug bestritten, stellte sich die Frage, ob sie mit diesem Vorbringen gemäß § 531 Abs. 2 ZPO zuzulassen sind. Bei Verneinung hätte das Berufungsgericht nicht nur von der Zurückverweisung an das Landgericht, sondern möglicherweise auch von dem Erlass eines Grundurteils abgesehen. Deshalb ist das Urteil des Berufungsgerichts insgesamt aufzuheben.

10

3. In der erneuten Verhandlung wird das Berufungsgericht zu berücksichtigen haben, dass aufgrund eines Entschädigungsanspruchs gemäß § 906 Abs. 2 Satz 2 BGB analog nicht Schadensersatz, sondern lediglich ein nach den Grundsätzen der Enteignungsentschädigung zu bestimmender Ausgleich verlangt werden kann, wonach nur der unzumutbare Teil der Beeinträchtigung auszugleichen ist (Senat, Urteile vom 23. Februar 2001 - V ZR 389/99, BGHZ 147, 45, 53 und vom 25. Oktober 2013 - V ZR 230/12, BGHZ 198, 327 Rn. 24 mwN).

IV.

11

Die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten ist dagegen zurückzuweisen, weil insoweit die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und die Fortbildung des Rechts sowie die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts nicht erfordern (§ 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Von einer näheren Begründung wird gemäß § 544 Abs. 4 Satz 2 Halbs. 2 ZPO abgesehen.

V.

12

Weil die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten erfolglos geblieben ist, haben sie die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der Kosten der Streithilfe gemäß § 97 Abs. 1, § 101 Abs. 1 ZPO zur Hälfte zu tragen. Im übrigen hängt die Verteilung der Kosten des Beschwerdeverfahrens davon ab, ob und (wenn ja) in welchem Umfang der Kläger nach der Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht in der Sache obsiegen wird.

13

Die nach der Rechtsprechung des Senats bei einem teilweisen Erfolg einer Nichtzulassungsbeschwerde erforderliche Unterscheidung zwischen Gerichtskosten und außergerichtlichen Kosten (Senat, Urteil vom 17. Dezember 2003 - V ZR 343/02, NJW 2004, 1048) ist nicht erforderlich. Zwar ist eine solche Unterscheidung grundsätzlich auch bei wechselseitig eingelegten Beschwerden angezeigt, von denen nur eine Erfolg hat. Hier besteht jedoch die Besonderheit, dass sich der Streitwert durch die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten nicht erhöht hat (vgl. zu einer solchen Fallkonstellation auch BGH, Urteil vom 9. November 2011 - IV ZR 239/09, VersR 2012, 720 Rn. 24). Beide Rechtsmittel betreffen denselben Gegenstand i.S.d. § 45 Abs. 2 i.V.m. § 45 Abs. 1 Satz 3 GKG. Deshalb ist es auch nicht gerechtfertigt, den Beklagten unabhängig von dem weiteren Ausgang des Rechtsstreits die gesamten Gerichtskosten des Beschwerdeverfahrens aufzuerlegen.

Stresemann

RinBGH Prof. Dr. Schmidt-Räntsch ist infolge einer Dienstreise an der Unterschrift gehindert.
Karlsruhe, den 6. November 2015
Die Vorsitzende Stresemann

Brückner

Göbel

Haberkamp

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