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Bundesfinanzhof
Beschl. v. 02.07.2009, Az.: X B 236/08
Annahme einer Überraschungsentscheidung i.F.d. Verletzung des Gebots auf rechtliches Gehör; Vorliegen einer Überraschungsentscheidung bei einem fehlenden Hinweis des Gerichts auf einen entscheidungserheblichen rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt
Gericht: BFH
Entscheidungsform: Beschluss
Datum: 02.07.2009
Referenz: JurionRS 2009, 19936
Aktenzeichen: X B 236/08
ECLI: [keine Angabe]

Verfahrensgang:

vorgehend:

FG Hessen - 30.09.2008 - AZ: 1 K 2730/04

Fundstelle:

Jurion-Abstract 2009, 224384 (Zusammenfassung)

BFH, 02.07.2009 - X B 236/08

Redaktioneller Leitsatz:

Das FG verletzt den Anspruch auf rechtliches Gehör, wenn es in der mündlichen Verhandlung darauf hinweist, dass ein Beweisantrag auf Vernehmung eines Zeugen für erheblich gehalten werde, später aber ohne auf eine geänderte Auffassung hinzuweisen, ein Endurteil erlässt.

Gründe

1

Die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) sind zusammen zur Einkommensteuer veranlagte Ehegatten. Der aus Serbien stammende Kläger erklärte für das Veranlagungsjahr 1994 u.a. aus einem zum 1. April 1994 angemeldeten und zum 31. Oktober 1994 wieder abgemeldeten Gewerbe als Eisenbieger einen Gewinn aus Gewerbebetrieb in Höhe von 16 390,49 DM. Der Gewinnermittlung lag eine zum 31. Oktober 1994 erstellte Schlussbilanz zu Grunde, die Erlöse in Höhe von 79 941,72 DM auswies. Darin enthalten waren Zahlungen der D-GmbH mit Sitz in X in Höhe von 37 506 DM. Die vom Kläger unterzeichnete Umsatzsteuererklärung wies Erlöse aus dem Gewerbe als Eisenbieger sowie einer Schankwirtschaft in Höhe von 84 285 DM aus.

2

Die Steuerfahndungsstelle für die Finanzämter des Saarlandes stellte im Zuge eines 1997 eingeleiteten und am 8. Februar 2001 eingestellten Steuerstrafverfahrens gegen den damaligen Geschäftsführer der D-GmbH fest, dass 1994 Rechnungen der Fa. M, unter der das vom Kläger angemeldete Gewerbe als Eisenbieger firmierte, in Höhe von 189 125,24 DM verbucht worden waren und stellte die sich hierauf beziehenden Rechnungen, Zahlungsnachweise und Buchhaltungsauszüge sicher. Die für den Kläger örtlich zuständige Steuerfahndungsstelle beim Finanzamt leitete am 29. Januar 2001 gegen den Kläger ein Steuerstrafverfahren u.a. wegen des Verdachts der Hinterziehung von Einkommensteuer 1994 ein. Die Ermittlungen der Steuerfahndungsstelle ergaben, dass 1994 auf dem vom Kläger eröffneten Girokonto bei der Sparkasse Y Schecks, Überweisungen (u.a. der D-GmbH) und Bareinzahlungen in Höhe von 119 870,68 DM verbucht worden waren. Die Gutschriften bei einem im Juli 1994 ebenfalls bei der Sparkasse Y eröffneten Geschäftsgirokonto beliefen sich auf 62 135,35 DM und die Gutschriften auf dem im Dezember 1993 vom Kläger eröffneten Girokonto bei der Z-Bank betrugen 70 277,65 DM.

3

Bei der anschließenden Ermittlung der vom Kläger nicht erklärten Erlöse beschränkte sich die Steuerfahndungsstelle auf die beschlagnahmten Rechnungen der Fa. M an die D-GmbH aus dem Jahr 1994 über insgesamt 189 125,24 DM. Unter Berücksichtigung von Umsatz- und Gewerbesteuerrückstellungen errechnete sie einen Gewinn des Klägers aus Gewerbebetrieb als Eisenbieger in Höhe von 170 171,23 DM.

4

Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) übernahm diese Feststellungen und erließ am 9. April 2002 einen geänderten Einkommensteuerbescheid für 1994. Nach Abzug der Sonderausgaben und eines Kinderfreibetrags ermittelte er ein zu versteuerndes Einkommen in Höhe von 160 800 DM und setzte die Einkommensteuer auf 44 262 DM fest.

5

Das Finanzgericht (FG) wies die nach erfolglosem Einspruch erhobene Klage ab.

