Die Massenentlassung in der unternehmerischen Praxis

Arbeit Betrieb
28.06.20102555 Mal gelesen
Obwohl die Regelungen zum Kurzarbeitergeld zuletzt verlängert wurden, ist angesichts der anhaltenden Wirtschaftskrise im Vergleich zum Vorjahr ein Anstieg der Anfragen zu Personalabbau und Massenentlassungen in einigen Branchen erkennbar. Grund für uns, mit einigen Vorurteilen in Bezug auf Massenentlassungen aufzuräumen und Tipps für die praktische Handhabung zu geben.

Vorurteil Nr.1:
"Betriebsbedingte Kündigungen im Zuge von Massenentlassungen sind immer wirksam."
So skurril es auf erste Sicht scheint, so oft zeigt es sich in der Praxis: kaum werden Betriebe geschlossen oder eingeschränkt, nehmen Arbeitgeber an, die damit einhergehenden Kündigungen seien automatisch sozial gerechtfertigt. Als aktuelles Beispiel kann die Stilllegung des Berliner Standorts einer Fastfoodkette dienen, bei der sämtliche Mitarbeiter samt Interessenausgleich und Sozialplan entlassen wurden. Wider Erwarten hat dieses Unternehmen sämtliche Kündigungsschutzklagen verloren und musste im Ergebnis weit höhere Abfindungen als im Sozialplan vorgesehen zahlen.
Erste Voraussetzung für eine betriebsbedingte Kündigung ist eine wirksame Unternehmerentscheidung, die im Falle von Massenentlassungen einfach zu treffen ist, dokumentiert sein sollte und in der Praxis selten Probleme bereitet.
In der Folge ist aber zu prüfen, ob den betroffenen Arbeitnehmern freie Arbeitsplätze im Unternehmen (ggf. auch an anderen Standorten) anzubieten sind. Hierunter fallen nicht nur vergleichbare Arbeitsplätze, sondern auch solche zu geänderten Arbeitsbedingungen.
Zu guter Letzt findet natürlich auch bei einer Massenentlassung eine Sozialauswahl statt. In oben genannten Fall stellte sich zum Erstaunen des Arbeitgebers heraus, dass die Sozialauswahl aufgrund der Versetzungsmöglichkeit laut Arbeitsvertrag deutschlandweit über sämtliche Standorte der Fastfoodkette hinweg vorzunehmen war. Sodann ist zu prüfen, wer von den vergleichbaren Mitarbeitern anhand von Alter, Betriebszugehörigkeit, Unterhaltspflichten und Schwerbehinderung sozial am wenigsten schutzwürdig
ist. Nur unter Beachtung all dieser Kriterien kann auch bei Massenentlassungen wirksam gekündigt werden.

Massenentlassungsanzeige
Gestaffelt nach Mitarbeiterzahl des Betriebs besteht ab einer bestimmten Mindestzahl von Entlassungen eine Anzeigepflicht bei der Agentur für Arbeit.
Der Arbeitgeber muss die örtliche Agentur für Arbeit vor Ausspruch dieser Kündigungen umfassend unterrichten.
Die Bestimmung der geplanten Zeitabläufe und die korrekte Auflistung der Mitarbeiter ist in der Praxis fehleranfällig. Die Sozialauswahl und damit die Entscheidung, welche Mitarbeiter letztendlich gekündigt werden müssen, sind schon vor der Massenentlassungsanzeige sorgfältig durchzuführen.
Die Anzeige muss schriftlich erfolgen, mit Unterschrift versehen sein und der Agentur für Arbeit rechtzeitig vor Ausspruch der Kündigungen vorgelegt werden. Sinnvoll ist eine Anzeige spätestens 30 Tage vor Ausspruch der ersten Kündigung, um eventuelle Änderungen vor Ausspruch der ersten Kündigungen noch berücksichtigen und die Anzeige ggf. korrigieren zu können. Allerdings soll die Massenentlassungsanzeige auch nicht früher als 90 Tage vor der letzten anzeigepflichtigen Entlassung vorgenommen werden, da sie bei längerem Zeitabstand "verfällt" und eine erneute Anzeige nötig wird.
Eine Zustimmung der Agentur für Arbeit ist nicht erforderlich, allerdings ist intensive Kommunikation mit der Agentur ratsam, um sicherzugehen, dass alle erforderlichen Informationen eingegangen, Formularvordrucke korrekt ausgefüllt und eventuelle Änderungen in der Entlassungsplanung rechtzeitig berücksichtigt sind.

Fazit:
Nicht nur die einzelne betriebsbedingte Kündigung ist sorgfältig vorzubereiten, sondern auch die Massenentlassung. Allein die Masse führt nicht zur Wirksamkeit der Kündigungen.


Vorurteil Nr. 2:
"Die Massenentlassungsanzeige ist doch nur eine Formalie!"
Es ist richtig, dass die Massenentlassungsanzeige eine Formalie ist ? aber eine existenziell wichtige! Eine unwirksame Massenentlassungsanzeige führt zur Unwirksamkeit jeder einzelnen Kündigung im Rahmen dieser Massenentlassung.

