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Bundesgerichtshof
Beschl. v. 23.07.2015, Az.: AK 19/15
Fortdauer der Untersuchungshaft im Rahmen der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland
Gericht: BGH
Entscheidungsform: Beschluss
Datum: 23.07.2015
Referenz: JurionRS 2015, 21544
Aktenzeichen: AK 19/15
ECLI: [keine Angabe]

Verfahrensgegenstand:

Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland u.a.

BGH, 23.07.2015 - AK 19/15

Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts sowie des Beschuldigten und seiner Verteidiger am 23. Juli 2015 gemäß §§ 121, 122 StPO beschlossen:

Tenor:

Die Untersuchungshaft hat fortzudauern.

Eine etwa erforderliche weitere Haftprüfung durch den Bundesgerichtshof findet in drei Monaten statt.

Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem nach den allgemeinen Vorschriften zuständigen Gericht übertragen.

Gründe

I.

1

Der Beschuldigte wurde am 10. Januar 2015 festgenommen und befindet sich seit diesem Tag aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom selben Tag (2 BGs 6/15) in Untersuchungshaft.

2

Gegenstand des Haftbefehls ist der Vorwurf, der Beschuldigte habe sich in der Zeit von Oktober 2013 bis November 2014 an der Vereinigung "Islamischer Staat im Irak und in Großsyrien" (im Folgenden: ISIG) bzw. "Islamischer Staat" (im Folgenden: IS) als Mitglied beteiligt und damit an einer Vereinigung, deren Zwecke und Tätigkeiten darauf gerichtet seien, Mord und Totschlag zu begehen (strafbar gemäß § 129a Abs. 1 Nr. 1 und 2, § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB).

II.

3

Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen vor.

4

1. Der Beschuldigte ist der ihm im Haftbefehl des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vorgeworfenen Tat dringend verdächtig.

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a) Nach dem bisherigen Ergebnis der Ermittlungen ist im Sinne eines dringenden Tatverdachts von folgendem Geschehen auszugehen:

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aa) Die Vereinigung Islamischer Staat im Irak und in Großsyrien (ISIG) bzw. Islamischer Staat (IS)

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(1) Beim Islamischen Staat im Irak und in Großsyrien (im Folgenden: ISIG) handelte es sich um eine Organisation mit militant-fundamentalistischer islamischer Ausrichtung, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, einen das Gebiet des heutigen Irak und die historische Region "ash-Sham" - die heutigen Staaten Syrien, Libanon und Jordanien sowie Palästina - umfassenden und auf ihrer Ideologie gründenden "Gottesstaat" zu errichten. Wer sich den Ansprüchen dieser Vereinigung entgegensetzte, wurde begriffen als "Feind des Islam"; die Tötung solcher "Feinde" oder ihre Einschüchterung durch Gewaltakte hielt sie für ein legitimes Mittel des Kampfes.

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Die Organisation geht zurück auf die von Abu Musab al-Zarqawi Anfang 2004 als Widerstandsgruppe gegen die US-Präsenz im Irak gegründete "Ja-ma'at at-Tauhid wal-Dschihad" ("Gemeinschaft der göttlichen Einheit und des Kampfes"). Im Oktober 2004 leistete al-Zarqawi den Treueeid auf Osama bin Laden und dessen Al-Qaida, worauf sich die Gruppierung umbenannte in "Tanzim Qa'idat al-Jihad fi Bilad ar-Rafidain" ("Organisation der Basis des Jihad im Zweistromland") und bekannt wurde als "Al-Qaida im Irak (AQI)". Im Dezember 2005 ernannte bin Laden al-Zarqawi zu seinem Stellvertreter im Irak. Die AQI trat zunächst hervor mit Angriffen auf zivile Angehörige westlicher Staaten im Irak, die Opfer von Anschlägen, Entführungen und - auf sodann verbreiteten Videofilmen festgehaltenen - Hinrichtungen wurden. Ab Herbst 2005 verlegte sie sich auf medienwirksame Sprengstoffanschläge, vornehmlich in Bagdad und im Nordwestirak, aber am 9. November 2005 auch auf mehrere Hotels in Amman/Jordanien.