6

Die Kläger stützen ihre Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision auf Verfahrensmängel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das Gericht sei bei seiner Entscheidungsbildung unzulässigerweise von einer Sachverhaltsunterstellung ausgegangen, die nicht durch ausreichende tatsächliche Feststellungen getragen werde. Damit sei § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO verletzt. Zudem habe es bei seiner Entscheidungsbildung unzulässigerweise Beweisanträge der Kläger übergangen und damit seine Sachverhaltsaufklärungspflicht verletzt (§ 76 Abs. 1 FGO). Schließlich rügen sie eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör durch eine unzulässige Überraschungsentscheidung. Das FG habe ausweislich der Niederschrift über die mündliche Verhandlung am 18. August 2008 den Beweisantrag der Kläger auf Vernehmung des Bruders des Klägers für erheblich gehalten und darauf hingewiesen, dass der im Ausland lebende Zeuge von den Klägern zu stellen sein dürfte. Daraufhin hätten sich die Kläger darum bemüht, den Bruder als Zeugen zur mündlichen Verhandlung vom 30. September 2008 zu stellen. Ihr Prozessbevollmächtigter habe bei der Deutschen Botschaft in Belgrad nachgefragt, welche Formalitäten ein serbischer Staatsbürger für die Einreise nach Deutschland zu erfüllen habe, wenn dieser vor mehreren Jahren aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen worden sei. Dem Prozessbevollmächtigten sei mitgeteilt worden, dass ohne gerichtliche Ladung eine Einreise nicht möglich sei. Für die Erteilung eines Visums sei der gerichtliche Hinweis in einem Gerichtsprotokoll keinesfalls ausreichend. Im Übrigen dauere die Erteilung eines Visums aus administrativen Gründen ohnehin länger als einen Monat. Das Ergebnis ihrer Recherchen hätten die Kläger dem FG mit Schriftsatz vom 29. September 2008 mitgeteilt. In der mündlichen Verhandlung am 30. September 2008 hätten die Kläger darauf hingewiesen, dass das FG in der mündlichen Verhandlung am 18. August 2008 die Vernehmung des Bruders des Klägers für erheblich gehalten habe. Sie hätten hervorgehoben, dass im Streitfall kein Auslandssachverhalt zu beurteilen und der Zeuge deshalb nicht von ihnen zu stellen sei und dass ohne förmliche Ladung des Zeugen diesem kein Visum erteilt werde. Das Gericht habe die Kläger in der mündlichen Verhandlung nicht darauf hingewiesen, dass es seine Auffassung hinsichtlich der Erheblichkeit der Vernehmung des klägerischen Bruders geändert habe oder nunmehr davon ausgehe, der Beweisantrag sei unzulässig. Auch die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 30. September 2008 enthalte keinen derartigen Hinweis. Es habe vielmehr beschlossen, dass eine Entscheidung am Ende der Sitzung ergehen werde. Nach Wiederaufruf der Sache habe es dann den Beschluss verkündet, eine Entscheidung werde zugestellt. Klägerseits sei nicht vorhersehbar gewesen, dass es sich dabei um ein Urteil und nicht um einen Beweisbeschluss handeln werde.

7

Die Kläger beantragen,

die Revision zuzulassen.

8

Das FA beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

9

Die Beschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung (§ 116 Abs. 6 FGO). Es kann dahinstehen, ob das FG bei seiner Entscheidungsbildung unzulässigerweise von einer Sachverhaltsunterstellung ausgegangen ist, die nicht durch ausreichende tatsächliche Feststellungen getragen wird und das FG seine Sachaufklärungspflicht verletzt hat. Jedenfalls liegt die von den Klägern gerügte Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör vor.

10

1.

Rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes, § 96 Abs. 2 FGO) wird den Beteiligten dadurch gewährt, dass sie Gelegenheit erhalten, sich zu dem Sachverhalt zu äußern, der einer gerichtlichen Entscheidung zu Grunde gelegt werden soll. Das rechtliche Gehör bezieht sich vor allem auf Tatsachen und Beweisergebnisse; darüber hinaus darf das FG seine Entscheidung auf einen rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt nur stützen, wenn die Beteiligten zuvor Gelegenheit hatten, dazu Stellung zu nehmen (§ 155 FGO i.V.m. § 139 Abs. 2 der Zivilprozessordnung). Deshalb kann eine Verletzung des Rechts auf Gehör vorliegen, wenn das Gericht die Beteiligten nicht auf einen rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt hinweist, den es seiner Entscheidung zu Grunde legen will und der dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein kundiger Beteiligter nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht hat rechnen müssen (vgl. z.B. Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 1. Juli 2003 III B 94/02, BFH/NV 2003, 1591).

11

2.

