Fibromyalgie im Rentenverfahren: Kritische Würdigung aller Gutachten bei kontinuierlicher Gesundheitsverschlechterung

Soziales und Sozialversicherung
04.01.20143593 Mal gelesen
In Rentenverfahren kommt es entscheidend auf das gesundheitliche Restleistungsvermögen an. Der Erfolg steht und fällt deshalb in der Regel mit dem Ergebnis der medizinischen Begutachtung. Dies verlangt eine kritische und unabhängige Würdigung aller ärztlichen Feststellungen und Schlussfolgerungen.

Dass ein positives Ergebnis auch dann erzielt werden kann, wenn alle von den Gerichten bestellten Gutachter bei isolierter Betrachtung formell noch ein vollschichtiges Restleistungsvermögen von 6 Stunden feststellen, zeigt eine Entscheidung des Niedersächsischen Landessozialgerichts vom 27.08.2003 (L 1 RA 247/02):

In der Entscheidung ging es um eine 1944 geborene Klägerin, die den Beruf der Friseurin gelernt, später als Fleischereifachverkäuferin und zuletzt als Verkäuferin in einem Hofladen in reduziertem zeitlichen Umfang 5 Stunden an drei Tagen pro Woche gearbeitet hatte. Seit der Aufgabe des Geschäfts war sie arbeitslos gemeldet bzw. arbeitsunfähig krank. Es bestanden Gelenkschwellungen bei Fingerpolyarthrose, ein Raynaud-Syndrom (Gefäßerkrankung mit Gefäßkrämpfen und anfallsweisen Ischiämiezuständen namentlich der Finger), Wirbelsäulenschmerzen bei zweimaligem Bandscheibenvorfall (BSV) in 1994 und 1998, ein Schulter-Nacken-Syndrom mit Ausstrahlungsbeschwerden in das Hinterhaupt sowie Migräne- und Schwindelanfällen, Schultergelenksveränderungen sowie Kniegelenksschmerzen bei Arthrose. Daneben litt sie unter einer Osteoporose, einem inkompletten Fibromyalgiesyndrom (FMS), ständigem Schmerzmittelgebrauch sowie unter einer Harninkontinenz.

Ein erster Rentenantrag war 1996 bestandskräftig abgelehnt worden. Auch der zweiten Rentenantrag vom Oktober 1999 wurde nach Einholung eines orthopädischen Gutachtens ebenfalls abgelehnt. Laut Gutachten war sie als Fleischereiverkäuferin nur noch halb- bis untervollschichtig einsetzbar, jedoch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch für körperlich leichte bis mittelschwere Arbeiten vollschichtig leistungsfähig. Im Widerspruchsverfahren wurde ein internistisch-rheumatologisches sowie ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten eingeholt. Die Gutachter stellten übereinstimmend fest, dass die Klägerin als Fleischereiverkäuferin nur noch halb- bis untervollschichtig täglich erwerbstätig sein könne. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sei sie aber (unter Berücksichtigung qualitativer Einschränkungen) vollschichtig einsetzbar.

Im Klageverfahren wurde ein Gutachten eines Internisten und Rheumatologen erstattet. Die Untersuchung erfolgte im Juli 2001. Der Sachverständige stellte neben den bereits aktenkundigen Erkrankungen zusätzlich eine Heberden- und Bouchard-Arthrose der Hände fest und bescheinigte die zeitliche Leistungsfähigkeit mit "6 Stunden". Daraufhin wies das Sozialgericht die Klage wegen insgesamt vollschichtigen Leistungsvermögens ab.

Das Landessozialgericht holte im Berufungsverfahren ein internistisch-rheumatologisches Gutachten ein. Der Gutachter führte aus, dass die Klägerin noch leichte Arbeiten im Wechsel der drei Haltungsarten, ohne Akkord, ohne Schichtdienst, ohne Maschinen- oder Fließbandarbeiten sowie ohne Arbeiten an Automaten, die das Arbeitstempo vorgeben, verrichten könne. Überkopfarbeiten seien ausgeschlossen, ebenso besondere Handgeschicklichkeit oder besondere Feinmotorik. Zur zeitlichen Leistungsfähigkeit stellte er fest: "Auf Grund der eindeutigen Gesundheitsstörungen und den nachweisbaren Funktionseinschränkungen können leichte körperliche Tätigkeiten mit den oben genannten Charakteristika maximal 6 Stunden am Tag regelmäßig durchgeführt werden. Eine Tätigkeit, die regelmäßig über 6 Stunden am Tag hinausgeht, wird nicht möglich sein." Dieses Leistungsvermögen bestehe seit der Rentenantragstellung im Oktober 1999. Eine Besserung des Erkrankungsbildes sei nicht zu erreichen.

