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Bundesverfassungsgericht
Beschl. v. 28.09.2013, Az.: 1 BvQ 42/13
Überprüfungsgegenstand bei kurzfristigem Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz
Gericht: BVerfG
Entscheidungsform: Beschluss
Datum: 28.09.2013
Referenz: JurionRS 2013, 47799
Aktenzeichen: 1 BvQ 42/13
ECLI: [keine Angabe]

Verfahrensgang:

vorgehend:

OVG Berlin-Brandenburg - 27.09.2013 - AZ: OVG 1 S 245.13

Rechtsgrundlage:

§ 32 Abs. 1 BVerfGG

Fundstelle:

BayVBl 2014, 240-241

BVerfG, 28.09.2013 - 1 BvQ 42/13

Redaktioneller Leitsatz:

Fehlt es - aus zeitlichen Gründen - an einer realistischen Möglichkeit, sich die Kenntnis der für eine Entscheidung über eine einstweilige Anordnung nach § 32 Abs. 1 BVerfGG maßgeblichen Umstände zu verschaffen, und ist insbesondere in der zur Verfügung stehenden Zeit feststellbar, dass die Ausgangsentscheidungen die verfassungsrechtlichen Grundsätze nicht verkannt haben, die für eine Folgenabwägung gelten, sieht sich das Bundesverfassungsgericht zu einer abweichenden Beurteilung außerstande.

In dem Verfahren
über den Antrag,
im Wege der einstweiligen Anordnung

unter Abänderung des Beschlusses des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 27. September 2013 - OVG 1 S 245.13 - die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen die Verbotsverfügung der Gemeinde S. vom 23. September 2013 mit der Maßgabe wiederherzustellen, dass dem Antragsteller auferlegt wird,

- zwei Zivilbeamte des Staatsschutzes des LKA Brandenburg zur Überwachung in die Veranstaltung einzulassen,- an die Konzertteilnehmer bekanntzugeben, dass sich zwei Beamte in den Verstaltungsräumen befinden,- die der Antragsgegnerin im Verfahren vorgelegte Hausordnung vor Beginn des Konzertes zu verlesen, wobei ausdrücklich die Intonation und Gestikulation strafbarer Inhalte, insbesondere des U-Bahn-Liedes und des Liedes "Hoch auf dem gelben Wagen" untersagt wird und jegliche strafrechtlich relevanten Zwischenrufe untersagt werden,

- dass nur die Lieder gemäß der beiliegenden Liedliste gespielt werden dürfen,

- dass die Intonation "ACAB" und auch ausgesprochen "all cops are bastards" sowohl in gesprochener wie gesungener Form untersagt wird

Antragsteller: B...,

- Bevollmächtigte:
Rechtsanwälte Braeske, Hohnstädter, Thomas, Otto,
Körnerstraße 68, 04107 Leipzig

- in dem die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch

die Richter Gaier,
Eichberger,
Paulus

gemäß § 32 Abs. 1 in Verbindung mit § 93d Abs. 2 BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 28. September 2013 einstimmig beschlossen hat, dass der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt wird,

wird gemäß § 32 Abs. 5 Satz 2 BVerfGG die Begründung gesondert übermittelt.

Gründe

1

Der Antragsteller ist Mitglied einer Musikband. Mit seinem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wendet er sich gegen ein unter Anordnung sofortiger Vollziehung ausgesprochenes Verbot einer angemeldeten Konzertveranstaltung dieser Musikband.

2

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat keinen Erfolg.

3

1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben. Der Antrag auf Eilrechtsschutz hat jedoch keinen Erfolg, wenn im Hauptsacheverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht eine Verfassungsbeschwerde unzulässig oder offensichtlich unbegründet wäre (vgl. BVerfGE 71, 158 [BVerfG 08.11.1985 - 1 BvR 1290/85] <161>; 111, 147 <152 f.>; stRspr). Erweist sich eine Verfassungsbeschwerde weder als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet, sind die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, eine Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, einer Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 71, 158 [BVerfG 08.11.1985 - 1 BvR 1290/85] <161>; 96, 120 <128 f.>; stRspr).

