Bundessozialgericht
Beschl. v. 27.12.2023, Az.: B 1 KR 81/22 B
Übernahme der Kosten für einen neuropädiatrischen Behandlungstermin bei einem nicht zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen Facharzt; Anforderungen an die Darlegung der Divergenzrüge
Bibliographie
- Gericht
- BSG
- Datum
- 27.12.2023
- Aktenzeichen
- B 1 KR 81/22 B
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2023, 50779
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:BSG:2023:271223BB1KR8122B0
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Speyer - 03.11.2021 - AZ: S 15 KR 207/21
- LSG Rheinland-Pfalz - 08.08.2022 - AZ: L 5 KR 234/21
Rechtsgrundlage
Redaktioneller Leitsatz
Die Darlegungsanforderungen an den Zulassungsgrund der Divergenz erfordern die Gegenüberstellung entscheidungstragender abstrakter Rechtssätze im Urteil des Berufungsgerichts einerseits und in einem Urteil des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG andererseits sowie Ausführungen dazu, weshalb beide miteinander unvereinbar sein sollen und das Berufungsurteil auf dieser Divergenz beruht.
Der 1. Senat des Bundessozialgerichts hat am 27. Dezember 2023 durch den
Richter Dr. Scholz als Vorsitzenden sowie den Richter Dr. Bockholdt
und die Richterin Geiger
beschlossen:
Tenor:
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 8. August 2022 wird als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der 2013 geborene Kläger, der bei der beklagten Krankenkasse (KK) versichert ist, beantragte am 9.12.2020 (E-Mail, 22:20 Uhr) die Übernahme der Kosten für einen neuropädiatrischen Behandlungstermin bei K., einem Facharzt für Kinderheilkunde, Jugendmedizin, Neuropädiatrie, Verkehrsmedizin, der nicht zu vertragsärztlichen Versorgung zugelassen ist. Mit Schreiben vom 10.12.2020 beantragte K. für den Kläger die Übernahme von Behandlungskosten und nannte als Diagnosen ua eine Entwicklungsstörung und einen leichten motorischen Entwicklungsrückstand. Als erster Schritt müsse er ausführlich getestet werden bezüglich der Teilleistungsstörung und einer möglicherweise zugrundeliegenden autistischen Störung. Die Wartezeiten für die genannten Untersuchungen würden bei den meisten Stellen ein Jahr betragen. Dies würde dem Kläger nicht gerecht, da ein Schulwechsel anstehe. Die Beklagte beauftragte den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) mit einer Stellungnahme und teilte dies dem Kläger mit Schreiben vom 11.12.2020 mit. Mit Rechnung vom 14.12.2020 forderte K. für die Behandlung am 10.12.2020 einen Betrag von 285 Euro, der beglichen wurde. Die Beklagte lehnte die Kostenerstattung auf Grundlage der Stellungnahme des MDK vom 28.12.2020 ab (Bescheid vom 12.1.2021, Widerspruchsbescheid vom 11.5.2021). Das SG hat die auf Kostenerstattung und Feststellung einer Leistungspflicht der KK gerichtete Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 3.11.2021). Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen. Die Voraussetzungen für einen Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs 3 Satz 1 Fall 2 SGB V seien schon deshalb nicht erfüllt, weil zwischen der Ablehnung der Leistung und der Kostenlast kein Ursachenzusammenhang bestehe. Der Kläger sei bereits auf die Behandlung durch K. festgelegt und fest entschlossen gewesen, sich diese Leistung selbst dann zu beschaffen, wenn die KK den Antrag ablehne. Es habe auch keine unaufschiebbare Leistung iS des § 13 Abs 3 Satz 1 Fall 1 SGB V vorgelegen. Auch die Voraussetzungen für eine Feststellungsklage lägen nicht vor, da ein berechtigtes Interesse an der begehrten Feststellung nicht bestehe. Gemäß dem Subsidiaritätsgrundsatz gelte grundsätzlich der Vorrang der Gestaltungs- oder Leistungsklage (Urteil vom 8.8.2022).
Der Kläger wendet sich mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil.
II
Die Beschwerde des Klägers ist unzulässig und daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 iVm § 169 Satz 3 SGG zu verwerfen. Ihre Begründung entspricht nicht den aus § 160a Abs 2 Satz 3 SGG abzuleitenden Anforderungen an die Darlegung des hier allein gerügten Zulassungsgrundes der Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG).
1. Wer sich auf den Zulassungsgrund der Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) beruft, muss entscheidungstragende abstrakte Rechtssätze im Urteil des Berufungsgerichts einerseits und in einem Urteil des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG andererseits gegenüberstellen und Ausführungen dazu machen, weshalb beide miteinander unvereinbar sein sollen und das Berufungsurteil auf dieser Divergenz beruht (vgl zB BSG vom 19.9.2007 - B 1 KR 52/07 B - juris RdNr 6; BSG vom 9.5.2018 - B 1 KR 55/17 B - juris RdNr 8; zur Verfassungsmäßigkeit dieser Darlegungsanforderungen vgl BVerfG <Dreierausschuss> vom 8.9.1982 - 2 BvR 676/81 - juris RdNr 8). Erforderlich ist, dass das LSG einen abweichenden Rechtssatz bewusst aufgestellt und nicht etwa lediglich fehlerhaft das Recht angewendet hat. Dies hat der Beschwerdeführer schlüssig darzulegen (vgl zB BSG vom 19.11.2019 - B 1 KR 72/18 B - juris RdNr 8).