Zeitliche Leistungsfähigkeit einschränkt?

Formell war die Klägerin nach den Feststellungen des Sachverständigen weiterhin vollschichtig leistungsfähig und der Rentenanspruch eigentlich nicht begründet.

Kritische Würdigung

Das Landessozialgericht setzte sich mit den Begutachtungsergebnissen jedoch intensiv auseinander und stellte letztlich fest, dass die Leistungsfähigkeit unter die zeitliche Leistungsgrenze der teilweisen Erwerbsminderung herabgesunken sei. Die Gutachter hätten zwar einerseits ein Restleistungsvermögen von 6 Stunden festgestellt, zugleich jedoch darauf hingewiesen, dass die vielfältigen Erkrankungen sich laufend verschlechtert hätten. Außerdem seien weitere Erkrankungen hinzugetreten. Dies alles müsse aufgrund einer sozialmedizinisch gebotenen Gesamtbetrachtung der Polymorbidität der Klägerin bewertet werden.

Während der erstinstanzliche Gutachter im Juli 2001 zu der im Vordergrund stehenden internistisch-rheumatologischen Fingerpolyarthrose noch lediglich eine schlichte Heberden- und Bouchardarthrose (mit messbaren Verlusten der groben Kraft) hatte feststellen können, musste etwa 2 Jahre später (Untersuchung im April 2003) der vom LSG beauftragte Gutachter bereits eine ausgeprägte Heberden- und Bouchardarthrose aller Finger, eine Rhizarthrose bds., eine Dupuytrensche Kontraktur des vierten Fingers links, eine Flexionsstellung des dritten Fingers links sowie eine Kraftminderung befunden. Diese weiteren Einschränkungen betreffen die im Erwerbsleben zentralen Arbeitswerkzeuge der Hände. Wesentliche Verschlechterungen hätten sich zudem in orthopädischer Hinsicht ergeben und zwar im gesamten Wirbelsäulenbereich. So hat nicht nur die Beweglichkeit der LWS weiter abgenommen, vielmehr sei auch eine signifikante Bewegungseinschränkung der HWS befundet worden, und zwar in Begleitung einer atrophierten HWS-Muskulatur, die besondere Einschränkungen bei notwendiger Kopfbeweglichkeit notwendig macht. Neurologisch musste im Wirbelsäulenbereich im Oktober 2002 eine wahrscheinliche Nervenwurzelirritation bei L5/S1 neu diagnostiziert werden. Und schließlich wurde ebenfalls im orthopädischen Bereich und ebenfalls erstmals im Gutachten aus dem Jahre 2003 ein schmerzhaftes Abrollen der Zehen und des Fersenganges befundet.

Diese Verschlechterungen und neuen Erkrankungen seien zu dem bis dahin bereits in allen vorliegenden Gutachten befundeten und festgestellten polymorbiden Erkrankungsbild der Klägerin hinzugetreten, Dieses habe sich weiter progredient entwickelt. Überlagernd über alle Erkrankungen hätte sich ein inkomplettes Fibromyalgiesyndrom (FMS) sowie ein chronisches Rückenschmerzsyndrom entwickelt. Die Schmerzen hätten bei der Klägerin zu einem ständigen Schmerzmittelgebrauch geführt. Alle Sachverständigen und behandelnden Ärzte hätten übereinstimmend darauf hingewiesen, dass eine Besserung therapeutisch nicht erreichbar sei. Mit der Feststellung, dass die Klägerin "maximal 6 Stunden, nicht aber mehr" arbeiten könne, habe der Sachverständige zum Ausdruck gebracht, dass er den Schwerpunkt der Leistungsfähigkeit der Klägerin im Bereich unter 6-stündiger Arbeitszeit sieht. Bei dieser Sachlage sei das LSG davon überzeugt, dass die Klägerin bei einer Gesamtbetrachtung aller bestehenden Erkrankungen und Behinderungen nicht mehr in der Lage sei, regelmäßig und täglich einen Arbeitstag von mindestens 6 Stunden ohne Schaden für ihre Gesundheit und ohne unzumutbare Schmerzen zu bewältigen.

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