Eine solche sog. Überraschungsentscheidung stellt das angefochtene Urteil dar.

12

a)

Das FG hat sein Urteil auf die Erwägung gestützt, es könne davon ausgegangen werden, dass der Bruder des Klägers die "operativen Geschäfte" des Eisenbiegergeschäfts geführt habe. Unternehmerrisiko habe ausschließlich der Kläger getragen. Er habe als Betriebsinhaber für die Erfüllung der Leistungspflichten aus den geschlossenen Nachunternehmerverträgen gehaftet, insbesondere für etwaige Vertragsstrafen und Schadensersatzansprüche wegen nicht fristgerechter Erfüllung oder Schlechterfüllung der Leistungspflichten. Er habe für die abzuführenden Sozialversicherungsbeiträge und Lohnsteuern, für die Anmeldung und Zahlung der Umsatzsteuer einstehen müssen. Verluste aus dem Gewerbe habe allein der Kläger tragen müssen, auch wenn --dies als wahr unterstellt-- der Bruder die Gewinne abgeschöpft habe. Der Kläger habe auch Unternehmerinitiative entfaltet. Er habe sämtliche Zahlungen der Auftraggeber vereinnahmt. Die Überweisungen seien Konten gutgeschrieben worden, über die ausschließlich der Kläger verfügungsberechtigt gewesen sei und auch die zur Begleichung der Rechnungen begebenen Verrechnungsschecks seien seinen Konten gutgeschrieben worden. Die Fahndungsprüfung habe lediglich vier Barzahlungen im Zusammenhang mit Aufträgen der D-GmbH festgestellt. Hiervon seien drei Zahlungen durch den Bruder des Klägers und eine Barzahlung vom Kläger noch nach Einstellung seines Gewerbebetriebs quittiert worden. Als alleinig Verfügungsberechtigter über die Bankkonten sei er in der Lage gewesen, über die Verwendung der Mittel mit zu entscheiden und so unternehmerische Entscheidungen zu beeinflussen. Dem Umstand, dass er hiervon nach seinem Vorbringen keinen Gebrauch gemacht, sondern die Führung des Unternehmens und die zu treffenden Entscheidungen seinem Bruder überlassen habe, komme keine entscheidende Bedeutung zu. Selbst bei Wahrunterstellung, dass er als Strohmann das Unternehmen zwar in eigenem Namen, aber auf Rechnung seines Bruders geführt habe, seien ihm die Ergebnisse des Unternehmens aufgrund seiner persönlichen und unbeschränkten Haftung zuzurechnen. Der in der Rechtsprechung entwickelte, zur Verneinung der Unternehmereigenschaft der das Einzelunternehmen für fremde Rechnung führende Ausnahmefall (BFH-Urteil vom 4. November 2004 III R 21/02, BFHE 207, 321, BStBl II 2005, 168) liege nicht vor.

13

b)

In der mündlichen Verhandlung vom 18. August 2008 hatte das FG ausweislich des Terminsprotokolls hingegen noch darauf hingewiesen, dass der Beweisantrag auf Vernehmung des Bruders des Klägers für erheblich gehalten werde, der im Ausland lebende Zeuge jedoch von den Klägern zu stellen sei. Daraufhin haben sich die Kläger um ein Ausreisevisum für den in Serbien lebenden Bruder bemüht, das Gericht jedoch sowohl schriftsätzlich als auch in der mündlichen Verhandlung am 30. September 2008 darauf hingewiesen, dass der aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesene Bruder ohne gerichtliche Ladung kein Visum erhalten und dies auch längere Zeit in Anspruch nehmen werde. Zudem haben sie dem Gericht (zutreffend) mitgeteilt, dass im Streitfall der im Ausland lebende Zeuge zu keinem Auslandssachverhalt befragt werden solle und deshalb nicht von ihnen beizubringen sei.

14

3.

Dieser Sachverhalt begründet eine Verletzung des rechtlichen Gehörs; das Gericht hätte die Kläger auf die Änderung seiner Auffassung vorab hinweisen müssen. Angesichts dieses Prozessverlaufs mussten die Kläger nicht damit rechnen, dass das FG die Klage abweisen würde, ohne zuvor den Bruder des Klägers zu seiner möglichen (Mit-)Unternehmerstellung befragt zu haben.

15

Die angefochtene Entscheidung kann auf diesem Verfahrensfehler beruhen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das FG zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre, wenn sich die Kläger zu der geänderten Auffassung des Gerichts, wonach die Vernehmung des Bruders des Klägers als Zeuge nicht erheblich ist, hätten äußern können.

16

4.

Der Senat hält es für sachgerecht, die Vorentscheidung nach § 116 Abs. 6 FGO aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.

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