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Bundesverwaltungsgericht
Urt. v. 29.03.2022, Az.: BVerwG 4 C 6.20
Nachbarklage gegen eine erteilte Baugenehmigung für den Neubau eines Feuerwehrgerätehauses in einem faktischen allgemeinen Wohngebiet; Ausnahmsweise Zulässigkeit von Anlagen für Verwaltungen
Gericht: BVerwG
Entscheidungsform: Urteil
Datum: 29.03.2022
Referenz: JurionRS 2022, 27030
Aktenzeichen: BVerwG 4 C 6.20
ECLI: ECLI:DE:BVerwG:2022:290322U4C6.20.0

Verfahrensgang:

vorgehend:

VG Münster - 05.04.2017 - AZ: 2 K 1345/15

OVG Nordrhein-Westfalen - 23.09.2019 - AZ: 10 A 1114/17

Fundstellen:

BauR 2022, 1479-1481

BayVBl 2022, 859-861

DÖV 2022, 918

DVBl 2022, 1209-1212

Jura 2022, 1512

NVwZ 2022, 1383-1385

ZAP EN-Nr. 705/2022

ZAP 2022, 1152

ZfBR 2022, 689-691

BVerwG, 29.03.2022 - BVerwG 4 C 6.20

Amtlicher Leitsatz:

  1. 1.

    Ein Feuerwehrgerätehaus ist eine Anlage für Verwaltungen im Sinne von § 4 Abs. 3 Nr. 3 BauNVO.

  2. 2.

    Ein Feuerwehrgerätehaus, das nach Größe und Ausstattung maßgeblich auch dem effektiven Brandschutz in der näheren Umgebung dient, ist im allgemeinen Wohngebiet gebietsverträglich.

  3. 3.

    Ein Grundstücksnachbar hat keinen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Erteilung einer Ausnahme nach § 34 Abs. 2, § 31 Abs. 1 BauGB, § 4 Abs. 3 Nr. 3 BauNVO.

In der Verwaltungsstreitsache
hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 29. März 2022
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Schipper
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Brandt, Prof. Dr. Külpmann,
Dr. Hammer und die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Emmenegger
für Recht erkannt:

Tenor:

Die Revision des Klägers zu 3 gegen das auf die mündliche Verhandlung vom 23. September 2019 ergangene Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen wird zurückgewiesen.

Der Kläger zu 3 trägt die Kosten des Revisionsverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.

Gründe

I

1

Der Kläger zu 3 wendet sich gegen eine der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für den Neubau eines Feuerwehrgerätehauses in einem faktischen allgemeinen Wohngebiet.

2

Das Vorhabengrundstück A. Straße in B. (Gemarkung C., Flur ..., Flurstück ...) liegt im unbeplanten Innenbereich. Der Kläger zu 3 ist dinglich Berechtigter an dem Nachbargrundstück, das mit einem gewerblich und zu Wohnzwecken genutzten Gebäudekomplex bebaut ist.

3

Der Beklagte erteilte der Beigeladenen mit Bescheid vom 7. Mai 2015 eine Baugenehmigung für die Errichtung eines Satellitenstandorts der Freiwilligen Feuerwehr. Dieser soll der Unterbringung von zwei Einsatzfahrzeugen dienen und über einen Sozialtrakt mit Aufenthalts-, Sozial- und Technikräumen verfügen. An dem für den Kläger zu 3 maßgeblichen Immissionsort darf im Normalbetrieb tags ein Beurteilungspegel von 55 dB(A) nicht überschritten werden. Für den Einsatz- bzw. Notfallbetrieb ist die Einhaltung eines Beurteilungspegels von tags 60 dB(A) und nachts 45 dB(A) vorgesehen. Außerdem sind kurzzeitige Geräuschspitzen von tags 100 dB(A) und nachts 80 dB(A) zulässig.

