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Bundesverfassungsgericht
Urt. v. 06.12.2016, Az.: 1 BvR 1456/12
Einklang des dreizehnten Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes mit dem Ziel der Beschleunigung des Atomausstiegs mit dem Grundgesetz; Ausnahmsweise Berechtigung einer erwerbswirtschaftlich tätigen inländischen juristischen Person des Privatrechts zur Erhebung einer Verfassungsbeschwerde; Eigentumsschutz der den Kernkraftwerken durch Gesetz zugewiesenen Elektrizitätsmengen; Entzug des Eigentums durch Änderung der Eigentumszuordnung als Voraussetzung für eine Enteignung
Gericht: BVerfG
Entscheidungsform: Urteil
Datum: 06.12.2016
Referenz: JurionRS 2016, 30796
Aktenzeichen: 1 BvR 1456/12
ECLI: [keine Angabe]

Fundstelle:

ZAP EN-Nr. 23/2017

Hinweis:

Verbundenes Verfahren

Volltext siehe unter:
BVerfG - 06.12.2016 - AZ: 1 BvR 2821/11

Weitere Verbundverfahren:
BVerfG - 06.12.2016 - AZ: 1 BvR 321/12

BVerfG, 06.12.2016 - 1 BvR 1456/12

Amtlicher Leitsatz:

  1. 1.

    Das Dreizehnte Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes mit dem Ziel der Beschleunigung des Atomausstiegs steht weitgehend im Einklang mit dem Grundgesetz.

  2. 2.

    Eine erwerbswirtschaftlich tätige inländische juristische Person des Privatrechts, die vollständig von einem Mitgliedstaat der Europäischen Union getragen wird, kann sich wegen der Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes in Ausnahmefällen auf die Eigentumsfreiheit berufen und Verfassungsbeschwerde erheben.

  3. 3.
    1. a)

      Die den Kernkraftwerken 2002 und 2010 durch Gesetz zugewiesenen Elektrizitätsmengen bilden keinen selbständigen Gegenstand des Eigentumsschutzes, haben aber als maßgebliche Nutzungsgrößen teil am Eigentumsschutz der Anlagen.

    2. b)

      An öffentlich-rechtlichen Genehmigungen besteht grundsätzlich kein Eigentum.

  4. 4.

    Eine Enteignung nach Art. 14 Abs. 3 GG setzt den Entzug des Eigentums durch Änderung der Eigentumszuordnung und stets auch eine Güterbeschaffung voraus. Die Regelungen zur Beschleunigung des Atomausstiegs durch das Dreizehnte Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes vom 31. Juli 2011 begründen danach keine Enteignung.

  5. 5.

    Führen Einschränkungen der Nutzungs- und Verfügungsbefugnis am Eigentum als Inhalts- und Schrankenbestimmungen im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG zu einem Entzug konkreter Eigentumspositionen, ohne der Güterbeschaffung zu dienen, sind gesteigerte Anforderungen an deren Verhältnismäßigkeit zu stellen. Sie werfen stets die Frage nach Ausgleichsregelungen auf.

  6. 6.

    Die entschädigungslose Rücknahme der Ende 2010 durch Gesetz erfolgten Verlängerung der Laufzeit der Kernkraftwerke um durchschnittlich 12 Jahre durch das angegriffene Dreizehnte Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes ist angesichts des mehrfach eingeschränkten Vertrauens in den Erhalt der Zusatzstrommengen verfassungsgemäß. Der Gesetzgeber durfte auch ohne neue Gefährdungserkenntnisse den Reaktorunfall in Fukushima als Anlass nehmen, zum Schutze der Gesundheit der Bevölkerung und der Umwelt den Ausstieg aus der Kernenergie zu beschleunigen.

  7. 7.

    Das Dreizehnte Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes enthält angesichts der gesetzlich festgelegten Restlaufzeiten der Anlagen und wegen des in diesem Fall besonders verbürgten Vertrauensschutzes eine unzumutbare Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums, soweit es dazu führt, dass zwei der Beschwerdeführerinnen substantielle Teile ihrer Reststrommengen von 2002 nicht konzernintern nutzen können.

  8. 8.

