Rechtswörterbuch

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Kindeswohl - Gefährdung

 Normen 

§ 1666 BGB

§ 1696 BGB

§ 8a SGB VIII

§ 42 SGB VIII

§ 1631b BGB

§§ 157 ff. FamFG

 Information 

1. Allgemein

Die Trennung des Kindes von seinen Eltern als dem stärksten Eingriff in das Elternrecht erfordert das Vorliegen der in Art. 6 Abs. 3 GG geregelten Voraussetzungen. Danach dürfen Kinder gegen den Willen des Sorgeberechtigten nur aufgrund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.

Nicht jede mögliche Beeinträchtigung des Kindeswohls berechtigt den Staat, die Eltern von der Pflege und Erziehung ihres Kindes auszuschalten. Vielmehr kommt ein solcher Eingriff nur in Betracht, wenn das Kind bei einem Verbleiben in der Familie in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet ist. Dies gilt auch bei dem Erlass vorläufiger Eilmaßnahmen (BVerfG 20.06.2011 - 1 BvR 303/11).

Der BGH hat die Anforderungen an das Vorliegen einer Kindeswohlgefährdung im Sinne des § 1666 Abs. 1 BGB erneuert (BGH 06.02.2019 - XII ZB 408/18):

"Eine Kindeswohlgefährdung im Sinne des § 1666 Abs. 1 BGB liegt vor, wenn eine gegenwärtige, in einem solchen Maß vorhandene Gefahr festgestellt wird, dass bei der weiteren Entwicklung der Dinge eine erhebliche Schädigung des geistigen oder leiblichen Wohls des Kindes mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind dabei umso geringere Anforderungen zu stellen, je schwerer der drohende Schaden wiegt (...).

Die Annahme einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit muss auf konkreten Verdachtsmomenten beruhen. Eine nur abstrakte Gefährdung genügt nicht (...).

Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer gerichtlichen Maßnahme nach § 1666 BGB ist auch das Verhältnis zwischen der Schwere des Eingriffs in die elterliche Sorge und dem Grad der Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts für das Kind zu beachten. Die - auch teilweise - Entziehung der elterlichen Sorge ist daher nur bei einer erhöhten Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts, nämlich ziemlicher Sicherheit, verhältnismäßig. (...) Die Differenzierung der Wahrscheinlichkeitsgrade auf der Tatbestandsebene und der Rechtsfolgenseite ist geboten, um dem Staat einerseits ein - gegebenenfalls nur niederschwelliges - Eingreifen zu ermöglichen, andererseits aber im Rahmen der Verhältnismäßigkeit eine Korrekturmöglichkeit zur Verhinderung übermäßiger Eingriffe zur Verfügung zu stellen."

Mit der Entscheidung BVerfG 14.06.2014 - 1 BvR 725/14 hatte das Bundesverfassungsgericht das Elternrecht zuungunsten des Wohl des Kindes weiter ausgebaut: Danach setzt die Annahme einer nachhaltigen Kindeswohlgefährdung voraus, dass bereits ein Schaden des Kindes eingetreten ist oder eine Gefährdung gegenwärtig bei weiterer Entwicklung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt.

2. Jugendamt - SGB VIII

Angesichts der sich häufenden Fälle von Kindesvernachlässigungen ist der Schutzauftrag der Jugendämter gemäß § 8a SGB VIII nunmehr konkret formuliert: Werden danach dem Jugendamt gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindes- bzw. Jugendlichenwohlgefährdung bekannt, so hat das Amt das Gefährdungsrisiko im Zusammenwirken mit Fachkräften abzuschätzen, ggf. sind das Familiengericht, andere Leistungsträger, Einrichtungen der Gesundheitshilfe oder der Polizei einzuschalten.

Daneben ist das Jugendamt gemäß § 42 SGB VIII bei Vorliegen der Voraussetzungen zur Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen verpflichtet.

