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Bundesverwaltungsgericht
Beschl. v. 15.02.2012, Az.: BVerwG 2 B 137.11
Anforderungen an die Zurückverweisung einer Nichtzulassungsbeschwerde an das Oberverwaltungsgericht zur Klärung der Prozessunfähigkeit eines anwaltlich nicht vertretenen Klägers
Gericht: BVerwG
Entscheidungsform: Beschluss
Datum: 15.02.2012
Referenz: JurionRS 2012, 11478
Aktenzeichen: BVerwG 2 B 137.11
ECLI: [keine Angabe]

Verfahrensgang:

vorgehend:

OVG Nordrhein-Westfalen - 31.08.2011 - AZ: OVG 3d A 2775/10.O

Rechtsgrundlage:

§ 86 VwGO

BVerwG, 15.02.2012 - BVerwG 2 B 137.11

In der Verwaltungsstreitsache
hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 15. Februar 2012
durch
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Heitz, Dr. Maidowski
und Dr. Hartung
beschlossen:

Tenor:

Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 31. August 2011 wird aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Gründe

1

Die Beschwerde des Beklagten hat mit der Maßgabe Erfolg, dass der Rechtsstreit gemäß § 133 Abs. 6 VwGO zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen ist. Die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO liegen vor, weil das Berufungsgericht die Prozessfähigkeit des Beklagten nicht geprüft hat und die Entscheidung auf dem geltend gemachten Verfahrensmangel beruhen kann.

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Der Beklagte war als Rechtspfleger tätig. In der Zeit vom 27. März bis zum 26. August 2008 war er dienstunfähig erkrankt; für diesen Zeitraum legte er Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen u.a. eines Arztes für Psychiatrie und Psychotherapie vor. Eine amtsärztliche Untersuchung seiner Dienstfähigkeit am 3. September 2008 führte zu dem Ergebnis, dass eine fachpsychiatrische Untersuchung nötig sei; die dafür angesetzten Termine nahm der Beklagte nicht wahr. Der Kläger leitete wegen unentschuldigten Fernbleibens vom Dienst seit dem 27. August 2008 ein Disziplinarverfahren ein und erhob Disziplinarklage mit dem Ziel, den Beklagten aus dem Dienst zu entfernen. Dieser äußerte sich weder im behördlichen noch im erstinstanzlichen gerichtlichen Verfahren.

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Das Verwaltungsgericht hat den anwaltlich nicht vertretenen Beklagten durch Urteil vom 27. Oktober 2010 aus dem Dienst entfernt, nachdem dieser vor der mündlichen Verhandlung mitgeteilt hatte, er sei krankheitsbedingt nicht in der Lage zu erscheinen. Im Berufungsverfahren hat der Beklagte durch seinen Prozessbevollmächtigten vorgetragen, er sei wegen einer psychischen Krankheit nicht imstande gewesen, im Disziplinarverfahren und vor dem Verwaltungsgericht Stellung zu nehmen oder auch nur das Haus zu verlassen. Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung wegen Versäumnis der Berufungs- und der Berufungsbegründungsfrist durch Beschluss verworfen.

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1. Die Grundsatz- und die Divergenzrüge bleiben erfolglos.

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Die vom Beklagten aufgeworfene Frage,

ob die Formulierung "Die Begründung erfolgt in einem gesonderten Schriftsatz" in einem Schriftsatz, der am letzten Tag der Frist zur Begründung der Berufung verfasst worden ist, konkludent einen Antrag auf Verlängerung der Begründungsfrist enthält,

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lässt sich, soweit sie einer abstrakten Beantwortung zugänglich ist, ohne Weite res mit Hilfe der üblichen Auslegungsregeln im verneinenden Sinn beantworten. An einen Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist sind keine allzu hohen Anforderungen zu stellen, um die Möglichkeit effektiven Rechtsschutzes nicht in unverhältnismäßiger Weise zu erschweren. Der Verfahrensbeteiligte muss dem Gericht jedoch schriftlich und unmissverständlich deutlich machen, dass er die Prüfung eines konkreten Begehrens und eine Entscheidung über die Fristverlängerung verlangt (BVerfG, Kammerbeschluss vom 14. März 1994 - 1 BvR 1510/93 - NVwZ 1994, 781). Demgegenüber beschränkt sich der Bedeutungsgehalt der vom Prozessbevollmächtigten des Beklagten verwendeten Formulierung darauf mitzuteilen, dass das eingelegte Rechtsmittel noch begründet werden soll und dass das Gericht deshalb den Eingang der angekündigten Begründung abwarten möge. Dem natürlichen Wortsinn der Formulierung ist die Bedeutung, die die Beschwerde ihr beilegt, nicht zu entnehmen.