    Art. 14 Abs. 1 GG schützt unter bestimmten Voraussetzungen berechtigtes Vertrauen in den Bestand der Rechtslage als Grundlage von Investitionen in das Eigentum und seine Nutzbarkeit.

In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerden
I. der E.ON Kernkraft GmbH,
vertreten durch die Geschäftsführung,
Tresckowstraße 5, 30457 Hannover,
- Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Gleiss Lutz,
Friedrichstraße 71, 10117 Berlin -
gegen Artikel 1 Nummer 1 Buchstabe a, b und c und Artikel 1 Nummer 3 des Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes vom 31. Juli 2011 (BGBl I S. 1704)
- 1 BvR 2821/11 -,
II. der RWE Power AG,
vertreten durch die Vorstandsmitglieder Matthias Hartung,
Dr. Frank Weigand, Dr. Lars Kulik, Roger Miesen, Erwin Winkel,
Huyssenallee 2, 45128 Essen,
- Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Freshfields Bruckhaus Deringer,
Potsdamer Platz 1, 10785 Berlin -
gegen das Dreizehnte Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes vom 31. Juli 2011 (BGBl I S. 1704)
- 1 BvR 321/12
III. 1. der Kernkraftwerk Krümmel GmbH & Co. oHG,
vertreten durch die geschäftsführende Gesellschafterin die Vattenfall Europe Nuclear Energy GmbH, diese vertreten durch die Geschäftsführer Dr. Axel Cunow, Dr. Ingo Neuhaus, Pieter Wasmuth, Überseering 12, 22297 Hamburg,
2. der Vattenfall Europe Nuclear Energy GmbH,
vertreten durch die Geschäftsführer Dr. Axel Cunow, Dr. Ingo Neuhaus, Pieter Wasmuth, Überseering 12, 22297 Hamburg,
- Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Redeker, Sellner, Dahs,
Leipziger Platz 3, 10117 Berlin -
gegen Artikel 1 Nummer 1 Buchstabe a des Dreizehnten Gesetzes zur
Änderung des Atomgesetzes vom 31. Juli 2011 (BGBl I S. 1704)
- 1 BvR 1456/12 -
hat das Bundesverfassungsgericht - Erster Senat -
unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter
Vizepräsident Kirchhof,
Gaier,
Eichberger,
Schluckebier,
Masing,
Paulus,
Baer,
Britz
aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 15. und 16. März 2016 durch
Urteil
für Recht erkannt:

Tenor:

  1. 1.

    Artikel 1 Nummer 1 Buchstabe a (§ 7 Absatz 1a Satz 1 Atomgesetz) des Dreizehnten Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes vom 31. Juli 2011 (Bundesgesetzblatt 2011 Seite 1704) ist nach Maßgabe der Gründe dieses Urteils unvereinbar mit Artikel 14 Absatz 1 des Grundgesetzes, soweit das Gesetz nicht eine im Wesentlichen vollständige Verstromung der den Kernkraftwerken in Anlage 3 Spalte 2 zum Atomgesetz zugewiesenen Elektrizitätsmengen sicherstellt und keinen angemessenen Ausgleich hierfür gewährt.

  2. 2.

    Das Dreizehnte Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes ist insoweit mit Artikel 14 Absatz 1 Grundgesetz unvereinbar, als es keine Regelung zum Ausgleich für Investitionen vorsieht, die im berechtigten Vertrauen auf die im Jahr 2010 zusätzlich gewährten Zusatzstrommengen vorgenommen, durch dieses aber entwertet wurden.

  3. 3.

    Im Übrigen werden die Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen.

  4. 4.

    Der Gesetzgeber ist verpflichtet, eine Neuregelung spätestens bis zum 30. Juni 2018 zu treffen. § 7 Absatz 1a Satz 1 Atomgesetz ist bis zu einer Neuregelung weiter anwendbar.

  5. 5.

    Die Bundesrepublik Deutschland hat den Beschwerdeführerinnen in den Verfahren 1 BvR 321/12 und 1456/12 jeweils ein Drittel sowie der Beschwerdeführerin in dem Verfahren 1 BvR 2821/11 ein Viertel der in ihren Verfassungsbeschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu ersetzen.

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