Unter welchen Voraussetzungen darf ein Apotheker ein verschreibungspflichtiges Medikament ohne Rezept an den Patienten aushändigen?

Gesundheit Arzthaftung
22.07.20151310 Mal gelesen
Ein Apotheker händigte einer Patientin ein verschreibungspflichtiges Medikament aus, für das die Patientin kein Rezept vorweisen konnte. Die Patientin verwies darauf, dass die Anwendung des Medikamentes keinen Aufschub duldete.

Nach § 48 Abs. 1 Nr. 1 AMG dürfen Arzneimittel, die durch Rechtsverordnung nach Absatz 2 bestimmte Stoffe, Zubereitungen aus Stoffen oder Gegenstände sind oder denen solche Stoffe oder Zubereitungen aus Stoffen zugesetzt sind, nur bei Vorliegen einer ärztlichen, zahnärztlichen oder tierärztlichen Verschreibung an Verbraucher abgegeben werden. Auf der Grundlage des § 48 Abs. 2 AMG ist die Verordnung über die Verschreibungspflicht von Arzneimitteln vom 21. Dezember 2005 ergangen. Nach § 1 AMVV dürfen Arzneimittel, die die Voraussetzungen dieser Vorschrift erfüllen, nur bei Vorliegen einer ärztlichen, zahnärztlichen oder tierärztlichen Verschreibung abgegeben werden, wenn in der Arzneimittelverschreibungsverordnung nichts anderes bestimmt ist.
Die Voraussetzungen eines Ausnahmetatbestands nach der arzneimittelverschreibungsverordnung sind ferner in Betracht zu ziehen. In Betracht kommt allein § 4 Abs. 1 AMVV.
aa) Nach § 4 Abs. 1 AMVV kann die verschreibende Person den Apotheker in geeigneter Weise, insbesondere fernmündlich, über die Verschreibung und deren Inhalt unterrichten, wenn die Anwendung eines verschreibungspflichtigen Arzneimittels keinen Aufschub erlaubt. Der Apotheker hat sich über die Identität der verschreibenden Person Gewissheit zu verschaffen. Die verschreibende Person hat dem Apotheker die Verschreibung in schriftlicher oder elektronischer Form unverzüglich nachzureichen.
bb) § 4 Abs. 1 AMVV setzt eine eigene Therapieentscheidung des behandelnden Arztes auf der Grundlage einer vorherigen, regelgerechten eigenen Diagnose voraus, die der Verschreibung vorausgeht. Die Bestimmung des § 4 Abs. 1 AMVV sieht keinen Verzicht auf die ärztliche Verschreibung vor. Vielmehr gestattet sie lediglich, dass der Apotheker über die bereits erfolgte Verschreibung in geeigneter Weise, insbesondere fernmündlich, unterrichtet werden kann. Dabei ist es nach dem vom Gesetz vorausgesetzten Regelfall der Arzt, der von sich aus den Apotheker unterrichtet. Allerdings wird es zu Recht als ausreichend angesehen, wenn der Apotheker den behandelnden Arzt anruft, um festzustellen, ob eine entsprechende Verschreibung. Demgegenüber fehlt es an der erforderlichen Therapieentscheidung des Arztes, wenn ein Apotheker einen Arzt, der den Patienten nicht kennt und deshalb zuvor nicht untersucht hat und nicht behandelnder Arzt des Patienten ist, um Zustimmung zur Abgabe eines Medikaments bittet. § 4 Abs. 1 AMVV lässt es nicht zu, dass der Apotheker einen Arzt erst zu einer Verschreibung für einen ihm unbekannten Patienten veranlasst.
b) Die Abgabe des verschreibungspflichtigen Medikaments durch den Apotheker ohne Rezept kann in engen Grenzen unter dem Aspekt eines rechtfertigenden Notstands analog § 34 StGB gerechtfertigt sein.
aa) Falls auf andere Art und Weise eine erhebliche, akute Gesundheitsgefährdung des Patienten nicht abzuwenden ist, kann die Abgabe eines verschreibungspflichtigen Medikaments durch den Apotheker in engen Grenzen im Einzelfall analog § 34 StGB in Betracht kommen, obwohl ihm weder ein Rezept vorgelegt wird noch die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 AMVV erfüllt sind. Um festzustellen, ob ein solcher Sachverhalt vorliegt, kann der Apotheker Auskünfte anderer Ärzte einholen, wenn der den Patienten behandelnde Arzt nicht erreicht werden kann.
bb) Die Anforderungen an eine derartige Situation sind wie folgt.
Der Apotheker muss darlegen können, dass die Anwendung des verschreibungspflichtigen Arzneimittels wegen des Gesundheitszustands des Patienten keinen Aufschub mehr erlaubt hätte. Eine ärztliche Kontrolle und eine darauf aufbauende Verschreibung durch den ärztlichen Notdienst kann nicht abgewartet werden. Darzulegen ist eine zeitnahe, unmittelbar bevorstehende gesundheitliche Gefährdung des Patienten, etwa wenn der Patient bereits erste Ausfallerscheinungen zeigt.

Die Anwendung eines Arzneimittels erlaubt nicht schon dann zur Abwendung einer erheblichen, akuten Gesundheitsgefährdung keinen Aufschub, wenn einem Patienten die verordnete regelmäßige Einnahme eines Medikaments nicht möglich ist, falls ihm das Medikament nicht unverzüglich ausgehändigt wird. Die Frage, ob die Anwendung des Arzneimittels keinen Aufschub erlaubt, hängt auch im Fall der Unterbrechung einer regelmäßigen Einnahme davon ab, wann diese Unterbrechung für den Patienten ernsthafte Konsequenzen haben kann.