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Bundesgerichtshof
Beschl. v. 10.11.2010, Az.: 5 StR 376/10
Vollstreckung einer Unterbringung in der Sicherungsverwahrung während des Ruhens des Verfahrens wegen Klärung der Frage nach der Vereinbarkeit der Unterbringung mit der Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte; Notwendigkeit der Beendigung einer Freiheitsentziehung oder einer Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung während des Ruhens des Verfahrens wegen Klärung der Frage nach der Vereinbarkeit mit der Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
Gericht: BGH
Entscheidungsform: Beschluss
Datum: 10.11.2010
Referenz: JurionRS 2010, 29852
Aktenzeichen: 5 StR 376/10
ECLI: [keine Angabe]

BGH, 10.11.2010 - 5 StR 376/10

Redaktioneller Leitsatz:

Weitere beim 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs anhängige Verfahren zur Frage einer rückwirkenden Anwendbarkeit des § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB n.F. und zur Auslegung des § 2 Abs. 6 StGB im Rahmen von § 66b StGB ruhen bis zur Erledigung des mit Anfragebeschluss des Senats vom 9. November 2010 - 5 StR 394, 440 und 474/10 - eingeleiteten Verfahrens nach § 132 GVG.

Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat
am 10. November 2010
beschlossen:

Tenor:

Das Verfahren ruht bis zur Erledigung des mit Anfragebeschluss des Senats vom 9. November 2010 - 5 StR 394, 440 und 474/10 - eingeleiteten Verfahrens nach § 132 GVG.

Bis dahin werden die Akten an das Oberlandesgericht Nürnberg zur Fortführung der nach § 67e Abs. 1 Satz 1, § 67d Abs. 3 Satz 1, Abs. 2 StGB gebotenen Überprüfungen zurückgegeben.

G r ü n d e

1

Gegen den Verurteilten wird die Maßregel der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung aus dem Urteil des Landgerichts Augsburg vom 9. November 1995 vollstreckt, in dem gegen ihn wegen dreier Diebstähle unter Anwendung des § 55 StGB eine Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren sowie eine weitere Freiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten verhängt worden waren. Zehn Jahre der Unterbringung waren am 23. Mai 2009 vollzogen.

2

Nach Rechtskraft des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17. Dezember 2009 (EuGRZ 2010, 25), das die rückwirkende Anwendung des § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 ohne Beachtung der nach § 67d Abs. 1 Satz 1 StGB a.F. bei Tatzeit geltenden Höchstfrist von zehn Jahren für die Dauer der ersten Unterbringung in der Sicherungsverwahrung als Verstoß gegen die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten wertet, hat

das Landgericht Regensburg am 1. Juli 2010 einen Antrag des Verurteilten, die Vollstreckung der Sicherungsverwahrung für unzulässig zu erklären, zurückgewiesen. Das Oberlandesgericht Nürnberg möchte die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde des Verurteilten verwerfen. Im Blick auf entgegenstehende Rechtsprechung anderer Oberlandesgerichte, die im Anschluss an das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte für die Maßregel der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung eine abweichende Regelung von der grundsätzlich geltenden Rückwirkung im Sinne des § 2 Abs. 6 StGB gesehen haben, hat es die Sache dem Bundesgerichtshof gemäß § 121 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 3 GVG vorgelegt.

3

Beim Senat sind bislang 15 gleichartige Vorlegungsverfahren anhängig. Mit zur Veröffentlichung in BGHSt bestimmtem Anfragebeschluss vom 9. November 2010 - 5 StR 394, 440 und 474/10 - hat der Senat, der eine rückwirkende Anwendbarkeit des § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB n.F. grundsätzlich bejaht, wegen von seiner Auffassung zur Auslegung des § 2 Abs. 6 StGB divergierender Rechtsprechung des 4. Strafsenats des Bundesgerichtshofs zur identischen Rechtsfrage bei Auslegung des § 66b StGB und wegen grundsätzlicher Bedeutung dieser Rechtsfrage das Verfahren nach § 132 GVG eingeleitet. Dabei hat der Senat § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB n.F. allerdings weiter einschränkend dahin ausgelegt, dass in Altfällen die erstmalige Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach zehnjährigem Vollzug für erledigt zu erklären ist, sofern nicht eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualverbrechen aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist (Leitsatz 2 des genannten Beschlusses). Bei diesem Maßstab kommt nur in Ausnahmefällen auch eine Aussetzung der weiteren Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung in Betracht (§ 67d Abs. 2 StGB).