Fazit:
Insofern sei jedem Unternehmer angeraten, die Anzeige mit allergrößter Sorgfalt zu stellen und jedem Arbeitnehmer geraten, die ordnungsgemäße Anzeige im Kündigungsschutzprozess zu bestreiten.


Vorurteil Nr. 3:
"Meine Kündigungen sind wirksam, also wird mich auch keiner verklagen."
Vor dem Arbeitsgericht trägt jede Seite ihre Kosten selbst, unabhängig vom Ausgang des Verfahrens. Je Kündigung sollten gesetzliche Gebühren nach dem RVG in der Größenordnung von ca. 1.500 ? 2.000 Euro (die konkrete Höhe ist abhängig vom Streitwert im Einzelfall zu ermitteln) einkalkuliert werden. Wer 100 Mitarbeiter entlässt, trägt also ein Prozesskostenrisiko von 200.000 Euro, selbst wenn er alle Verfahren gewinnt. Die Frage, ob und in welcher Zahl gegen Massenkündigungen geklagt wird, hängt von verschiedenen Kriterien ab. Eines der wichtigsten ist sicherlich, wie die Notwendigkeit dieser Kündigungen begründet und diese gegenüber der Belegschaft vermittelt wird.

Fazit:
Bei der Planung einer Massenentlassung ist eine Prozessvermeidungsstrategie zu entwickeln und es sind Kosten für Rechtsstreitigkeiten zurückzustellen.


Vorurteil Nr. 4:
"Ich habe keinen Betriebsrat, also kann mir nichts passieren."
Für Arbeitgeber ist der Vorteil des betriebsratslosen Betriebes im Rahmen einer Massenentlassung enorm. Ohne Betriebsrat besteht keine Pflicht zu Nachteilsausgleich, Interessenausgleich und Sozialplan. Der einzelne Arbeitnehmer hat keinen Anspruch auf Sozialplanabfindung.
Genau aus diesem Grunde sollte berücksichtigt werden, dass bei bevorstehenden Massenentlassungen ein Betriebsrat in kürzester Zeit schon durch 3 Mitarbeiter ins Leben gerufen werden kann und sich die gesamte Belegschaft als Wahlbewerber aufstellen lassen kann. Sämtliche dieser Mitarbeiter haben dann einen besonderen Kündigungsschutz.

Fazit:
Auch der betriebsratslose Betrieb muss sich mit der Möglichkeit einer Betriebsratswahl auseinanderzusetzen und dies bei der Planung seiner Maßnahme berücksichtigen.


Vorurteil Nr. 5:
"Interessenausgleich und Sozialplan sind nicht so wichtig ? erst spreche ich die Kündigungen aus und dann wird verhandelt."
In diesem Falle haben die Mitarbeiter zunächst einen Anspruch auf Nachteilsausgleich nach § 113 a BetrVG. Allerdings soll der Nachteilsausgleich Sanktionscharakter haben. Es ist umstritten, ob die Sozialplanabfindung mit dem Nachteilsausgleich verrechnet wird. Da es sich um eine Abfindung, die mit der Sozialplanabfindung verrechnet wird, handelt, vielleicht nicht der schlimmste Nachteil. Außerdem kann der Betriebsrat die Umsetzung einer Betriebsänderung dann im Wege der einstweiligen Verfügung verhindern!

Fazit:
Der Nachteilsausgleich kann nur die letzte Möglichkeit sein. Oftmals ist die hier zu zahlende Abfindung weit höher als üblich.


Vorurteil Nr. 6:
"Bloß die Einigungsstelle vermeiden!"
Die Massenentlassung ist eine der schwerwiegendsten unternehmerischen Maßnahmen, die unter vielen Gesichtspunkten zu Beteiligungsrechten des Betriebsrats führt. Insbesondere ist mit dem Betriebsrat über die Aufstellung eines Interessenausgleichs und Sozialplans zu verhandeln.

Kommt es zu keiner schnellen Einigung, ist oftmals der Gang zur Einigungsstelle sinnvoller als die Verhandlungen unnötig in die Länge zu ziehen, um vielleicht Kosten der Einigungsstelle zu sparen.
Die Kosten betragen für den Versicherten üblicherweise zwischen 2.000,- und 3.500,- €/pro Tag, wobei oftmals bei guten Verlauf ein Spruch der Einigungsstelle an einem Tag erreicht werden kann. Die beisitzenden Rechtsanwälte erhalten nach RVG 70 % des Tagessatzes des Vorsitzenden.

Fazit:
Eine schnelle Einigung vor der Einigungsstelle ist oft kosteneffizienter als lange innerbetriebliche Verhandlungen.

Tipp für die Praxis:
Massenentlassungen sind Projekte und bedürfen einer genauen Projektplanung.
Hierzu gehört zum einen die Prüfung der rechtlichen Voraussetzungen, zum anderen aber auch die Erstellung einer Strategie und eines zeitlichen Ablaufschemas. Ein solches Vorgehen ist für das Unternehmen existenziell wichtig, da Fehler oft zu Wiederholung der Maßnahme führen oder zu höheren Abfindungsansprüchen. Zudem ist eine gute Planung natürlich auch für die Arbeitnehmer wichtig, da diese bei so existenzbedrohenden Maßnahmen eine transparente und gut organisierte Umsetzung erwarten dürfen.