3. Familiengerichtliche Maßnahmen

3.1 Einführung

Ist das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder sein Vermögen gefährdet, so kann das Familiengericht gemäß § 1666 BGB Maßnahmen zum Schutz des Kindes ergreifen. Die Norm ist somit auch die Anspruchsgrundlage für Eilentscheidungen.

3.2 Das Verfahren und die Maßnahmen

Das Familiengericht ermittelt gemäß § 26 FamFG den Sachverhalt von Amts wegen. Dabei werden die Eltern, das Jugendamt und grundsätzlich auch das Kind angehört (§§ 159 ff. FamFG). Das Kind wird in dem Verfahren durch einen Verfahrenspfleger vertreten.

Der Richter soll die Anhörung an einem anderen Ort, möglichst einem dem Kind vertrauten Ort, ausführen.

Bezüglich des Verfahrens bestehen folgende weitere Vorgaben (OLG Frankfurt am Main 12.07.2022 - 1 UF 240/21):

"Im Rahmen der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks nach § 159 FamFG bedarf es der expliziten Wahrnehmung des Kindes als eigenständige Persönlichkeit durch das Gericht, was auch damit einhergeht, dass das Kind zumindest kurz in seinem Verhalten beobachtet wird, um so auch Rückschlüsse auf seine Befindlichkeit ziehen zu können."

"Auch zum Ergebnis der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks ist ein Vermerk zu fertigen, in welchem die wesentlichen Vorgänge aufzunehmen sind (§ 28 Abs. 4 Satz 2 FamFG). Dazu gehört es auch, dass der persönliche Eindruck vom Kind und das Verhalten des Kindes im Vermerk geschildert und den Beteiligten hierzu rechtliches Gehör gewährt wird."

Die nach § 1666 Abs. 1 BGB möglichen Maßnahmen werden in § 1666 Abs. 3 BGB konkretisiert. Die Aufzählung ist beispielhaft und nicht abschließend. Soweit andere Ge- oder Verbote "einen erheblichen Eingriff in Grundrechte der Betroffenen bedeuten, ist die Regelung in § 1666 Abs. 1 und 3 BGB nur dann eine ausreichende Grundlage, wenn es sich um die in § 1666 Abs. 3 BGB ausdrücklich benannten oder diesen vergleichbare Maßnahmen handelt" (BGH 23.11.2016 - XII ZB 149/16).

"Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer gerichtlichen Maßnahme nach § 1666 BGB ist auch das Verhältnis zwischen der Schwere des Eingriffs in die elterliche Sorge und dem Grad der Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts für das Kind zu beachten. Die - auch teilweise - Entziehung der elterlichen Sorge ist daher nur bei einer erhöhten Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts, nämlich ziemlicher Sicherheit, verhältnismäßig". (Fortführung von BGH 26.10.2011 - XII ZB 247/11 - s.o.).

Ziel der Konkretisierung ist es, die frühzeitige Anrufung des Familiengerichts gerade in den Fällen zu fördern, in denen eine niedrigschwellige familiengerichtliche Maßnahme sinnvoll erscheint.

  • § 1666 Abs. 3 Nr. 1 BGB nennt als mögliche Maßnahmen die Pflicht der Eltern, öffentliche Hilfen in Anspruch zu nehmen, insbesondere Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) sowie der Gesundheitsfürsorge.

    Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe sind u.a. die Erziehungshilfen. Daneben kommt auch die Weisung an die Eltern in Betracht, einen Kinderbetreuungsplatz anzunehmen.

    Unter den Begriff der Gesundheitsfürsorge fallen nach der Gesetzesbegründung insbesondere Früherkennungsuntersuchungen. Mit diesem Angebot des Gesundheitswesens kann im Einzelfall sichergestellt werden, dass Anzeichen einer Vernachlässigung oder sonstiger Form der Kindeswohlgefährdung frühzeitig erkannt werden.