4

2. Danach fehlt es hier an den Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung.

5

Dabei kann offen bleiben, ob eine Verfassungsbeschwerde im vorliegenden Fall von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet wäre. Denn angesichts der Kürze der Zeit ist der Kammer jedenfalls eine eigene Folgenabwägung nicht möglich. Eine verantwortliche Abwägung ist im Rahmen der Entscheidung über eine einstweilige Anordnung nach § 32 Abs. 1 BVerfGG nur in voller Kenntnis der hierfür maßgeblichen Umstände möglich. Fehlt es an einer realistischen Möglichkeit, sich diese zu verschaffen, und ist insbesondere in der zur Verfügung stehenden Zeit feststellbar, dass die Ausgangsentscheidungen die verfassungsrechtlichen Grundsätze nicht verkannt haben, die für eine solche Abwägung gelten, sieht sich das Bundesverfassungsgericht zu einer abweichenden Beurteilung außerstande (vgl. BVerfGE 56, 244 <246>; 72, 299 <301>; 83, 158 <161>).

6

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ging am Tag der geplanten Konzertveranstaltung, einem Samstag, um 9:24 Uhr bei der zentralen Faxstelle des Bundesverfassungsgerichts ein; aus organisatorischen Gründen bat der Antragsteller um eine Entscheidung bis 13:00 Uhr. Das Gericht kann sich unter den aufgezeigten zeitlichen Bedingungen kein hinreichend zuverlässiges Bild darüber machen, welche Gefahren bei Durchführung des Konzerts zu besorgen und welche Maßnahmen zu deren Verhinderung geboten und noch möglich sind.

7

Die Ausgangsentscheidungen lassen im Übrigen erkennen, dass die Verwaltungsbehörde und die Fachgerichte die einschlägigen verfassungsrechtlichen Grundsätze nicht verkannt haben. Sie gelangten zu der Einschätzung, dass die geplante Durchführung des Konzerts eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit im Sinne von § 13 Abs. 1 des Gesetzes über Aufbau und Befugnisse der Ordnungsbehörden (Ordnungsbehördengesetz - OBG Bbg -) begründet, weil mit hoher Wahrscheinlichkeit mit der Verletzung von Strafvorschriften (insbesondere §§ 86a, 130 StGB) zu rechnen sei. Diese Gefahrenprognose war nicht auf bloße Vermutungen, sondern auf umfangreiche Tatsachenfeststellungen gestützt.

8

Die Verwaltungsbehörde und das Oberverwaltungsgericht haben zugunsten des Antragstellers angenommen, das Konzertverbot stelle einen Eingriff in die durch Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG gewährleistete Kunstfreiheit dar. Die Kunstfreiheit ist nicht mit einem ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt versehen. Sie ist aber nicht schrankenlos gewährleistet, sondern findet ihre Grenzen unmittelbar in anderen Bestimmungen der Verfassung, die ein in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes ebenfalls wesentliches Rechtsgut schützen (vgl. BVerfGE 30, 173 [BVerfG 24.02.1971 - 1 BvR 435/68] <193>; 83, 130 <139>; 119, 1 <23>). In allen Fällen, in denen andere Verfassungsgüter mit der Ausübung der Kunstfreiheit in Widerstreit geraten, muss ein verhältnismäßiger Ausgleich der gegenläufigen, gleichermaßen verfassungsrechtlich geschützten Interessen mit dem Ziel ihrer Optimierung gefunden werden (vgl. BVerfGE 81, 278 <292 f.>); der Konflikt zwischen der Kunstfreiheit und anderen verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgütern ist also im Wege fallbezogener Abwägung zu lösen (vgl. BVerfGE 77, 240 [BVerfG 03.11.1987 - 1 BvR 1257/84] <253>; 119, 1 <28 f.>).

9

Die im Eilverfahren getroffene Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts lässt hinreichend erkennen, dass eine solche Abwägung vorgenommen wurde. Seine Einschätzung, die zu besorgende Begehung von Straftaten nach §§ 86a und 130 StGB stelle eine Gefährdung des demokratischen Rechtsstaats dar, die auch im Lichte der Kunstfreiheit nicht hingenommen werden könne, verkennt die Gewährleistung des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG nicht.

10

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Gaier

Eichberger

Paulus

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