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Anfang 2006 schloss sich die AQI zunächst unter der Dachorganisation "Schura-Rat der Mudschaheddin im Irak" mit weiteren Gruppierungen zusammen. Nach al-Zarqawis Tod im Juni 2006 rief dessen Nachfolger Abu Ayyub alMasri im Oktober 2006 einen das Gebiet von Bagdad und mehrere Nordwestprovinzen umfassenden islamischen Staat aus und benannte den Zusammenschluss um in "ad-Dawlat al-Islamiya fil-Iraq" ("Islamischer Staat im Irak", ISI oder auch IStI). Ziel der hierarchisch strukturierten, über eine straffe militärische Organisation verfügenden Vereinigung war der Schutz der Sunniten im Irak, die Vernichtung der "abtrünnigen Verräter" und das "Niedermetzeln" der feindlichen "Kreuzfahrer". Der ISI sah sich als selbständiger Zweig der Al-Qaida und teilte deren Ziele und Zwecke, die er mit Anschlägen gegen Politiker, irakische Einrichtungen und Sicherheitskräfte, die im Irak stationierten westlichen Truppen, aber auch gegen die Zivilbevölkerung zu erreichen suchte.

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(2) Nach der Tötung al-Masris wurde Abu Bakr al-Baghdadi sein Nachfolger. Unter dessen Führung beteiligte sich der ISI auch am syrischen Bürgerkrieg; er sah darin die Gelegenheit, seinen Einfluss nach Syrien auszudehnen, wo die Vereinigung aufgrund der vielen aus Syrien stammenden, im Irak eingesetzten Kämpfer über eine gut ausgebaute Infrastruktur verfügte. Dabei kooperierte der ISI unter anderem mit der 2011 in seinem Auftrag und mit seiner Unterstützung in Syrien gegründeten, vom Syrer Muhammad al-Jawlani angeführten Jabhat al-Nusra (im Folgenden: JaN), deren Aktionen sich vornehmlich gegen Einrichtungen und Angehörige der Assad-Armee richteten. Nach dem Willen al-Baghdadis sollte die JaN unmittelbar dem Einfluss des ISI unterstehen; der wachsende Einfluss der JaN in Syrien führte indes innerhalb dieser Vereinigung zu wachsenden Bestrebungen nach Selbständigkeit. Als al-Baghdadi als Reaktion darauf im April 2013 die Vereinigung von ISI und Jabhat al-Nusra zum "Islamischen Staat im Irak und in Großsyrien (ISIG)" verkündete, widersprach al-Jawlani dem und leistete seinerseits den Treueeid auf al-Zawahiri, worauf dieser den Zusammenschluss annullierte und beide Parteien zur Beilegung ihrer Streitigkeiten auf der Grundlage einer Gebietsabgrenzung - ISIG im Irak, Jabhat al-Nusra in Syrien - aufrief. Dies führte zum Bruch al-Baghdadis sowohl mit Al-Qaida als auch mit der Jabhat al-Nusra. Anfang des Jahres 2014 kam es zu militärischen Auseinandersetzungen mit anderen syrischen Oppositionsgruppen, innerhalb derer der ISIG zwischenzeitlich weitgehend isoliert ist.

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(3) Gleichwohl gelang es ihm, sich in einigen Regionen Nordsyriens als Ordnungsmacht festzusetzen. Aus dem Kampf gegen das Assad-Regime zog sich die Organisation in der Folge weitgehend zurück und konzentrierte sich in Syrien auf die Machterhaltung in den von ihr beherrschten Gebieten. Angehörige anderer Oppositionsgruppen sowie die Teile der Zivilbevölkerung, die den Herrschaftsanspruch des ISIG in Frage stellten, sahen sich Verhaftung, Folter und Hinrichtung ausgesetzt. In der Folge verlagerte der ISIG seine kämpferischen Aktivitäten zunehmend in den Irak, wo es ihm Anfang Juni 2014 u.a. gelang, die Stadt Mossul in seine Gewalt zu bringen.

