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Bundesverwaltungsgericht
Beschl. v. 01.03.2016, Az.: BVerwG 1 B 30.16
Bezeichnung einer fallübergreifenden Klärung zugänglichen Frage der einzelfallbezogenen Rechtsanwendung; Verfahrensrüge betreffend die Tatsachen- und Beweiswürdigung des Oberverwaltungsgerichts (OVG) zur Gefahrenprognose
Gericht: BVerwG
Entscheidungsform: Beschluss
Datum: 01.03.2016
Referenz: JurionRS 2016, 12734
Aktenzeichen: BVerwG 1 B 30.16
ECLI: ECLI:DE:BVerwG:2016:010316B1B30.16.0

Verfahrensgang:

vorgehend:

OVG Bremen - 10.11.2015 - AZ: 1 LB 10/15

BVerwG, 01.03.2016 - BVerwG 1 B 30.16

Redaktioneller Leitsatz:

Die Tatsachengerichte bewegen sich bei der Gefahrenprognose im Fall der Ausweisung eines strafgerichtlich verurteilten Ausländers regelmäßig in Lebens- und Erkenntnisbereichen, die dem Richter allgemein zugänglich sind; es bedarf der Hinzuziehung eines Sachverständigen nur ausnahmsweise, wenn die Prognose aufgrund besonderer Umstände - etwa bei der Beurteilung psychischer Erkrankungen - nicht ohne spezielle, dem Gericht nicht zur Verfügung stehende fachliche Kenntnisse erstellt werden kann.

In der Verwaltungsstreitsache
hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 1. März 2016
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und Prof. Dr. Kraft
beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen vom 10. November 2015 wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 5 000 € festgesetzt.

Gründe

1

Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision hat keinen Erfolg. Soweit Zulassungsgründe hinreichend dargelegt sein sollten, liegen sie jedenfalls in der Sache nicht vor.

2

1. Der geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) liegt nicht vor.

3

1.1 Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, wenn sie eine abstrakte, in dem zu entscheidenden Fall erhebliche Frage des revisiblen Rechts mit einer über den Einzelfall hinausgehenden allgemeinen Bedeutung aufwirft, die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder im Interesse der Rechtsfortbildung in einem Revisionsverfahren geklärt werden muss. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt, wenn sich die aufgeworfene Frage im Revisionsverfahren nicht stellen würde, wenn sie bereits geklärt ist bzw. aufgrund des Gesetzeswortlauts mit Hilfe der üblichen Auslegung und auf der Grundlage der einschlägigen Rechtsprechung ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens beantwortet werden kann oder wenn sie einer abstrakten Klärung nicht zugänglich ist (BVerwG, Beschlüsse vom 1. April 2014 - 1 B 1.14 - Rn. 2 und vom 10. März 2015 - 1 B 7.15 - ).

4

1.2 Es kann offenbleiben, ob das Beschwerdevorbringen zur Grundsatzrüge den Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügt. Die Frage jedenfalls,

ob "hinsichtlich der Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG i.V.m. § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG eine Ermessensreduzierung auf Null (analog § 5 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 2 und 3 AufenthG) gegeben sein kann, wenn der Familiennachzug zu deutschen Staatsangehörigen beabsichtigt ist und für die Fälle positiv gegeben ist, in denen der Ausländer Straftaten (einen Ausweisungsanlass) aus dem Bereich der leichten bis mittleren Kriminalität verwirklicht hat",

bezeichnet eine fallübergreifender Klärung nicht zugängliche Frage der einzelfallbezogenen Rechtsanwendung; für die in der Fragestellung als möglich vorausgesetzte Analogie zu § 28 Abs. 1 Satz 2 und 3 AufenthG fehlt zudem schon nach dem Wortlaut des § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG jeder Anhaltspunkt.

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2. Die von der Beschwerde geltend gemachten Verfahrensfehler (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) führen ebenfalls nicht zur Zulassung der Revision.

6

2.1 Soweit die Beschwerde geltend macht, es liege ein Verfahrensmangel vor, weil das Berufungsgericht ohne die Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens zur Frage der GefährlichkeitsprognoseIWiederholungsgefahr - und damit über eine entscheidungserhebliche Tatsachenfrage - ohne hinreichende eigene Sachkunde entschieden habe, ist schon unklar, welcher Verfahrensfehler gerügt werden soll. Das Berufungsgericht hat jedenfalls hierdurch weder seine ihm nach § 86 VwGO obliegende Aufklärungspflicht noch das rechtliche Gehör noch sonstige Verfahrensrechte des Klägers verletzt.