Diesen Anforderungen wird das Vorbringen des Klägers nicht gerecht.
a) Der Kläger rügt zunächst eine Abweichung des angegriffenen Urteils von dem Urteil des BSG vom 8.9.2015 - B 1 KR 14/14 R. Das LSG entwickle auf Seite 8 unter Abs 2 folgenden Rechtssatz:
"Wenn kein Ursachenzusammenhang zwischen der Leistung und der Kostenlast bestehe, dann ergebe sich kein Anspruch des Antragstellers auf Übernahme von Behandlungskosten, da die Voraussetzungen nach der Bestimmung von § 13 Abs. 2 Abs. 3 S. 1 Fall 2 SGB V nicht vorlägen."
Das BSG habe dagegen in seiner Entscheidung vom 8.9.2015 - B 1 KR 14/14 R - den Rechtssatz aufgestellt,
"die Regelung nach der Bestimmung von § 13 Abs. 3 S. 3 Alt. 1 SGB V ist grundsätzlich nicht schon deswegen ausgeschlossen, wenn kein Notfall vorliegt."
Damit bezeichnet der Kläger in der Entscheidung des LSG kein präzises Zitat. Er legt auch nicht substantiiert dar, dass sich der diesem zugeschriebene Rechtssatz aus der Subsumtion des LSG ableiten lasse. Wenn das LSG einen abweichenden entscheidungstragenden abstrakten Rechtssatz nicht ausdrücklich formuliert, sondern nur implizit zugrunde gelegt hat, genügt es, dass der Beschwerdeführer darlegt, dass das LSG von einer Entscheidung ua des BSG abgewichen ist, indem es einen der höchstrichterlichen Rspr widersprechenden abstrakten Rechtssatz nur sinngemäß und in scheinbar fallbezogene Ausführungen gekleidet entwickelt hat. In einem solchen Fall muss der Beschwerdeführer jedoch darlegen, dass sich aus den Ausführungen des Berufungsurteils unzweifelhaft der sinngemäß zugrunde gelegte abstrakte Rechtssatz schlüssig ableiten lässt, den das LSG als solchen auch tatsächlich vertreten wollte (vgl BSG vom 20.3.2019 - B 1 KR 7/18 B - SozR 4-1500 § 65a Nr 5 RdNr 14 mwN). Diesen Anforderungen genügt die Beschwerdebegründung des Klägers nicht. Es wird nicht deutlich, inwiefern dem Urteil des LSG die ihm vom Beschwerdeführer zugeschriebene Aussage zu entnehmen sein soll. Zudem wird nicht deutlich, weshalb beide Aussagen miteinander unvereinbar sein sollen, da sie ersichtlich unterschiedliche Tatbestände der Kostenerstattung nach § 13 Abs 3 Satz 1 SGB V betreffen. Der Kläger legt auch nicht dar, dass - was erforderlich wäre - das LSG bewusst einen Rechtssatz in Abweichung von der Entscheidung des BSG aufgestellt habe. Dazu hätte Anlass bestanden, da das LSG die Entscheidung des BSG vom 8.9.2015 zum Beleg seiner Rechtsauffassung selbst zitiert hat.
b) Der Kläger rügt weiter, das BSG habe im Urteil vom 8.9.2015 - B 1 KR 14/14 R - folgende Rechtssätze aufgestellt:
"Auch wenn zwischen erstmaliger Anfrage eines Versicherten beim Leistungserbringer, seiner persönlichen Vorstellung zur Untersuchung und dem eigentlichen Beginn der Protonenbestrahlung jeweils mehrere Wochen gelegen haben, schließt dieser Zeitablauf eine unaufschiebbare Leistung iS des § 13 Abs 3 S 1 Alt 1 SGB 5 nicht von vornherein aus. (Rn 15)
Sofern die Selbstbeschaffung einer Leistung durch den Versicherten unaufschiebbar ist und keine andere erfolgversprechende und zumutbare kurative Behandlungsmöglichkeit zur Verfügung steht, liegt ein sich auf die grundrechtsorientierte Auslegung des Leistungsrechts stützender Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs 3 S 1 Alt 1 SGB 5 besonders nahe. (Rn 20)"
Das LSG habe hierzu wie folgt formuliert:
"Es lag auch keine unaufschiebbare Leistung im Sinne des § 13 Abs. 3 S. 1 Fall 1 SGB V vor. Unaufschiebbarkeit verlangt, dass die beantragte Leistung im Zeitpunkt ihrer tatsächlichen Erbringung so dringlich ist, dass aus medizinischer Sicht keine Möglichkeit eines nennenswerten Aufschubes mehr besteht, um vor der Beschaffung der Entscheidung der Krankenkasse abzuwarten."