4

Das Verwaltungsgericht hat die Baugenehmigung aufgehoben. Das Vorhaben verstoße gegen das in § 15 BauNVO zum Ausdruck kommende Gebot der Rücksichtnahme, da die Immissionsrichtwerte der TA Lärm zur Nachtzeit für ein allgemeines Wohngebiet überschritten würden. Auf die Berufungen des Beklagten und der Beigeladenen hat das Oberverwaltungsgericht die Klage abgewiesen. Ein Feuerwehrgerätehaus sei als Anlage für Verwaltungen in einem faktischen allgemeinen Wohngebiet ausnahmsweise zulässig und dort auch gebietsverträglich. Das Fehlen einer Ermessensentscheidung über die Zulassung einer Ausnahme verletze den Kläger zu 3 nicht in eigenen Rechten, weil ein Nachbar insoweit keinen Anspruch auf fehlerfreie Ausübung des Ermessens habe. Die Genehmigung des Feuerwehrgerätehauses verstoße auch nicht gegen das Gebot der Rücksichtnahme. Die Geräuschimmissionen erwiesen sich nach einer ergänzenden Prüfung im Sonderfall gemäß Nr. 3.2.2 der TA Lärm als zumutbar.

5

Mit seiner Revision verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er ist der Auffassung, ein Feuerwehrgerätehaus sei im faktischen allgemeinen Wohngebiet nicht gebietsverträglich, da das Ein- und Ausrücken der Einsatzfahrzeuge sowie die An- und Abreise der Einsatzkräfte mit dem Pkw Immissionen auslösten, die zu gebietsunüblichen Störungen führten und Unruhe in das Gebiet brächten. Jedenfalls habe er einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Erteilung einer Ausnahme nach § 34 Abs. 2 i. V. m. § 31 Abs. 1 BauGB, um eine sonst drohende schleichende Gebietsveränderung abzuwehren.

6

Beklagter und Beigeladene verteidigen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts.

II

7

Die Revision ist unbegründet. Das Oberverwaltungsgericht ist ohne Verstoß gegen revisibles Recht davon ausgegangen, dass die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung den Kläger zu 3 nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Insbesondere ist der Gebietserhaltungsanspruch des Klägers zu 3 gewahrt.

8

Die Festsetzung von Baugebieten durch einen Bebauungsplan hat nachbarschützende Funktion zugunsten der Grundstückseigentümer im jeweiligen Baugebiet. Dieser bauplanungsrechtliche Nachbarschutz beruht auf dem Gedanken des wechselseitigen Austauschverhältnisses. Weil und soweit der Eigentümer eines Grundstücks in dessen Ausnutzung öffentlich-rechtlichen Beschränkungen unterworfen ist, kann er deren Beachtung grundsätzlich auch im Verhältnis zum Nachbarn durchsetzen. Durch Festsetzungen eines Bebauungsplans über die Art der baulichen Nutzung werden die Planbetroffenen im Hinblick auf die Nutzung ihrer Grundstücke zu einer rechtlichen Schicksalsgemeinschaft verbunden. Die Beschränkung der Nutzungsmöglichkeiten des eigenen Grundstücks wird dadurch ausgeglichen, dass auch die anderen Grundeigentümer diesen Beschränkungen unterworfen sind. Im Rahmen dieses nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses soll daher jeder Planbetroffene im Baugebiet das Eindringen einer gebietsfremden Nutzung und damit die schleichende Umwandlung des Baugebiets unabhängig von einer konkreten Beeinträchtigung verhindern können (stRspr, vgl. BVerwG, Urteile vom 16. September 1993 - 4 C 28.91 - BVerwGE 94, 151 <155 ff.>, vom 23. August 1996 - 4 C 13.94 - BVerwGE 101, 364 <374 f.> und vom 6. Juni 2019 - 4 C 10.18 - Buchholz 406.11 § 34 BauGB Nr. 224 Rn. 10 m. w. N.). In einem faktischen Baugebiet nach § 34 Abs. 2 BauGB besteht ein identischer Nachbarschutz (BVerwG, Urteil vom 16. September 1993 - 4 C 28.91 - BVerwGE 94, 151 <156>).