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Eine Zulassung der Revision kommt auch nicht wegen Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) in Betracht. Eine Divergenz des Berufungsurteils zu der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. Januar 2008 - BVerwG 6 B 51.07 - (Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 261) liegt nicht vor. Die Beschwerde entnimmt dieser Entscheidung zutreffend den Rechtssatz, dass die Sorgfaltspflicht des Rechtsanwalts hinsichtlich der Organisation von Arbeitsabläufen in seiner Kanzlei dann erfüllt ist, wenn sichergestellt wird, dass verwendete Faxnummern aus einer zuverlässigen Quelle stammen. Das Berufungsgericht hat keinen hiervon abweichenden Rechtssatz aufgestellt. Die Frage, ob ein Softwareprogramm als hinreichend zuverlässige Quelle anzusehen ist, kann in diesem Zusammenhang offen bleiben. Denn das Berufungsgericht hat festgestellt, dass die Rechtsmittelschrift nachträglich per Hand geändert worden ist, sodass die auf dem Schriftsatz verbliebene Faxnummer des Oberverwaltungsgerichts gerade nicht durch das Softwareprogramm als die zum ausgewählten Gericht passende Nummer in den Text eingefügt worden ist. Das Oberverwaltungsgericht hat daraus ohne Abweichung von der in Bezug genommenen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts den Schluss gezogen, das Organisationsverschulden des Prozessbevollmächtigten habe darin bestanden, eine Plausibilitätskontrolle der auf dem Schriftsatz befindlichen Faxnummer nicht vorzusehen.

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2. Die Nichtzulassungsbeschwerde führt jedoch zur Zurückverweisung der Sache an das Oberverwaltungsgericht. Unter der unrichtigen Bezeichnung als Divergenzrüge, aber sachlich zutreffend rügt der Beklagte, das Oberverwaltungsgericht habe unter Verstoß gegen § 86 VwGO (vgl. Beschluss vom 9. Juli 1992 - BVerwG 2 B 52.92 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 244) versäumt, der Frage nachzugehen, ob er im Zeitpunkt der Zustellung des verwaltungsgerichtlichen Urteils prozessunfähig war. Damit ist ein Verfahrensfehler im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO geltend gemacht (Beschlüsse vom 20. Oktober 2011 - BVerwG 2 B 86.11 - [...] und vom 4. September 2008 - BVerwG 2 B 61.07 -Buchholz 235.1 § 58 BDG Nr. 4). Das Oberverwaltungsgericht hätte die Berufung des Beklagten im Falle seiner Prozessunfähigkeit nicht als unzulässig verwerfen dürfen, weil die Zustellung des erstinstanzlichen Urteils an den Beklagten dann nach § 56 Abs. 1 und 2 VwGO, § 170 Abs. 1 Satz 1 und 2 ZPO unwirksam gewesen wäre und die Berufungsfrist nicht in Lauf gesetzt hätte.

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Sowohl im behördlichen als auch im gerichtlichen Disziplinarverfahren muss von Amts wegen geklärt werden, ob ein Verfahrensbeteiligter verfahrens- bzw. prozessfähig ist, wenn hinreichende Anhaltspunkte vernünftigerweise zu Zweifeln Anlass geben. Prozessunfähig und damit vertretungsbedürftig ist, wer geschäftsunfähig ist. Dies ist bei einem Volljährigen der Fall, wenn er sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, sofern nicht dieser Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist (§ 62 Abs. 1 Nr. 1 VwGO; § 104 Nr. 2 BGB, vgl. Urteil vom 17. Dezember 2009 - BVerwG 2 A 2.08 - Buchholz 235.1 § 71 BDG Nr. 1 Rn. 24 ff.).

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Danach ist das Oberverwaltungsgericht verpflichtet gewesen, die Prozessfähigkeit des Beklagten zu prüfen. Der Prozessbevollmächtigte hat vorgetragen, dass der Beklagte unter starken Depressionen gelitten habe, die sich aus einer Situation der beruflichen wie privaten Überforderung entwickelt und dazu geführt hätten, dass er nicht mehr imstande gewesen sei, sich mit dienstlichen Vorgängen auseinanderzusetzen. Über lange Zeiträume hinweg sei er sogar außerstande gewesen, das Haus zu verlassen. Weiteres Indiz für eine Prozessunfähigkeit sei es, dass er eher die Gefährdung seiner wirtschaftlichen Existenz hingenommen und alle von ihm verlangten Zahlungen geleistet habe - etwa die zurückgeforderte Besoldung in Höhe von etwa 12 000 EUR - als sein Verfahren gegenüber dem Dienstherrn oder vor Gericht zu betreiben.