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Am 29. Juni 2014 verkündete ein Sprecher des ISIG in einer Audiobotschaft die Ernennung des "Emirs" Abu Bakr al-Baghdadi zum "Khalifen" (Nachfolger des Propheten) und die Umbenennung des ISIG in "ad-Dawlat alIslamiya/Islamischer Staat (IS)". Gleichzeitig rief er die Muslime weltweit auf, dem Khalifen Gehorsam zu leisten. Dies verdeutlicht - bei Beibehaltung der bisherigen ideologischen Ausrichtung - eine Abkehr von der regionalen Selbstbeschränkung auf ein "Großsyrien" und die Erhebung eines Führungs- und Herrschaftsanspruchs in Bezug auf das gesamte "Haus des Islam".

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bb) Die Tathandlungen des Beschuldigten:

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Der Beschuldigte radikalisierte sich in der Zeit bis Sommer 2012 als Mitglied der sog. L. Gruppe - benannt nach dem D. Stadtteil und begann ab diesem Zeitpunkt, traditionelle islamische Kleidung und Barttracht zu tragen sowie regelmäßig zu beten und Moscheen zu besuchen. Der L. Gruppe gehörten weitere islamistisch radikalisierte Personen an, gegen die der Generalbundesanwalt ebenfalls ermittelt, unter anderem der Cousin des Beschuldigten B. alias "A. ". Dieser kam nach - bislang allerdings noch unbestätigten - Erkenntnissen im Dezember 2014 bei einem von ihm verübten Selbstmordattentat in Syrien ums Leben.

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Der Beschuldigte reiste am 5. Oktober 2013 zunächst in die Türkei und von dort mithilfe von Mittelsmännern, die ihm beim Grenzübertritt behilflich waren, weiter nach Syrien. Dort angekommen gliederte er sich in die Vereinigung des ISIG ein, wobei er zunächst in einem Trainingslager im Umgang mit Schusswaffen und der Verarbeitung von Sprengstoff unterwiesen wurde. Nachdem er sich selbst Schusswaffen - namentlich ein Sturmgewehr AK 47, ein amerikanisches Sturmgewehr M16A2 und eine Pistole Browning, Kaliber 9 mm, verschafft bzw. solche erhalten hatte, versah er in einer Spezialeinheit seinen Dienst, die damit befasst war, auf Anordnung des zuständigen Emirs Deserteure festzunehmen, wozu es in mindestens drei Fällen auch kam. Zu diesem Zweck verfügte der Beschuldigte über ein ihm von der Vereinigung überlassenes Kfz sowie über einen speziellen Ausweis, der ihn als Mitglied dieser Spezialeinheit auswies. Zudem beteiligte er sich an Transporten im Kampfgebiet, unter anderem auch an Krankentransporten.

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Aus bislang ungeklärten Gründen kehrte der Beschuldigte, der sich auch in der Zeit danach mit der Ideologie des IS identifizierte, Anfang November 2014 über die Türkei und Bulgarien zurück nach Deutschland, wo er am 20. November 2014 eintraf und Wohnung bei seiner Mutter in D. nahm.

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b) Der dringende Tatverdacht ergibt sich zunächst aus den im Haftbefehl aufgeführten Erkenntnissen aus überwachten Innenraumgesprächen im Pkw des Beschuldigten, in denen er seine Tätigkeit für den "Daula" - hierbei handelt es sich um eine in einschlägigen Kreisen gängige Bezeichnung für den IS - und dort die Spezialeinheit geschildert hat. Er wird bestätigt durch die Ergebnisse der nach der Verhaftung des Beschuldigten durchgeführten Auswertung seines Smartphones, das insbesondere Bildmaterial enthält, das den Beschuldigten mit den beschriebenen Waffen zeigt sowie seinen Aufenthalt in einem offensichtlichen Kampfgebiet bestätigt. Zwar versuchte der Beschuldigte, seinen Aufenthalt in Syrien zu verschleiern, indem er die Bilddateien von seinem Smartphone löschte; dabei übersah er indes, dass Miniaturen der Bilddateien (sog. thumbnails) auf der Festplatte des Geräts gespeichert blieben, die wieder sichtbar gemacht werden konnten. Zu weiteren Beweisergebnissen insbesondere aus der Auswertung der Innenraumgespräche, sozialer Mediendienste sowie aus Finanzermittlungen nimmt der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug auf die entsprechenden Darstellungen in dem Haftbefehl sowie in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts vom 25. Juni 2015.

