Bundesgerichtshof
Urt. v. 21.05.1992, Az.: 4 StR 140/92
Vorliegen einer Entschuldigung bei Hinnehmbarkeit der Gefahr und eines Schadens; Erfordernis einer intensiven Prüfung über die Zumutbarkeit eines Ausweichens gegenüber dem Erfordernis eines Angriffs auf das Leben des Angreifers; Zumutbarkeit eines das eigene Leben aufs Spiel setzenden Ausweichens
Bibliographie
- Gericht
- BGH
- Datum
- 21.05.1992
- Aktenzeichen
- 4 StR 140/92
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1992, 12066
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- Bezirksgericht Magdeburg - 12.12.1991
Rechtsgrundlage
Fundstellen
- NStZ 1992, 487-488 (Volltext mit amtl. LS)
- StV 1993, 583
Verfahrensgegenstand
Beihilfe zum versuchten Totschlag u.a.
Prozessführer
Michael B. aus H. geboren am ... 1954 in B., zur Zeit in Haft
Amtlicher Leitsatz
Zu den Anforderungen, die im Falle eines entschuldigenden Notstandes an die Prüfung zumutbarer Ausweichmöglichkeiten zu stellen sind.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat
in der Sitzung vom 21. Mai 1992,
an der teilgenommen haben:
Vizepräsident des Bundesgerichtshofs Salger als Vorsitzender,
die Richter am Bundesgerichtshof Dr. Meyer-Goßner, Dr. Steindorf, Nehm,
die Richterin am Bundesgerichtshof Dr. Tepperwien als beisitzende Richter,
Bundesanwalt Dr. ... in der Verhandlung,
Bundesanwalt ... bei der Verkündung als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Justizangestellte ... als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
Tenor:
- I.
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Bezirksgerichts Magdeburg vom 12. Dezember 1991 aufgehoben,
- 1.
soweit der Angeklagte wegen Beihilfe zum versuchten Totschlag verurteilt worden ist; insoweit wird der Angeklagte freigesprochen und werden die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten der Staatskasse auferlegt;
- 2.
im Ausspruch über die Gesamtstrafe.
- II.
Die Sache wird zur Bildung einer neuen Gesamtstrafe an einen anderen Strafsenat des Bezirksgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Das Bezirksgericht hat den Angeklagten wegen Beihilfe zum versuchten Totschlag (Einsatzstrafe: vier Jahre und sechs Monate Freiheitsstrafe) sowie wegen Unterschlagung, Betruges und Diebstahls in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt.
Die auf die Verurteilung wegen Beihilfe zum Totschlag und die Gesamtstrafe beschränkte Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg.
1.
Das Bezirksgericht hat festgestellt:
In der Nacht zum 14. April 1990 suchte der 37 Jahre alte, homosexuell veranlagte Angeklagte gemeinsam mit zwei jungen Männern, die er kurz zuvor in einem Scene-Lokal kennengelernt hatte, den ihm seit mehreren Jahren bekannten, ebenfalls homosexuellen, 60 Jahre alten Martin P. in dessen Wohnung auf. P., der dem wohnungslosen Angeklagten vorübergehend Unterkunft gewährte, hatte darum gebeten, ihm einen Sexualpartner mitzubringen. Nachdem P. und die beiden dem Angeklagten nur mit den Vornamen Holger und Ulf bekannten Männer, die ebenso wie der Angeklagte bereits im Verlauf des Tages erhebliche Mengen Alkohol getrunken hatten, etwa eine Stunde lang gemeinsam gezecht hatten, entschloß man sich zur Nachtruhe. Der stark angetrunkene Angeklagte hatte sich bereits zu Bett gelegt, als er aus dem benachbarten Zimmer einen Hilferuf des P. hörte. Durch die geöffnete Tür beobachtete er, wie Holger dem P., dem vor diesem Zeitpunkt bereits eine ca. 8 cm tiefe Stichwunde in den Rücken und eine Gesichtsverletzung beigebracht worden waren, mit einem Hirschfänger in den Bauch stach. Ulf drückte währenddessen das Opfer auf ein Sofa nieder und stieß ihm ein Bajonett in den Bauch. Durch ein von dem Angeklagten verursachtes Geräusch wurden die Täter auf ihn aufmerksam und kamen auf ihn zu. Holger hielt dabei den Hirschfänger mit der Klinge nach vom in der Hand. Dem verängstigten Angeklagten, der das Gefühl hatte, "als nächster dran zu sein", gelang es, die Männer in ein Gespräch zu verwickeln, in dem er darum bat, ihm nichts zu tun. Er sei "einer von ihnen", ebenfalls vorbestraft und fremd in der Gegend; er habe nichts gesehen. Holger, dem er zum Beweis der Richtigkeit seiner Angaben seinen Ausweis zeigte, nahm ihm die Brieftasche samt darin befindlichen 570 Mark ab und versicherte dem Angeklagten, es werde ihm nichts geschehen, wenn er sich ruhig verhalte. Währenddessen stand Ulf vor dem Angeklagten und wippte mit dem Bajonett, was der Angeklagte als Drohgebärde empfand. Ulf gab sich mit den Beteuerungen des Angeklagten nicht zufrieden, sondern verlangte von ihm, "zur Sicherheit, damit er nicht zur Polizei gehe, müsse er mitmachen". Er forderte den Angeklagten auf, gemeinsam mit Holger das Opfer mit einem um dessen Hals gelegten feuchten Handtuch zu würgen. Als der Angeklagte zögerte, dieser Aufforderung nachzukommen, drängte Ulf, der neben dem Angeklagten stand: "Nun mach schon". Darauf zog der Angeklagte, der "nur das tun wollte, was von ihm verlangt wurde, damit ihm nichts passierte", mindestens eineinhalb Minuten mit bedingtem Tötungsvorsatz an dem Handtuch. Er ließ von P. ab, als er dachte, "daß es reiche" und "daß er seine Pflicht getan habe". Als P. kurze Zeit später noch einmal stöhnte, drosselten ihn Holger und Ulf erneut mit dem Tuch. Anschließend durchsuchten sie die Wohnung und entwendeten einige Wertgegenstände des Opfers. An der Beute wurde der Angeklagte in geringem Umfang beteiligt. Am nächsten Tag benachrichtigte er die Polizei.
