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Bundesgerichtshof
Beschl. v. 11.10.2012, Az.: V ZB 104/12
Rechtmäßigkeit der Anordnung einer Abschiebungshaft bei Nichtaushändigung des Haftantrags durch das Amtsgericht zu Beginn der Anhörung
Gericht: BGH
Entscheidungsform: Beschluss
Datum: 11.10.2012
Referenz: JurionRS 2012, 25704
Aktenzeichen: V ZB 104/12
ECLI: [keine Angabe]

Verfahrensgang:

vorgehend:

AG Landau (Pfalz) - 23.04.2012 - AZ: 3 T 90/12

AG Landau (Pfalz) - 24.04.2012 - AZ: 2 XIV 21/12 B (2)

AG Landau in der Pfalz - 24.04.2012 - AZ: 2 XIV 21/12 B (2)

LG Landau - 16.05.2012 - AZ: 3 T 90/12

LG Landau - 16.05.2012 - AZ: 3 T 90/12

BGH, 11.10.2012 - V ZB 104/12

Redaktioneller Leitsatz:

1.

Die Rechtsbeschwerde ist nach Erledigung der Hauptsache mit dem Feststellungsantrag analog § 62 FamFG ohne Zulassung statthaft.

2.

Ein Betroffener ist durch eine Haftanordnung in seinen Rechten verletzt worden, wenn ihm der Haftantrag nicht zu Beginn der Anhörung durch das Amtsgericht ausgehändigt worden ist. Zwar kann der Antrag einem Betroffenen erst zu Beginn der Anhörung eröffnet werden, wenn er einen einfachen, überschaubaren Sachverhalt betrifft, zu welchem der Betroffene auch unter Berücksichtigung einer etwaigen Überraschung ohne weiteres auskunftsfähig ist. Daraus folgt jedoch nicht, dass sich der Haftrichter in einem solchen Fall darauf beschränken darf, den Inhalt des Haftantrags mündlich vorzutragen. Vielmehr muss dem Betroffenen in jedem Fall eine Ablichtung des Antrags ausgehändigt und erforderlichenfalls übersetzt werden und dies in dem Anhörungsprotokoll oder an einer anderen Aktenstelle dokumentiert werden.

3.

Eine Aufrechterhaltung der Haftanordnung durch das Beschwerdegericht verletzt einen Betroffenen ebenfalls in seinen Rechten, wenn die beteiligte Behörde das aus Art. 2 II S. 2 GG abzuleitende Beschleunigungsgebot verletzt hat. Die Abschiebungshaft muss auch während des Laufs der Drei-Monats-Frist des § 62 III S. 4 AufenthG auf das unbedingt erforderliche Maß beschränkt und die Abschiebung ohne unnötige Verzögerung betrieben werden. Das Beschwerdegericht darf die Sicherungshaft deshalb nur aufrechterhalten, wenn die Behörde die Abschiebung des Betroffenen ernstlich betreibt, und zwar gemäß dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit mit der größtmöglichen Beschleunigung.

Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 11. Oktober 2012 durch die Vorsitzende Richterin Dr. Stresemann und die Richter Dr. Lemke, Prof. Dr. Schmidt Räntsch, Dr. Czub und Dr. Kazele beschlossen:

Tenor:

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Landau in der Pfalz vom 24. April 2012 und der Beschluss der 3. Zivilkammer des Landgerichts Landau in der Pfalz vom 16. Mai 2012 ihn in seinen Rechten verletzt haben.

Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in allen Instanzen werden der Stadt Landau in der Pfalz auferlegt.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 3.000 €.

Gründe

I.

1

Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht gegen den vollziehbar ausreisepflichtigen Betroffenen, einen guineischen Staatsangehörigen, mit Beschluss vom 24. April 2012 die Haft zur Sicherung der Abschiebung für die Dauer von längstens zwei Monaten angeordnet. Eine am 9. Mai 2012 beabsichtigte Abschiebung konnte nicht durchgeführt werden, weil eine Voranmeldung bei der deutschen Botschaft in Guinea nicht eingeholt und die erforderliche Bewilligung für die Durchbeförderung des Betroffenen durch Belgien nicht erlangt werden konnten. Eine am 22. Mai 2012 beabsichtigte Abschiebung scheiterte ebenfalls. Der Betroffene wurde sodann am 20. Juni 2012 abgeschoben.

2

Die gegen die Haftanordnung gerichtete Beschwerde hat das Landgericht zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde will der Betroffene die Feststellung erreichen, dass die Haftanordnung und ihre Aufrechterhaltung ihn in seinen Rechten verletzt haben.

II.

3

Nach Auffassung des Beschwerdegerichts lag ein zulässiger Haftantrag vor. Obwohl die Abschiebung am 9. Mai 2012 gescheitert sei, habe die Sicherungshaft aufrechterhalten werden können; denn das Scheitern sei allein auf organisatorische Gründe zurückzuführen. Ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot sei der beteiligten Behörde nicht vorzuwerfen. Die Haftdauer sei verhältnismäßig; sie berücksichtige den Umstand, dass bei einem erneuten Scheitern der Abschiebung aufgrund des Verhaltens des Betroffenen dessen begleitete Abschiebung organisiert werden müsse.