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2. Es besteht nach alledem der dringende Tatverdacht, dass sich der Beschuldigte wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland nach § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB strafbar gemacht hat. Die Ausbildung im Umgang mit Waffen und Sprengstoff, die zur Erreichung der Ziele der Vereinigung mit terroristischen Mitteln dienen sollen, und die Eingliederung in eine Spezialeinheit, die der Disziplinierung der anderen Vereinigungsmitglieder dient, stellen auch schwerwiegende mitgliedschaftliche Betätigungshandlungen für den IS dar.

19

Deutsches Strafrecht ist anwendbar: Dies folgt entweder unmittelbar aus § 129b Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 StGB (vgl. BGH, Beschluss vom 31. Juli 2009 - StB 34/09, BGHR StGB § 129b Anwendbarkeit 1) oder aus § 7 Abs. 2 Nr. 1 StGB, weil der Angeschuldigte Deutscher ist und - wenn man nicht ohnehin davon ausgeht, dass das Gebiet, in dem er sich aufhielt, effektiv keiner staatlichen Strafgewalt unterlag - Personenzusammenschlüsse, die sich terroristischer Akte bedienen, um die grundlegende Gesellschaftsordnung zu ändern, nach Art. 304 bis 306 des syrischen Strafgesetzbuches mit Strafe bedroht werden.

20

Die nach § 129b Abs. 1 Satz 2 und 3 StGB erforderliche Ermächtigung zur strafrechtlichen Verfolgung von Mitgliedern oder Unterstützern der ausländischen terroristischen Vereinigung ISIG, die deutsche Staatsangehörige sind, sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten oder hier tätig werden, liegt seit dem 6. Januar 2014 vor.

21

3. Angesichts des bestehenden Tatverdachts nach § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 StGB besteht der Haftgrund der Schwerkriminalität, § 112 Abs. 3 StPO. Aus den fortgeltenden Gründen des Haftbefehls, auf die der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug nimmt, besteht darüber hinaus der Haftgrund der Fluchtgefahr, § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO. Dies gilt mit Blick auf das dargelegte Gewicht der Betätigungshandlungen und auch mit Blick auf die Dauer des Aufenthalts in Syrien von über einem Jahr.

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4. Die besonderen Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus (§ 121 Abs. 1 StPO) sind gegeben; der Umfang der Ermittlungen und ihre Schwierigkeit haben ein Urteil noch nicht zugelassen und rechtfertigen die Fortdauer der Untersuchungshaft:

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Nach der Festnahme des Beschuldigten war sein Mobiltelefon auszuwerten, wobei insbesondere zahlreiche Personenkontakte und die Verifizierung der Speicherdaten der genannten Miniaturen der aufgenommenen Bilddaten, aber auch die Auswertung seiner Chatprotokolle zeitaufwändig waren. Zudem wurden umfassend Zeugen vernommen, wobei aufgrund des Nichterscheinens einiger Zeugen die Ladung zur staatsanwaltschaftlichen Vernehmung wiederum Zeit kostete. Weitere Maßnahmen waren eine Durchsuchung zur Auffindung eines weiteren Mobilgeräts, ein Rechtshilfeersuchen an die Niederlande, dessen Ergebnis noch aussteht, parallel dazu geführte Finanzermittlungen, die Auswertung des Internetverhaltens des Beschuldigten und weiterer Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen. Die wörtliche Verschriftung der Gespräche aus der Innenraumüberwachung hat sich ebenfalls als zeitaufwändig erwiesen, zumal die Ergebnisse teilweise auch einer islamwissenschaftlichen Bewertung bedürfen.

24

Schließlich ist nach Abschluss der Einzelmaßnahmen und der Bewertung der daraus jeweils gewonnen Erkenntnisse ein Abgleich mit denen anderer Ermittlungsmaßnahmen erforderlich, der zum Teil noch aussteht. Die Erhebung der Anklage gegen den Beschuldigten ist nach Mitteilung des Generalbundesanwalts für den Monat August vorgesehen.

25

5. Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft steht nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der im Falle einer Verurteilung zu erwartenden Strafe. Weniger einschneidende Maßnahmen im Sinne des § 116 StPO sind aus den im Haftbefehl genannten Gründen nach wie vor nicht erfolgversprechend.

Becker

Pfister

Gericke

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