9

1. Das zur Genehmigung gestellte Feuerwehrgerätehaus gehört zu den Anlagen für Verwaltungen und ist deshalb in einem faktischen allgemeinen Wohngebiet gemäß § 34 Abs. 2 BauGB i. V. m. § 4 Abs. 3 Nr. 3 BauNVO seiner Art nach ausnahmsweise zulässig.

10

"Anlagen für Verwaltungen" ist ein städtebaurechtlicher Sammelbegriff, der Anlagen und Einrichtungen umfasst, in denen oder von denen aus verwaltet wird, sofern das Verwalten einem erkennbaren selbständigen Zweck dient (vgl. Stock, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand August 2021, § 4 BauNVO Rn. 128 ff.; Schimpfermann/Stühler, in: Fickert/Fieseler, BauNVO, 13. Aufl. 2019, § 4 Rn. 11 ff.). § 7 Abs. 2 Nr. 1 und § 8 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO, die zwischen Geschäfts-, Büro- und Verwaltungsgebäuden unterscheiden, machen deutlich, dass Verwaltung i. S. d. § 4 Abs. 3 Nr. 3 BauNVO nicht auf die Erledigung von Verwaltungsaufgaben in Bürogebäuden beschränkt ist (Stock a. a. O. Rn. 130). Die ausnahmsweise Zulässigkeit von Anlagen für Verwaltungen nach § 4 Abs. 3 Nr. 3 BauNVO setzt ausweislich des Wortlauts nicht voraus, dass die jeweilige Anlage der Gebietsversorgung dient. Ein Feuerwehrgerätehaus der Freiwilligen Feuerwehr ist daher eine Anlage für Verwaltungen in diesem Sinne, nämlich für die Verwaltung des landesrechtlich geregelten Brandschutzes (ebenso VGH München, Urteil vom 16. Januar 2014 - 9 B 10.2528 - NVwZ-RR 2014, 508 [VGH Baden-Württemberg 05.03.2014 - 5 S 1775/13] <509>; OVG Magdeburg, Beschluss vom 23. Juni 2020 - 2 M 32/20 - NVwZ-RR 2020, 914 <918>; Stock a. a. O. Rn. 131; Vietmeier, in: Bönker/Bischopink, BauNVO, 2. Aufl. 2018, § 4 Rn. 86; Schimpfermann/Stühler, in: Fickert/Fieseler, BauNVO, 13. Aufl. 2019, § 4 Rn. 12).

11

2. Das Feuerwehrgerätehaus ist im allgemeinen Wohngebiet gebietsverträglich.

12

Die Prüfung der Gebietsverträglichkeit rechtfertigt sich aus dem typisierenden Ansatz der Baugebietsvorschriften der Baunutzungsverordnung. Der Verordnungsgeber will durch die Zuordnung von Nutzungen zu den näher bezeichneten Baugebieten die vielfältigen und oft gegenläufigen Ansprüche an die Bodennutzung zu einem schonenden Ausgleich im Sinne überlegter Städtebaupolitik bringen. Dieses Ziel kann nur erreicht werden, wenn die vom Verordnungsgeber dem jeweiligen Baugebiet zugewiesene allgemeine Zweckbestimmung den Charakter des Gebiets eingrenzend bestimmt. Das Erfordernis der Gebietsverträglichkeit bestimmt dabei nicht nur die regelhafte Zulässigkeit, sondern erst recht den vom Verordnungsgeber vorgesehenen Ausnahmebereich. Zwischen der jeweiligen spezifischen Zweckbestimmung des Baugebietstypus und dem jeweils zugeordneten Ausnahmekatalog besteht ein gewollter funktionaler Zusammenhang. Die normierte allgemeine Zweckbestimmung ist daher auch für Auslegung und Anwendung der tatbestandlich normierten Ausnahmen bestimmend (stRspr, vgl. BVerwG, Urteile vom 21. März 2002 - 4 C 1.02 - BVerwGE 116, 155 <157 f.>, vom 18. November 2010 - 4 C 10.09 - BVerwGE 138, 166 Rn. 18, vom 2. Februar 2012 - 4 C 14.10 - BVerwGE 142, 1 Rn. 15 und vom 20. März 2019 - 4 C 5.18 - Buchholz 406.12 § 4 BauNVO Nr. 21 Rn. 19).