Die Divergenz zur Entscheidung des LSG ergebe sich deswegen, weil die Ablehnung in der Entscheidung des LSG damit begründet werde, dass keine unaufschiebbare Leistung iS des § 13 Abs 3 Satz 1 Fall 1 SGB V vorgelegen hätte. Wenn das BSG in seiner Entscheidung vom 8.9.2015 feststelle, dass die Regelung des § 13 Abs 3 Satz 3 Fall 1 SGB V nicht schon deswegen ausgeschlossen werden könne, weil kein Notfall vorliege, zeige sich damit die Divergenz zur Entscheidung des LSG, welches gerade seine Entscheidung damit begründet habe, dass eine unaufschiebbare Leistung hätte vorliegen müssen und das Vorliegen einer solchen unaufschiebbaren Leistung im Falle des Beschwerdeführers zu Unrecht verneint habe. Das BSG habe seine Rechtsmeinung hierzu unter RdNr 14 der Entscheidungsgründe dargelegt und festgestellt, dass ein entsprechender Zeitablauf zwischen persönlicher Vorstellung zur Untersuchung und dem eigentlichen Behandlungsbeginn nicht von vornherein ausschließe, dass eine unaufschiebbare Leistung iS des § 13 Abs 3 Satz 1 Alt 1 SGB V vorgelegen haben könne.
Die Beschwerde legt damit nicht schlüssig dar, inwiefern die Aussagen des LSG und des BSG miteinander unvereinbar sein sollen. Dem vom LSG aufgestellten Obersatz ist weder zu entnehmen, dass die Unaufschiebbarkeit zwingend einen Notfall voraussetzt, noch dass ein vorangegangener Zeitablauf der Unaufschiebbarkeit entgegenstünde, zumal es für die Unaufschiebbarkeit gerade auf die Dringlichkeit "im Zeitpunkt ihrer tatsächlichen Erbringung" abstellt. Den Ausführungen des Klägers ist deshalb auch hier nicht zu entnehmen, dass das LSG bewusst einen von der Rspr des BSG abweichenden Rechtssatz aufgestellt hätte. In der Sache macht der Kläger lediglich eine fehlerhafte Rechtsanwendung durch das LSG geltend, die kein tauglicher Gegenstand der Nichtzulassungsbeschwerde ist (vgl BSG vom 17.4.2020 - B 1 A 1/19 B - juris RdNr 19).
c) Schließlich rügt der Kläger eine Divergenz zur Entscheidung des BSG vom 20.12.2018 - B 3 KR 11/17 R.
Das LSG habe in seiner Entscheidung den Rechtssatz aufgestellt,
"es gelte grundsätzlich aufgrund des Subsidiaritätsgrundsatzes der Vorrang der Gestaltungs- oder Leistungsklage gegenüber der Feststellungsklage und ein Abweichen sei für das vorliegende Verfahren nicht gerechtfertigt."
Das BSG habe in seiner Entscheidung vom 20.12.2018 - B 3 KR 11/17 R hingegen folgenden Rechtssatz aufgestellt:
"Die Feststellungsklage unterliegt nicht dem Grundsatz der Subsidiarität, wenn sie einen weitergehenden Rechtsschutz im Rechtsstreit ermöglicht, zu einer abschließenden Streitbeilegung führt und eine umfassende rechtliche Klärung für die Partei bewirkt, die die Feststellungsklage rechtshängig gemacht hat."
Der Kläger macht geltend, eine derartige Fallkonstellation liege bei ihm ersichtlich vor. Denn mit einer Entscheidung aufgrund des gestellten Feststellungsantrages könnte verbindlich geklärt werden, dass er sich weiterhin in der Zukunft von K. behandeln lassen könne. Durch ein positives Feststellungsurteil würde der von ihm erstrebte, weitergehende Rechtsschutz ermöglicht, eine endgültige Streitbeilegung gefördert und eine abschließende Klärung der Rechtslage herbeigeführt. Dieses Vorbringen genügt den Darlegungsanforderungen nicht. Der Kläger stellt keine sich tatsächlich widersprechenden abstrakten Rechtssätze des BSG und des LSG gegenüber, sondern wendet sich auch insoweit lediglich gegen die Richtigkeit der LSG-Entscheidung, weil er meint, die Feststellungsklage sei ausnahmsweise zulässig. Die Behauptung, das Berufungsurteil sei inhaltlich unrichtig, kann jedoch - wie ausgeführt - nicht zur Zulassung der Revision führen.
Das weitere ergänzende Vorbringen des Klägers im Schriftsatz vom 7.12.2022 ist außerhalb der Frist zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde erfolgt, die am 25.10.2022 abgelaufen ist und konnte schon deshalb nicht berücksichtigt werden (vgl BSG vom 17.12.2020 - B 1 KR 32/20 B - juris RdNr 9 mwN). Letztlich kann dies jedoch dahinstehen, da die Beschwerdebegründung auch unter Einbeziehung dieses Vorbringens den Darlegungsanforderungen nicht genügt.
2. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
3. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.