4

Bis zur Erledigung des Verfahrens nach § 132 GVG hat der Senat in den drei Verfahren, die Gegenstand der Anfrage sind, die Akten den vorlegenden Oberlandesgerichten zurückgegeben. Die Parallelverfahren, die wegen möglicher identischer Entscheidungserheblichkeit des Anfragegegenstandes bis zur Erledigung des Verfahrens nach § 132 GVG zu ruhen haben, sind in gleicher Weise zu behandeln.

5

1.

Das Verfahren nach § 132 GVG - und damit das anzuordnende Ruhen der Parallelsachen - wird voraussichtlich mehrere Monate andauern. Während dieser Zeit wird die Unterbringung gegen die Verurteilten weiterhin vollstreckt, der Eingriff in das Freiheitsgrundrecht, dessen Zulässigkeit in den Vorlegungsverfahren in Zweifel steht, mithin stetig weiter vertieft. Dies erfordert, dass die Oberlandesgerichte bereits vor Klärung der Vorlegungsfrage aktuell unabhängig von ihr zu überprüfen haben, ob die Freiheitsentziehung gegen den Verurteilten zu beenden oder die Vollstreckung zur Bewährung auszusetzen ist. Die Prüfung hat den vorstehend bezeichneten, für die Oberlandesgerichte wegen der ausschließlichen Zuständigkeit des Senats nach § 121 Abs. 2 Nr. 3 GVG verbindlichen Maßstäben zu folgen.

6

Geboten ist eine neue Sachentscheidung nach § 67e Abs. 1 Satz 1 StGB aus Anlass des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Ihr ist ein aktuelles Sachverständigengutachten zugrunde zu legen (§ 463 Abs. 3 Satz 4 StPO), das sich an den engeren Kriterien zu Verhältnismäßigkeit und Gefahrenbegriff zu orientieren hat.

7

2.

Im vorliegenden Fall legt auf den ersten Blick schon die Anlassverurteilung nahe, dass es an der für eine weitere Vollstreckung der Maßregel unerlässlichen Voraussetzung der dargelegten erhöhten Gefahr fehlen dürfte. Nähere Ausführungen zur Gefährlichkeitsprognose des Verurteilten sind weder dem Vorlagebeschluss noch den übersandten Akten zu entnehmen.

3.

Für den Fall, dass die aktuelle Sachprüfung auch unter Zugrundele-8

gung der Grundsätze konkreter höchster Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit eine weitere Vollstreckung der Maßregel unerlässlich erscheinen lässt, weist der Senat auf Folgendes hin:

9

a)

Auf etwa während des Vorlegungsverfahrens einschließlich des Verfahrens nach § 132 GVG auftretende neue Entwicklungen, die für die Beurteilung der Gefährlichkeit des Verurteilten bedeutsam sein können, muss unverzüglich mit einer neuen Sachprüfung der Unerlässlichkeit weiterer Freiheitsentziehung reagiert werden.

10

b)

Es ist denkbar, dass die Prüfung im Verfahren nach § 132 GVG entgegen dem Votum des erkennenden Senats zum Ergebnis genereller Unzulässigkeit weiterer Maßregelvollstreckung gelangt. Dies zöge die sofortige Entlassung aller betroffenen Untergebrachten nach sich. Im Hinblick darauf ist eine vorsorgliche Vorbereitung sofort umsetzbarer, im Entlassungsfall angezeigter - insbesondere fürsorglicher - Maßnahmen zwingend geboten, die einer sozialen Gefährdung entlassener Verurteilter und einer damit einhergehenden Gefährdung der Allgemeinheit entgegenzuwirken vermögen. Durch eine unvorbereitete Eilentlassung würde diesen Gefahren Vorschub geleistet. Auf geeignete Maßnahmen hinzuwirken, ist auch Aufgabe der im Erledigungsverfahren tätigen Vollstreckungsgerichte sowie der vorlegenden Oberlandesgerichte.

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