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Bundesverfassungsgericht
Beschl. v. 06.08.2009, Az.: 1 BvR 1554/08
Anspruch auf Rechtswahrnehmungsgleichheit i.R.d. Auslegung des Beratungshilfegesetzes
Gericht: BVerfG
Entscheidungsform: Beschluss
Datum: 06.08.2009
Referenz: JurionRS 2009, 22170
Aktenzeichen: 1 BvR 1554/08
ECLI: [keine Angabe]

Verfahrensgang:

vorgehend:

AG Zwickau - 29.04.2008 - AZ: 014 UR II 0045/08

AG Zwickau - 15.12.2008 - AZ: 014 UR II 02222/08

Fundstelle:

NJ 2010, 30-31

Verfahrensgegenstand:

I. der Beschluss des Amtsgerichts Zwickau vom 29. April 2008 - 014 UR II 0045/08 - - 1 BvR 1554/08 -,

II. der Beschluss des Amtsgerichts Zwickau vom 15. Dezember 2008 - 014 UR II 02222/08 - - 1 BvR 321/09 -

BVerfG, 06.08.2009 - 1 BvR 1554/08

In den Verfahren
...
hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts
durch
die Richterin Hohmann-Dennhardt und
die Richter Gaier, Kirchhof
am 6. August 2009
einstimmig beschlossen:

Tenor:

Die Verfassungsbeschwerden werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.

Die Beschlüsse des Amtsgerichts Zwickau vom 29. April 2008 - 014 UR II 0045/08 - und vom 15. Dezember 2008

- 014 UR II 02222/08 - verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 1 und Absatz 3 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Die Sachen werden an das Amtsgericht Zwickau zurückverwiesen.

Der Freistaat Sachsen hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerden betreffen die Versagung von Beratungshilfe nach dem Gesetz über Rechtsberatung und Vertretung für Bürger mit geringem Einkommen (Beratungshilfegesetz - BerHG).

2

I.

1.

Die Beschwerdeführerin beantragte beim Amtsgericht erfolglos Beratungshilfe für Widersprüche wegen der Anrechnung der Vollverpflegung im Krankenhaus auf ihre Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Die zuständige Rechtspflegerin wies die Anträge unter Hinweis auf die ständige Rechtsprechung des Amtsgerichts zurück, wonach es zumutbar sei, dass sich die Rechtsuchende selbst und ohne anwaltliche Hilfe an die zuständige Arbeitsgemeinschaft (ARGE) wende.

3

Die Erinnerungen wurden mit richterlichem Beschluss als unbegründet zurückgewiesen. Der Beschwerdeführerin stehe eine andere zumutbare Hilfe im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 BerHG zur Verfügung. Auch ein vernünftiger Bemittelter hätte keine anwaltliche Hilfe in Anspruch genommen, sondern selbst bei der Behörde vorgesprochen und Gründe vorgetragen. Ein Bescheid werde von Amts wegen kostenlos einer Prüfung unterzogen, ohne dass es rechtlicher Ausführungen bedürfe.

4

2.

Mit den Verfassungsbeschwerden rügt die Beschwerdeführerin die Verletzung von Art. 3 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4 und Art. 20 Abs. 3 sowie sinngemäß von Art. 20 Abs. 1 GG. Sie trägt insbesondere vor, dass sie als unbemittelte Rechtsuchende gegenüber bemittelten Rechtsuchenden ungleich behandelt werde.

5

3.

Das Sächsische Staatsministerium der Justiz, dem die Verfassungsbeschwerden gemäß § 94 Abs. 2 BVerfGG zugestellt wurden, hat von einer Stellungnahme abgesehen.

6

II.

1.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerden zur Entscheidung an und gibt ihnen statt, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte der Beschwerdeführerin aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 3 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c Abs. 1 BVerfGG). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerden maßgeblichen Grundsätze sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt.

7

2.

Die Verfassungsbeschwerden erweisen sich danach als begründet. Die angegriffenen richterlichen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Anspruch auf Rechtswahrnehmungsgleichheit (Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und Abs. 3 GG).

8

Es wird insoweit auf den Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Mai 2009 im Verfahren derselben Beschwerdeführerin (1 BvR 1517/08) verwiesen, wonach die vom Amtsgericht befürwortete Auslegung des Beratungshilfegesetzes, dass es einem Rechtsuchenden zumutbar sei, selbst kostenlos Widerspruch einzulegen und dabei die Beratung derjenigen Behörde in Anspruch zu nehmen, die zuvor den Ausgangsverwaltungsakt erlassen hat, den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht gerecht wird.

9

Das Amtsgericht hat keine Umstände angeführt, die die Notwendigkeit fremder Hilfe hier in Frage stellen könnten. Die Verweisung auf die Beratung durch dieselbe Behörde, deren Entscheidung die Beschwerdeführerin angreifen will, überschreitet die Grenze der Zumutbarkeit.

10

III.

Die angegriffenen Entscheidungen werden gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG aufgehoben. Die Sachen werden an das Amtsgericht zurückverwiesen, das erneut über die Erinnerungen der Beschwerdeführerin zu entscheiden hat.

11

Die Entscheidung über die notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.

12

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG

13

abgesehen.

Hohmann-Dennhardt
Gaier
Kirchhof

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