13

Das allgemeine Wohngebiet dient gemäß § 4 Abs. 1 BauNVO vorwiegend dem Wohnen. Es soll nach Möglichkeit ein grundsätzlich ungestörtes Wohnen gewährleisten. Die Gebietsunverträglichkeit beurteilt sich für § 4 BauNVO daher in erster Linie nach dem Kriterium der gebietsunüblichen Störung (BVerwG, Urteil vom 21. März 2002 - 4 C 1.02 - BVerwGE 116, 155 <159>). Ein Vorhaben ist gebietsunverträglich, wenn es aufgrund seiner "typischen Nutzungsweise" störend wirkt. Ausgangspunkt und Gegenstand dieser typisierenden Betrachtungsweise ist das jeweils zur Genehmigung gestellte Vorhaben. Entscheidend ist nicht, ob die mit der Nutzung verbundenen immissionsschutzrechtlichen Lärmwerte eingehalten werden. Die geschützte Wohnruhe ist nicht gleichbedeutend mit einer immissionsschutzrechtlichen Lärmsituation. Bei dem Kriterium der Gebietsverträglichkeit geht es um die Vermeidung als atypisch angesehener Nutzungen, die den Wohngebietscharakter als solchen stören (BVerwG, Beschluss vom 28. Februar 2008 - 4 B 60.07 - Buchholz 406.12 § 4 BauNVO Nr. 19 Rn. 11).

14

Von dem Feuerwehrgerätehaus geht trotz der Unruhe, die von den gelegentlichen Einsätzen vor allem zur Nachtzeit ausgelöst wird, keine gebietsunübliche Störung aus. Es dient der Beigeladenen ? worauf das angefochtene Urteil zutreffend hinweist (UA S. 19) ? zur Erfüllung der ihr gesetzlich zugewiesenen Aufgabe des Brandschutzes (vgl. § 2 Abs. 1 des Gesetzes über den Brandschutz, die Hilfeleistung und den Katastrophenschutz ? BHKG NRW ? vom 17. Dezember 2015, GV NRW S. 886). Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 BHKG NRW unterhalten die Gemeinden für den Brandschutz und die Hilfeleistung den örtlichen Verhältnissen entsprechend leistungsfähige Feuerwehren als gemeindliche Einrichtungen. Diese Aufgabenzuweisung setzt die Errichtung von Feuerwehrhäusern im Gemeindegebiet gerade in der Nähe der zu schützenden Wohnbebauung voraus. Einer besonders engen Anbindung an das Wohnumfeld bedarf es wegen des Zusammenhangs zwischen Anfahrt- und Ausrückzeiten, wenn die Feuerwehr mit Freiwilligen besetzt wird (vgl. § 7 Abs. 2 BHKG NRW).

15

Zugleich dient das Feuerwehrgerätehaus einem städtebaulichen Belang, nämlich der Sicherheit der Wohn- und Arbeitsbevölkerung nach § 1 Abs. 6 Nr. 1 BauGB. Die ? ausnahmsweise ? Zulässigkeit von Feuerwehrgerätehäusern in einem allgemeinen Wohngebiet ist damit das Ergebnis einer überlegten Städtebaupolitik. Es ist nicht Aufgabe der Rechtsprechung, von diesem Ergebnis über das Tatbestandsmerkmal der Gebietsverträglichkeit abzuweichen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. März 2019 - 4 C 5.18 - Buchholz 406.12 § 4 BauNVO Nr. 21 Rn. 19). Ein Feuerwehrgerätehaus, das nach Größe und Ausstattung maßgeblich auch dem effektiven Brandschutz in der näheren Umgebung dient, ist im allgemeinen Wohngebiet daher gebietsverträglich (ebenso VGH München, Urteil vom 16. Januar 2014 - 9 B 10.2528 - NVwZ-RR 2014, 508 [VGH Baden-Württemberg 05.03.2014 - 5 S 1775/13] <509>; OVG Magdeburg, Beschluss vom 23. Juni 2020 - 2 M 32/20 - NVwZ-RR 2020, 914 <918>; Stock, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand August 2021, § 4 BauNVO Rn. 132; Hornmann, in: Spannowsky/Hornmann/Kämper BeckOK BauNVO, Stand April 2022, § 4 Rn. 130).