Sachverständig beraten hat das Bezirksgericht festgestellt, daß der durch die Stichverletzungen hervorgerufene Blutverlust für sich allein geeignet gewesen wäre, den Tod des Opfers herbeizuführen. P. sei jedoch infolge der mit Sicherheit noch zu Lebzeiten erfolgten Strangulation verstorben. Ob für den Tod die erste oder die zweite Drosselung ursächlich geworden war, konnte nicht geklärt werden.
2.
Entgegen den Ausführungen der Verteidigung erfüllt die von dem Angeklagten begangene Tat nach den vom Bezirksgericht getroffenen Feststellungen den objektiven und subjektiven Tatbestand der Beihilfe zu einem Tötungsdelikt.
Durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnen jedoch die Ausführungen des Tatrichters, der Angeklagte könne sich trotz einer ihm drohenden Lebensgefahr nicht auf entschuldigenden Notstand gemäß § 35 StGB berufen, weil er nicht gewissenhaft geprüft habe, ob er die ihm von Ulf und Holger drohende Gefahr nicht anders als durch seine aktive Mitwirkung bei der Tötung P. habe abwenden können, etwa durch eine erneute Diskussion mit den Tätern.
Das Bezirksgericht ist zwar zutreffend davon ausgegangen, daß nicht jede zur Abwendung einer gegenwärtigen Gefahr für die in § 35 StGB geschützten Rechtsgüter begangene rechtswidrige Handlung durch Notstand entschuldigt ist. Wie sich aus dem Wortlaut "nicht anders abzuwendende Gefahr" ergibt, muß der Täter (oder Teilnehmer) vielmehr bei mehreren in Frage kommenden Mitteln das mildeste wählen, das geeignet ist, der Gefahr wirksam zu begegnen. Weiter folgt aus § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB, daß über die dort genannten Beispielsfälle hinaus eine Entschuldigung dann nicht in Betracht kommt, wenn dem Täter nach dem Wertverhältnis der betroffenen Rechtsgüter, nach dem Ausmaß der Gefahr für das geschützte und das beeinträchtigte Rechtsgut, nach seinem Vorverhalten oder seiner Beziehung zu dem Opfer zugemutet werden kann, die Gefahr und damit einen etwaigen Schaden hinzunehmen (vgl. Dreher/Tröndle StGB 45. Aufl. § 35 Rdn. 10). Kommen aus der Sicht eines verständigen Betrachters in einer Gefahrensituation mehrere Mittel, der Gefahr in zumutbarer Weise zu begegnen, in Betracht, so kann sich deshalb nach ständiger Rechtsprechung nur derjenige auf entschuldigenden Notstand berufen, der die Frage, ob die Gefahr auf andere zumutbare Weise abwendbar ist, nach besten Kräften geprüft hat. An die Zumutbarkeit des Ausweichens und die insoweit bestehende Prüfungspflicht sind dabei um so strengere Maßstäbe anzulegen, je schwerer die Rechtsgutverletzung durch die im wirklichen oder vermeintlichen Notstand begangene Tat wiegt (BGHR StGB § 35 Abs. 2 Satz 1 Gefahr abwendbare 1; BGHSt 18, 311 f. m.w.Nachw., jeweils für den Fall des Putativnotstandes; gegen eine eigenständige Prüfungspflicht bei Vorliegen der Notstandsvoraussetzungen Lenckner in Schönke/Schröder StGB 24. Aufl. § 35 Rdn. 17; Hirsch in LK StGB 10. Aufl. § 35 Rdn. 40; differenzierend Lackner StGB 19. Aufl. § 35 Rdn. 14). In aller Regel ist daher eine intensive Prüfung vorzunehmen, wenn zum Schutz eigener Rechtsgüter ein Angriff auf das Leben als höchstes Rechtsgut geführt wird.