  • Die in § 1666 Abs. 3 Nrn. 3 und 4 BGB aufgeführten Maßnahmen entsprechen den Rechtsfolgen des Gewaltschutzgesetzes (Schutz vor Gewalt in der Wohnung), das gemäß § 3 GewSchG bei Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen im Verhältnis zu den Eltern und sorgeberechtigten Personen nicht anwendbar ist.

    Die möglichen Maßnahmen des Familiengerichts umfassen u.a. das Verbot, die Wohnung weiter zu benutzen.

Ein Elternteil kann mangels einer gesetzlichen Grundlage nicht gezwungen werden, sich körperlich oder psychiatrisch / psychologisch untersuchen zu lassen und zu diesem Zweck bei einem Sachverständigen zu erscheinen. Möglich ist es jedoch, den die Begutachtung verweigernden Elternteil in Anwesenheit eines Sachverständigen gerichtlich anzuhören und zu diesem Zweck das persönliche Erscheinen des Elternteils anzuordnen und gegebenenfalls gemäß § 33 FamFG durchzusetzen (BGH 17.02.2010 - XII ZB 68/09).

3.3 Überprüfung / Änderung der gerichtlichen Entscheidung

Liegen die Voraussetzungen der Maßnahme nicht mehr vor, so muss das Familiengericht gemäß § 1696 Abs. 1, 2 BGB die Maßnahme ändern bzw. aufheben.

Sofern das Familiengericht sich entschieden hat, keine Maßnahme nach den § 1666 BGB zu erlassen, soll es gemäß § 1696 Abs. 3 BGB diese Entscheidung in einem angemessenen Zeitabstand überprüfen, um festzustellen, ob diese Entscheidung noch immer sachgerecht ist. Als Regelfrist zur Überprüfung wurde ein Zeitraum von drei Monaten festgesetzt. Die Prüfpflicht wird durch jede das Verfahren beendigende Maßnahme ausgelöst.

Nach der Gesetzesbegründung soll dabei eine Dauerkontrolle der Familie durch das Gericht vermieden werden. Erfasst werden sollen Fälle, in denen das Verfahren aufgrund der Zusagen der Eltern zur Ergreifung bestimmter Maßnahmen abgeschlossen wurde oder die Schwelle der Kindeswohlgefährdung noch nicht erreicht war.

Nicht zuletzt die Ausgestaltung als Soll-Vorschrift ermöglicht es, eine nochmalige Überprüfung in offensichtlich unbegründeten Fällen auszuschließen.

4. Geschlossene Unterbringung

Die Voraussetzungen einer mit einer Freiheitsentziehung verbundenen Unterbringung des Kindes sind in § 1631b Abs. 1 BGB konkretisiert:

Danach muss gewährleistet sein, dass die geschlossene Unterbringung aus Gründen des Kindeswohls erforderlich und verhältnismäßig ist. So ist insbesondere der Vorrang anderer öffentlicher Hilfen zu beachten. Der Maßstab der Erforderlichkeit trägt dem Umstand Rechnung, dass das Familiengericht im Verfahren nach § 1631b BGB eine Entscheidung der sorgeberechtigten Eltern überprüft.

Im Falle einer Fremdgefährdung kann die Unterbringung des Kindes geboten sein, wenn das Kind sich sonst dem Risiko von Notwehrmaßnahmen, Ersatzansprüchen oder Prozessen aussetzen würde.

5. Freiheitsentziehende Maßnahmen

Eltern entscheiden im Rahmen der Personensorge auch über freiheitsentziehende Maßnahmen wie z.B. Fixierungen oder das Anbringen von Bettgittern. Für freiheitsentziehende Maßnahmen bei Minderjährigen sah das Kindschaftsrecht - anders als das Betreuungsrecht für Volljährige - ein familiengerichtliches Genehmigungserfordernis nicht vor.