III.

4

Die Rechtsbeschwerde ist nach Erledigung der Hauptsache mit dem Feststellungsantrag analog § 62 FamFG ohne Zulassung nach § 70 Abs. 3 Nr. 3 FamFG statthaft (vgl. nur Senat, Beschluss vom 29. April 2010 V ZB 218/09, InfAuslR 2010, 359, 360), form und fristgerecht gemäß § 71 FamFG eingelegt und hat Erfolg.

5

1.

Der Betroffene ist durch die Haftanordnung jedenfalls deshalb in seinen Rechten verletzt worden, weil ihm der Haftantrag nicht zu Beginn der Anhörung durch das Amtsgericht ausgehändigt worden ist. Zwar kann der Antrag einem Betroffenen erst zu Beginn der Anhörung eröffnet werden, wenn er einen einfachen, überschaubaren Sachverhalt betrifft, zu welchem der Betroffene auch unter Berücksichtigung einer etwaigen Überraschung ohne weiteres auskunftsfähig ist. Daraus folgt jedoch nicht, dass sich der Haftrichter in einem solchen Fall darauf beschränken darf, den Inhalt des Haftantrags mündlich vorzutragen. Vielmehr muss dem Betroffenen in jedem Fall eine Ablichtung des Antrags ausgehändigt und erforderlichenfalls übersetzt werden und dies in dem Anhörungsprotokoll oder an einer anderen Aktenstelle schriftlich dokumentiert werden (Senat, Beschluss vom 14. Juni 2012 V ZB 284/11, Rn. 9, [...]). Daran fehlte es hier. Nach dem Anhörungsprotokoll wurde der Haftantrag dem Betroffenen lediglich "vorgehalten".

6

2. Die Aufrechterhaltung der Haftanordnung durch das Beschwerdegericht hat den Betroffenen ebenfalls in seinen Rechten verletzt, jedenfalls deshalb, weil die beteiligte Behörde entgegen der Ansicht des Beschwerdegerichts das aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG abzuleitende Beschleunigungsgebot verletzt hat.

7

a)

Die Abschiebungshaft muss auch während des Laufs der Drei-Monats-Frist des § 62 Abs. 3 Satz 4 AufenthG auf das unbedingt erforderliche Maß beschränkt und die Abschiebung ohne unnötige Verzögerung betrieben werden; das Beschwerdegericht darf die Sicherungshaft deshalb nur aufrechterhalten, wenn die Behörde die Abschiebung des Betroffenen ernstlich betreibt, und zwar gemäß dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit mit der größtmöglichen Beschleunigung (Senat, Beschluss vom 1. März 2012 V ZB 206/11, FGPrax 2012, 133, 134 [BGH 01.03.2012 - V ZB 206/11] Rn. 15).

8

b)

Diesen Anforderungen genügte das Vorgehen der beteiligten Behörde nicht. Sowohl aus den Ausländerakten als auch aus der Beschwerdebegründung ergibt sich, dass sie bereits am 27. April 2012 von der Notwendigkeit einer begleiteten Abschiebung ausging. Dies hat ihre Vertreterin bei der Anhörung des Betroffenen durch das Beschwerdegericht bestätigt. Gleichwohl wollte die beteiligte Behörde eine unbegleitete Abschiebung "versuchen", die am 22. Mai 2012 erfolgen sollte. Nach dem Inhalt eines Schreibens vom 9. Mai 2012 an die Gewahrsamseinrichtung für Ausreisepflichtige, in welcher der Betroffene seinerzeit untergebracht war, und einem weiteren Schreiben von demselben Tag an das Bundespolizeiamt Flughafen Frankfurt/Main rechnete die beteiligte Behörde jedoch von vornherein mit der Möglichkeit des Scheiterns der unbegleiteten Abschiebung. Die Vorbereitung für eine begleitete Abschiebung nahm sie gleichwohl erst auf, nachdem die unbegleitete Abschiebung am 22. Mai 2012 nicht durchgeführt werden konnte. Dass die begleitete Abschiebung sodann am 20. Juni 2012 erfolgte, zeigt, dass die Vorbereitungen für eine solche Abschiebung nicht mehr als einen Monat Zeit in Anspruch genommen haben. Wäre die beteiligte Behörde bei ihrer ursprünglichen Absicht geblieben, hätte der Betroffene somit innerhalb des Monats Mai 2012 abgeschoben werden können.

9

3. Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 74 Abs. 7 FamFG).

IV.

10

Die Kostenentscheidung folgt aus § 81 Abs. 1, § 83 Abs. 2, § 430 FamFG, § 128c Abs. 3 Satz 2 KostO. Unter Berücksichtigung der Regelung in Art. 5 EMRK entspricht es billigem Ermessen, die Stadt Landau in der Pfalz zur Erstattung der notwendigen Auslagen des Betroffenen zu verpflichten.

Stresemann

Lemke

Schmidt-Räntsch

Czub

Kazele

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