16

3. Die Zulassung des Vorhabens wahrt das von § 31 Abs. 1 und § 34 Abs. 2 BauGB i. V. m. § 4 Abs. 3 BauNVO vorausgesetzte Regel-Ausnahme-Verhältnis.

17

Dass die in einem Baugebiet der Baunutzungsverordnung nur ausnahmsweise zulässigen Arten Ausnahmen bleiben müssen, legt der Verordnungsgeber durch die in §§ 2 ff. BauNVO beziehungsweise ? über § 1 Abs. 3 Satz 2 BauNVO ? der Bebauungsplan fest. Gleiches gilt nach § 34 Abs. 2 BauGB in einem faktischen Baugebiet. Das Vorliegen einer Ausnahme ist daher tatbestandliche Voraussetzung der Ermessensentscheidung durch die Genehmigungsbehörde (ebenso Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand August 2021, § 31 Rn. 25; Spieß, in: Jäde/Dirnberger, BauGB, 9. Aufl. 2018, § 31 Rn. 9; Dürr, in: Brügelmann, BauGB, Stand Oktober 2021, § 31 Rn. 20). Ein Vorhaben, dessen Zulassung das Regel-Ausnahme-Verhältnis beseitigt, darf die Behörde auch im Ermessenswege nicht zulassen. Ein Nachbar kann kraft seines Gebietserhaltungsanspruchs die Wahrung dieses Regel-Ausnahmeverhältnisses verlangen. Denn er hat einen Anspruch darauf, dass die regelhaft zulässigen Nutzungsarten ihr prägende Wirkung behalten und keine Gemengelage oder ein anderes Baugebiet entsteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. September 1993 - 4 C 28.91 - BVerwGE 94, 151 <161>; Söfker a. a. O.).

18

Nach den tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts (dort UA S. 12 f.), auf die sich das angefochtene Urteil stützt, wird die nähere Umgebung des Vorhabengrundstücks durch Mehrfamilienhäuser mit Wohnnutzung geprägt. Auch die daneben vorhandenen Nutzungen stellen sich überwiegend als in einem allgemeinen Wohngebiet nach § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO regelhaft zulässige Nutzungsarten dar. Anhaltspunkte dafür, dass die Zulassung des streit-gegenständlichen Vorhabens das nach § 34 Abs. 2 BauGB maßgebliche Regel-Ausnahmeverhältnis des § 4 BauNVO stören könnte, bestehen daher nicht.

19

4. Der Beklagte hat bei der Zulassung des Feuerwehrgerätehauses nach § 34 Abs. 2, § 31 Abs. 1 BauGB, § 4 Abs. 3 Nr. 3 BauNVO kein Ermessen ausgeübt und damit ermessensfehlerhaft gehandelt (UA S. 13). Dies verletzt kein subjektives Recht des Klägers zu 3. Denn ein Grundstücksnachbar hat keinen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Erteilung einer Ausnahme. Dies sieht das Oberverwaltungsgericht richtig.