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Dies sowie der Umstand, dass der Beklagte schon die entschuldigten Fehlzeiten mit Attesten eines Facharztes für Psychiatrie belegt hatte und zur mündlichen Verhandlung in erster Instanz nicht erschienen war, begründeten die Erforderlichkeit näherer Sachaufklärung, deren Unterlassen im vorliegenden Fall einen Verstoß gegen § 86 VwGO darstellt (Beschluss vom 9. Juli 1992 a.a.O.). Ohne Erkenntnisse darüber, ob der krankhafte Zustand des Beklagten so weit ging, seine Prozessfähigkeit auszuschließen, konnte das Oberverwaltungsgericht nicht davon ausgehen, dass das Urteil des Verwaltungsgerichts wirksam zugestellt worden war. Es durfte infolgedessen auch nicht ohne Weiteres annehmen, dass eine Berufungs- und Berufungsbegründungsfrist wirksam in Lauf gesetzt worden ist, sodass möglicherweise weder das am 14. Dezember 2010 eingelegte und als Berufung zu verstehende Rechtsmittel noch die Berufungsbegründung als verspätet hätte behandelt werden dürfen. Wäre der Beklagte prozessunfähig gewesen, wäre nämlich eine wirksame Zustellung des verwaltungsgerichtlichen Urteils an ihn nicht möglich gewesen, da ein Prozesspfleger hätte bestellt werden müssen.

12

Das Oberverwaltungsgericht wird zu prüfen haben, ob und ggf. seit wann der Beklagte prozessunfähig war (vgl. Urteil vom 24. September 2009 - BVerwG 2 C 80.08 - BVerwGE 135, 24). Sollte es zu dem Ergebnis kommen, dass er zum Zeitpunkt der Zustellung des erstinstanzlichen Urteils prozessunfähig war und die Berufung daher nicht als unzulässig verworfen werden konnte, wird es zu bedenken haben, dass der Tatbestand des unentschuldigten Fernbleibens vom Dienst die Dienstfähigkeit des Beamten voraussetzt (Urteil vom 11. Oktober 2006 - BVerwG 1 D 10.05 - Buchholz 232 § 73 BBG Nr. 30 Rn. 34; Beschluss vom 23. März 2006 - BVerwG 2 A 12.04 - Buchholz 232 § 73 BBG Nr. 29). Es wird also ggf. aufzuklären haben, ob der Beklagte bereits in der Zeit seit dem 27. August 2008 dienstunfähig war. Ergebnisse der am 3. September 2008 durchgeführten amtsärztlichen Untersuchung haben keinen Eingang in die Akten gefunden, doch ergibt sich aus der Anordnung zusätzlicher fachpsychiatrischer Begutachtung, dass zumindest Zweifel an der Dienstfähigkeit des Beklagten bestanden. Diesen muss nachgegangen werden; auch hat der Beklagte im Berufungsverfahren vorgetragen, die Amtsärztin habe ihm mündlich erklärt, dass sie ihn für dienstunfähig halte. Angesichts dieser Umstände des Einzelfalles verbietet es sich insbesondere, aus dem Fehlen weiterer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen abzuleiten, dass der Beklagte dienstfähig war. Zu prüfen wird ggf. vielmehr sein, ob der Kläger möglicherweise verpflichtet war, ein Zurruhesetzungsverfahren einzuleiten statt auf die Nichtvorlage von Arbeitsunfähigkeitsattesten durch Einleitung eines Disziplinarverfahrens zu reagieren. Sollte eine Dienstunfähigkeit anzunehmen oder - bei inzwischen unzureichenden Aufklärungsmöglichkeiten - zu Gunsten des Beklagten nicht auszuschließen sein, stünde möglicherweise nur noch der weitere - die disziplinarische Höchstmaßnahme nicht rechtfertigende - Vorwurf im Raum, Dienstschlüssel nicht abgegeben zu haben. Schließlich ist eine den Erfordernissen des § 13 LDG NRW genügende Auseinandersetzung mit möglichen Milderungsgründen bisher nicht erfolgt.

Dr. Heitz

Dr. Maidowski

Dr. Hartung

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