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Bundesgerichtshof
Beschl. v. 15.09.2011, Az.: V ZB 133/11
Zulässigkeit einer Haftanordnung bei Unkenntnis der Ausländerbehörde über den Aufenthaltsort eines Ausländers ohne vorangegangenen Hinweis auf eine Aufenthaltsmitteilungspflicht
Gericht: BGH
Entscheidungsform: Beschluss
Datum: 15.09.2011
Referenz: JurionRS 2011, 25896
Aktenzeichen: V ZB 133/11
ECLI: [keine Angabe]

Verfahrensgang:

vorgehend:

AG Frankfurt am Main - 03.05.2011 - AZ: 934 XIV 209/11

LG Frankfurt am Main - 09.05.2011 - AZ: 2-29 T 62/11

BGH, 15.09.2011 - V ZB 133/11

Redaktioneller Leitsatz:

Wurde ein Ausländer nach erfolglosem Asylantrag zur Ausreise aufgefordert, begründet sein nicht angezeigter Aufenthaltswechsel nur dann die einen Haftgrund nach § 62 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 AufenthG bildende Vermutung, dass die Abschiebung ohne die Inhaftnahme erschwert oder vereitelt wird, wenn er durch die Ausländerbehörde im Zusammenhang mit der Ausreiseanordnung auf seine Pflicht zur Mitteilung seines Aufenthalts und die Folgen einer unterlassenen Mitteilung hingewiesen worden ist.

Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 15. September 2011 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Krüger, die Richter Dr. Lemke und Prof. Dr. Schmidt-Räntsch und die Richterinnen Dr. Brückner und Weinland beschlossen:

Tenor:

Dem Betroffenen wird für das Rechtsbeschwerdeverfahren Verfahrenskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt Wassermann beigeordnet.

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 3. Mai 2011 und der Beschluss der 29. Zivilkammer des Landgerichts Frankfurt am Main vom 9. Mai 2011 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben.

Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen werden dem Land Hessen auferlegt.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 3.000 €.

Gründe

I.

1

Der Betroffene, ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste am 3. November 2010 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Da sein Asylantrag keinen Erfolg hatte, wurde er zur Ausreise aufgefordert und ihm die Abschiebung angedroht. Diese Entscheidung ist seit dem 23. Dezember 2010 unanfechtbar. Nach Ablauf der Ausreisefrist war der Betroffene für die Behörden nicht mehr erreichbar. Am 3. Mai 2011 wurde er von den Niederlanden nach Deutschland rücküberstellt. Auf Antrag der Beteiligten zu 2 hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 3. Mai 2011 Abschiebungshaft bis längstens 2. Juni 2011 angeordnet. Die Beschwerde hat das Landgericht mit Beschluss vom 9. Mai 2011 zurückgewiesen. Am 26. Mai 2011 wurde der Betroffene aus der Haft entlassen. Mit der Rechtsbeschwerde, für deren Durchführung er die Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe beantragt, will er die Feststellung erreichen, dass ihn die Haftanordnung und die Beschwerdeentscheidung in seinen Rechten verletzt haben.

II.

2

Nach Auffassung des Beschwerdegerichts war die Haftanordnung rechtmäßig, denn der in § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG genannte Haftgrund habe vorgelegen.

III.

3

Die statthafte (vgl. nur Senat, Beschluss vom 22. Juli 2010 - V ZB 29/10, InfAuslR 2011, 27 Rn. 4) und auch im Übrigen zulässige (§ 71 FamFG) Rechtsbeschwerde ist begründet. Sowohl die Haftanordnung als auch die Beschwerdeentscheidung haben den Betroffenen in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt.

4

1. Die Feststellungen des Amtsgerichts und des Beschwerdegerichts tragen nicht den angenommenen Haftgrund nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG.

5

a) Nach dieser Vorschrift ist ein Ausländer zur Sicherung der Abschiebung in Haft zu nehmen, wenn die Ausreisefrist abgelaufen ist und der Ausländer seinen Aufenthaltsort gewechselt hat, ohne der Ausländerbehörde eine Anschrift anzugeben, unter der er erreichbar ist. Der nicht angezeigte Aufenthaltswechsel begründet in diesem Fall die Vermutung, dass die Abschiebung ohne die Inhaftnahme erschwert oder vereitelt wird. Wegen dieser einschneidenden Folge muss die Ausländerbehörde in der Regel im Zusammenhang mit der Ausreiseanordnung auf die Anzeigepflicht nach § 50 Abs. 5 AufenthG und die mit einem Unterlassen der Anzeige des Aufenthaltswechsels verbundenen Folgen hinweisen (Senat, Beschluss vom 19. Mai 2011 - V ZB 36/11 Rn. 10, [...]). Bei der Anwendung der Vorschrift ist zudem der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten, der in Ausnahmefällen dazu führt, dass die Vermutung widerlegt werden kann. Will sich der Ausländer offensichtlich nicht der Abschiebung entziehen, ist der nicht angezeigte Aufenthaltswechsel allein kein ausreichender Haftgrund (Senat, Beschluss vom 19. Mai 2011 - V ZB 36/11 Rn. 10, [...]; BVerfG, InfAuslR 1994, 342, 344 [BVerfG 13.07.1994 - 2 BvL 12/93]).

6

b) Zwar hat der Betroffene die Ausländerbehörde über seinen Aufenthaltsort nicht in Kenntnis gesetzt. Den Feststellungen des Amtsgerichts und des Beschwerdegerichts lässt sich aber nicht entnehmen, dass er auf seine Pflicht zur Mitteilung seines Aufenthalts und die Folgen einer unterlassenen Mitteilung hingewiesen worden ist.

7

2. Die Sache ist zur Entscheidung reif, § 74 Abs. 6 Satz 1 FamFG. Zwar wäre möglicherweise noch feststellbar, ob die erforderliche Belehrung des Betroffenen erfolgt ist. Dazu müsste der Betroffene aber angehört werden. Das ist, da er unbekannten Aufenthalts ist, nicht mehr möglich. Dies geht zu Lasten der Beteiligten zu 2.

IV.

8

Die Kostenentscheidung beruht auf § 83 Abs. 2, § 81 Abs. 1, § 430 FamFG. Unter Berücksichtigung der Regelung in Art. 5 Abs. 5 EMRK entspricht es billigem Ermessen, das Land Hessen zur Erstattung der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen zu verpflichten (vgl. Senat, Beschluss vom 22. Juli 2010 - V ZB 28/10 Rn. 18, [...]). Die Festsetzung des Beschwerdewerts folgt aus § 128c Abs. 2 KostO i.V.m. § 30 Abs. 2 KostO.

Krüger
RiBGH Dr. Lemke ist infolge Urlaubs an der Unterschrift gehindert. Karlsruhe, den 20. September 2011 Der Vorsitzende Krüger
Schmidt-Räntsch
Brückner
Weinland

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