7

Das Berufungsgericht ist im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (aus neuerer Zeit s. BVerwG, Beschluss vom 11. September 2015 - 1 B 39.15 - InfAuslR 2016, 1 Rn. 12) nicht der Anregung des Klägers in der mündlichen Verhandlung gefolgt, Sachverständigenbeweis zu der Frage zu erheben, "ob bei dem Kläger eine Abhängigkeitserkrankung, die ggf. welcher therapeutischer Intervention bedarf, oder aber ein 'nur' schädlicher Gebrauch, der ggf. mit welcher therapeutischer Intervention zu behandeln gewesen wäre, bzw. ist, vorliegt" (Beschwerdeschrift), bzw. "zur Frage der vom Kläger ausgehenden Wiederholungsgefahr" (Niederschrift der Sitzung vom 10. November 2015). Hiernach bewegen sich die Tatsachengerichte bei der Gefahrenprognose im Fall der Ausweisung eines strafgerichtlich verurteilten Ausländers regelmäßig in Lebens- und Erkenntnisbereichen, die dem Richter allgemein zugänglich sind; es bedarf der Hinzuziehung eines Sachverständigen nur ausnahmsweise, wenn die Prognose aufgrund besonderer Umstände - etwa bei der Beurteilung psychischer Erkrankungen - nicht ohne spezielle, dem Gericht nicht zur Verfügung stehende fachliche Kenntnisse erstellt werden kann. Solche besonderen Umstände hat die Beschwerde - zumal in Ansehung des von dem Berufungsgericht mitgeteilten Berufungsvorbringens sowie der Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung - nicht dargelegt.

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2.2 Das Beschwerdevorbringen ergibt auch insoweit keine Verletzung der dem Gericht nach § 86 VwGO obliegenden Aufklärungspflicht und weist auch nicht eine im Sinne des § 138 Nr. 6 VwGO unzureichende Begründung, als geltend gemacht wird, das Berufungsgericht habe in dem Urteil nichts dazu ausgeführt, welche konkrete bedeutsame Gefahr für ein wichtiges Schutzgut von dem Kläger noch ausgehe und welche erneuten Verfehlungen (z.B. Sachbeschädigung, Betäubungsmittelbesitz) ernsthaft drohten; das Berufungsgericht habe daher verkannt, dass er - der Kläger - bis dato lediglich Straftaten aus dem leichten bis mittleren Deliktsbereich verwirklicht hatte und diese zudem "über die Jahre" eine "abnehmende Tendenz" aufwiesen (so habe er Körperverletzungsdelikte nach der Verurteilung aus 2008 nicht mehr begangen).

9

a) Mit dieser Verfahrensrüge wendet sich die Beschwerde der Sache nach gegen die Tatsachen- und Beweiswürdigung des Oberverwaltungsgerichts zur Gefahrenprognose. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sind die Grundsätze der Beweiswürdigung revisionsrechtlich indes regelmäßig nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem sachlichen Recht zuzuordnen. Ein Verfahrensfehler kann ausnahmsweise dann gegeben sein, wenn die Beweiswürdigung objektiv willkürlich ist, gegen die Denkgesetze verstößt oder einen allgemeinen Erfahrungssatz missachtet. Ein Verfahrensmangel bei der Beweiswürdigung liegt aber nur dann vor, wenn sich der gerügte Fehler hinreichend eindeutig von der materiellrechtlichen Subsumtion, d.h. der korrekten Anwendung des sachlichen Rechts, abgrenzen lässt und der Tatrichter den ihm bei der Tatsachenfeststellung durch den Grundsatz freier Beweiswürdigung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO eröffneten Wertungsrahmen verlassen hat (vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. März 2012 - 10 B 2.12 - m.w.N.).

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Mit ihrer Bewertung, "nach einer anzustellenden Prognose ergibt sich damit eine abstrakt drohende Gefahr für Straftaten der leichten Kriminalität", stellt die Beschwerde lediglich der vom Berufungsgericht aus dem Gesamtinhalt der beigezogenen Behördenakten, insbesondere aus den beigezogenen Strafurteilen, sowie nach dem persönlichen Eindruck, den der Kläger in der mündlichen Verhandlung gemacht hat, gewonnenen Überzeugung, dass ein im Sinne des § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG (i.d.F. der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 <BGBl. I S. 162>) schwerwiegender Ausweisungsgrund vorliege, mithin nicht aus Gründen der Verhältnismäßigkeit eine Atypik im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG anzunehmen sei, ihre eigene Auffassung entgegen, ohne einen solchen qualifizierten Mangel der Beweiswürdigung aufzuzeigen. Das Berufungsurteil lässt mit den Hinweisen auf die nach eigenen Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung bis zu seiner Inhaftierung bestehende Spielsucht sowie eine eventuell bestehende Suchtmittelabhängigkeit (Betäubungsmittelkonsum auch in der Haft) und den Umstand, dass es ihm in der Vergangenheit nicht gelungen sei, wirtschaftlich Fuß zu fassen, überdies hinreichend die Deliktsbereiche erkennen, in Bezug auf die erneute Verfehlungen ernsthaft drohten.

11

b) Dass die Entscheidungsgründe keine Kenntnis darüber vermittelten, welche tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte für die Entscheidung maßgebend waren und den Beteiligten und dem Rechtsmittelgericht deshalb die Möglichkeit entzogen sei, die Entscheidung zu überprüfen, weil sie vollständig oder zu wesentlichen Teilen des Streitgegenstands fehlten oder sich als derart verworren oder unverständlich darstellten, dass sie unbrauchbar seien (stRspr, vgl. zu diesen Anforderungen an die Rüge einer Verletzung des § 138 Nr. 6 VwGO etwa BVerwG, Beschluss vom 25. September 2013 - 1 B 8.13 - ), lässt sich dem Beschwerdevorbringen nicht einmal im Ansatz entnehmen (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO) und ist auch in der Sache nicht der Fall.

12

3. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO).

13

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts ergibt sich aus § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG.

Prof. Dr. Berlit

Prof. Dr. Dörig

Prof. Dr. Kraft

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