20

§ 31 Abs. 1 BauGB ist nicht aus sich heraus drittschützend (BVerwG, Urteil vom 10. Dezember 1982 - 4 C 49.79 - Buchholz 406.11 § 31 BBauG Nr. 21 S. 5). Der Drittschutz reicht im Falle einer Ausnahme daher nicht weiter, als die Festsetzung, von der die Ausnahme gemacht wird, ihn vermittelt. Wie dargelegt, vermitteln Gebietsfestsetzungen nach § 9 Abs. 1 Nr. 1 BauGB i. V. m. §§ 2 ff. BauNVO Planbetroffenen im Baugebiet einen Rechtsanspruch auf Bewahrung der Gebietsart. Über § 34 Abs. 2 BauGB gilt in faktischen Baugebieten ein identischer Schutz. Ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Erteilung der Ausnahme folgt hieraus nicht. Denn bei Vorliegen der tatbestandlichen Ausnahmevoraussetzungen der § 34 Abs. 2, § 31 Abs. 1 BauGB, § 4 Abs. 3 Nr. 3 BauNVO ist bereits sichergestellt, dass das zugelassene Vorhaben den Gebietscharakter unangetastet lässt. Zudem beruht der Gebietserhaltungsanspruch auf dem Gedanken eines wechselseitigen Austauschverhältnisses: Weil und soweit der Eigentümer eines Grundstücks in dessen Ausnutzung öffentlich-rechtlichen Beschränkungen unterworfen ist, kann er deren Beachtung grundsätzlich auch im Verhältnis zum Nachbarn durchsetzen, und zwar unabhängig von einer konkreten Beeinträchtigung. An dieser gebietsweiten Wechselseitig-keit fehlt es aber bei der Ermessensentscheidung über die Ausnahme. Die Grundentscheidung für die regelhafte und ausnahmsweise Zulässigkeit ist bereits getroffen und darf durch die Behörde nicht aus Erwägungen, die für das gesamte Gebiet Geltung beanspruchen, im Ermessenswege geändert werden (BVerwG, Beschluss vom 1. Juni 2007 - 4 B 13.07 - BRS 71 Nr. 156 S. 728). Bei der Ermessensentscheidung der Behörde spielen daher regelmäßig Fragen des konkreten Grundstücks und seiner Situation eine Rolle, so dass es an einem wechselseitigen Austauschverhältnis unter den Grundeigentümern fehlt.

21

Etwas anderes folgt auch nicht aus der Rechtsprechung des Senats zu § 31 Abs. 2 BauGB. Danach muss bei einer Befreiung von einer nachbarschützenden Festsetzung des Bebauungsplans jeder Fehler bei der Anwendung des § 31 Abs. 2 BauGB zur Aufhebung der Baugenehmigung führen (BVerwG, Urteil vom 9. August 2018 - 4 C 7.17 - BVerwGE 162, 363 Rn. 12 sowie Beschlüsse vom 8. Juli 1998 - 4 B 64.98 - Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 153 S. 70 und vom 27. August 2013 - 4 B 39.13 - ZfBR 2013, 783 Rn. 3). Die Erteilung einer Ausnahme nach § 31 Abs. 1 BauGB und die Erteilung einer Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB sind insofern aber nicht vergleichbar. Die Ausnahme ist planimmanent, es besteht eine das Ermessen begrenzende Grundentscheidung für die ausnahmsweise Zulässigkeit (BVerwG, Beschluss vom 1. Juni 2007 - 4 B 13.07 - BRS 71 Nr. 156 S. 728). Bei der Befreiung wird hingegen an die Stelle der festgesetzten eine konkrete andere bebauungsrechtliche Ordnung gesetzt und damit im Rahmen der Ermessensentscheidung ein anderer Interessensausgleich vorgenommen (BVerwG, Urteil vom 19. September 1986 - 4 C 8.84 - Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 71 S. 57). Sofern aus dem Urteil vom 23. August 1996 - 4 C 13.94 - BVerwGE 101, 364 <366> Anderes folgen sollte, hält der Senat hieran nicht fest.

22

Weitere Verstöße gegen revisibles Recht sind weder gerügt noch ersichtlich.

23

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO.

Streitwertbeschluss:

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren gemäß § 47 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 52 Abs. 1 GKG auf 10 000 € festgesetzt.

Schipper

Brandt

Prof. Dr. Külpmann

Dr. Hammer

Dr. Emmenegger

Verkündet am 29. März 2022

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