Der am 01.10.2017 in Kraft getretene neue § 1631b Abs. 2 BGB stellt nunmehr ein Genehmigungserfordernis für freiheitsentziehende Maßnahmen auf. Zur Einholung der familiengerichtlichen Genehmigung zu der elterlichen Entscheidung bedarf es wie bei der freiheitsentziehenden Unterbringung Minderjähriger keines förmlichen Antrages. Das Verfahren vor dem Familiengericht wird von Amts wegen eingeleitet, in der Regel aufgrund einer Anregung der Eltern oder der Einrichtung (§ 24 Absatz 1 FamFG). Der gesetzliche Vertreter, in der Regel also die Eltern, muss zu erkennen geben, dass er die Genehmigung der freiheitsentziehenden Maßnahme wünscht, denn das Familiengericht genehmigt lediglich die von ihm gewünschte freiheitsentziehende Maßnahme. Die Entscheidungsbefugnis liegt also weiterhin beim gesetzlichen Vertreter, insbesondere bei den Eltern.

Die neue Vorschrift sieht entsprechend § 1906 Absatz 4 BGB vor, dass das Genehmigungserfordernis nur gilt, wenn die elterliche Entscheidung für ein Kind getroffen wird, das sich in einem Krankenhaus, einem Heim oder einer sonstigen Einrichtung aufhält. Es gilt daher insbesondere dann nicht, wenn sich das Kind im elterlichen Haushalt aufhält. Dort haben die Eltern selbst die Kontrollmöglichkeit, anders als wenn sich das Kind in einer Einrichtung befindet und die Eltern die Kontrollmöglichkeit abgeben müssen.

Der Entwurf vermeidet begrifflich die Übernahme des in § 1906 Absatz 4 BGB benutzten Begriffs "Anstalt", der nicht mehr zeitgemäß und negativ besetzt ist, ohne damit ein anderes Verständnis des räumlichen Anwendungsbereiches zu verbinden. Unter "einem Krankenhaus, einem Heim oder einer sonstigen Einrichtung" werden kinder- und jugendpsychiatrische Kliniken, Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und der Behindertenhilfe sowie weitere stationäre und ambulante Einrichtungen wie z.B. Kindergärten und Kindertagesstätten verstanden, in denen Kinder und Jugendliche über einen längeren Zeitraum oder kurzfristig wohnen oder fern von der ständigen Kontrollmöglichkeit der Eltern betreut werden. Es muss sich um eine Freiheitsentziehung durch mechanische Vorrichtungen, Medikamente oder auf andere Weise handeln.

Die entsprechenden Regelungen im FamFG finden sich in den §§ 151, 167 FamFG.

Hinweis:

Zu näheren Ausführungen siehe die Gesetzesbegründung BT-Drs. 18/11278.

 Siehe auch 

Erziehungshilfen

Intensivpädagogik

Jugendamt

Jugendhilfe

Kinderschutz

Kindeswohl

Kindschaftssachen

Sozialpädagogische Familienhilfe

Büte: Gesetz zur Erleichterung familiengerichtlicher Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls; Familie und Recht - FuR 2008, 361

Heilmann: Theorie und Praxis im Kinderschutz; Neue Juristische Wochenschrift - NJW 2017, 986

Heilmann: Schützt das Grundgesetz die Kinder nicht?; Neue Juristische Wochenschrift - NJW 2014, 2904

Meysen: Familiengerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls - Geändertes Recht ab Sommer 2008; Das Jugendamt - JAmt 2008, 233

Meysen: Neuerungen im zivilrechtlichen Kinderschutz; Neue Juristische Wochenschrift - NJW 2008, 2673

Mortsiefer: Die Gefährdungsmitteilung des Jugendamts an das Familiengericht; Neue Juristische Wochenschrift - NJW 2014, 3543

Röchling: Das Gesetz zur Erleichterung familiengerichtlicher Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls; Zeitschrift für das gesamte Familienrecht - FamRZ 2008, 1495

Stößer: Das Gesetz zur Erleichterung familiengerichtlicher Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls; Der Familien-Rechts-Berater - FamRB 2008, 243

Weinreich/Klein: Fachanwaltskommentar Familienrecht; 7. Auflage 2022