Das Bezirksgericht verkennt aber, daß neben der Schwere der jeweils drohenden Rechtsgutverletzungen weitere Umstände die Anforderungen, die an die Prüfung zumutbarer Ausweichmöglichkeiten zu stellen sind, beeinflussen. In Extremfällen kann die Notwendigkeit eingehender Prüfung sogar entfallen. So ist es von wesentlicher Bedeutung, ob die konkreten Tatumstände ein sofortiges Handeln zur wirksamen Vermeidung eigener Rechtsguteinbußen erfordern oder ob dem Täter die Möglichkeit zu ruhiger Überlegung zur Verfügung steht. Auch kommt es darauf an, ob die zumutbare Anwendung milderer Mittel sich geradezu aufdrängt oder nur entfernt in Betracht kommt.
Im vorliegenden Fall befand sich der Angeklagte als unfreiwilliger Mitwisser eines Kapitalverbrechens überraschend in einer äußerst bedrohlichen Situation, die ihm kaum Zeit für eingehende Überlegungen ließ. Durch seinen erheblich alkoholisierten Zustand (Höchstblutalkoholkonzentration: 4,7 Promille) war seine Fähigkeit, einen Ausweg aus der Nötigungssituation zu finden, ohnehin stark vermindert.
Hinzu kommt, daß sich die Möglichkeit, mit den Tätern zunächst über Für und Wider der abgenötigten Handlung zu diskutieren, als zumutbarer Ausweg keineswegs in einem Maße aufdrängte, wie dies von dem Bezirksgericht offenbar angenommen worden ist. Zwar war es dem Angeklagten gelungen, Ulf und Holger durch die Verwicklung in ein Gespräch davon abzuhalten, sofort auch gegen ihn tätlich zu werden. Dies deutete darauf hin, daß die jungen Männer die Tötung des Angeklagten nicht als einzigen Ausweg sahen, sich seines Schweigens zu vergewissern, sondern daß bei ihnen die Bereitschaft bestand, hierfür auch andere Methoden in Betracht zu ziehen. Damit war für den Angeklagten die akute Lebensgefahr jedoch weder endgültig beseitigt noch auch nur vorübergehend gebannt. Vielmehr mußte er jederzeit damit rechnen, daß zumindest Ulf, der die Verwicklung des Angeklagten in das Tötungsdelikt als Alternative dazu ansah, den Angeklagten durch Tötung zum Schweigen zu bringen, sich auf keine weiteren Diskussionen einlassen, sondern bei der geringsten Weigerung gegen ihn aggressiv werden würde. Dies lag um so näher, als auch Ulf erheblich alkoholisiert war und die Gefahr von Kurzschlußreaktionen bestand. Der Versuch, sich durch beschwichtigendes Reden der Leistung des von ihm geforderten Tatbeitrages zu entziehen, stellte daher für den Angeklagten ein erhebliches Risiko dar.
Im Einzelfall mag zwar ein Ausweichen zumutbar sein, bei dem das eigene Leben aufs Spiel gesetzt wird (so BGH, Urteil vom 30. April 1952 - 5 StR 21/52; wesentlich zurückhaltender BGH NJW 1964, 730 [BGH 14.01.1964 - 1 StR 498/63]; grundsätzlich ablehnend Hirsch a.a.O. Rdn. 63). Hier konnte dies aber um so weniger verlangt werden, als der Angeklagte nach dem vorangegangenen Verhalten von Ulf und Holger davon ausgehen konnte, daß Pötsch auch ohne seinen, des Angeklagten, Tatbeitrag keine oder nur eine ganz geringfügige Überlebenschance hatte.
Eine besondere Gefahrtragungspflicht für den Angeklagten kann entgegen der Auffassung des Bezirksgerichts weder aus dem offenbar lockeren Bekanntschaftsverhältnis zu P. noch aus dem Umstand hergeleitet werden, daß dieser ihn - aus welchen Gründen sei dahingestellt - zwei Nächte beherbergt hatte. Gleiches gilt für den Umstand, daß der Angeklagte es war, der P. die ihm bislang unbekannten Männer in die Wohnung gebracht hatte, da dies dem ausdrücklichen Wunsch des Opfers entsprochen hatte.
Der Senat schließt aus, daß das Bezirksgericht, das an die Prüfung von Ausweichmöglichkeiten zu hohe Anforderungen gestellt hat, ohne zumutbare Handlungsalternativen für den Angeklagten aufzuzeigen, hierzu neue Erkenntnisse gewinnen kann. Der Angeklagte war daher vom Vorwurf der Beihilfe zum Totschlag freizusprechen.
Die Aufhebung des insoweit erfolgten Schuldspruchs zieht die Aufhebung des Gesamtstrafenausspruchs nach sich.
Meyer-Goßner
Steindorf
Nehm
Tepperwien