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Bundessozialgericht
Beschl. v. 08.07.2015, Az.: B 3 KR 20/15 B
Anspruch auf Krankengeld; Meldung der Arbeitsunfähigkeit; Zeitgerechte ärztliche Feststellung der AU; Nachträgliche Feststellung der AU
Gericht: BSG
Entscheidungsform: Beschluss
Datum: 08.07.2015
Referenz: JurionRS 2015, 21647
Aktenzeichen: B 3 KR 20/15 B
ECLI: [keine Angabe]

Verfahrensgang:

vorgehend:

LSG Baden-Württemberg - 21.10.2014 - AZ: L 11 KR 1242/14

BSG, 08.07.2015 - B 3 KR 20/15 B

Redaktioneller Leitsatz:

1. Der für das Krg bis zum 31.12.2014 allein zuständige 1. Senat das BSG hat in seinen Entscheidungen stets darauf hingewiesen, dass trotz der grundsätzlich strikten Anwendung der Ausschlussregelungen in engen Grenzen Ausnahmen anzuerkennen seien, wenn die ärztliche Feststellung oder die Meldung der AU durch Umstände verhindert oder verzögert worden seien, die dem Verantwortungsbereich der Krankenkassen und nicht dem des Versicherten zuzurechnen seien.

2. Der Versicherte erfülle seine Obliegenheit, für eine zeitgerechte ärztliche Feststellung der AU zu sorgen, wenn er alles in seiner Macht stehende tue, um die ärztliche Feststellung zu erhalten.

3. Er habe dazu den Arzt aufzusuchen und ihm seine Beschwerden vorzutragen; er könne aber den Arzt nicht zwingen, eine vollständige Befunderhebung durchzuführen und eine zutreffende Beurteilung abzugeben.

4. Unterbleibe die ärztliche Feststellung der AU allein aus Gründen, die dem Verantwortungsbereich des Vertragsarztes oder der sonstigen zur Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung berufenen Personen oder Einrichtungen zuzuordnen seien, so dürfe sich das nicht zum Nachteil der Versicherten auswirken.

5. Weiter führt der 1. Senat in ständiger Rechtsprechung aus, dass die Feststellung der AU ausnahmsweise nachträglich erfolgen könne, wenn der Versicherte: (1.) alles in seiner Macht stehende und ihm Zumutbare getan hat, um seine Ansprüche zu wahren, er (2.) daran aber durch eine von der Krankenkasse zu vertretende Fehlentscheidung gehindert wurde (z.B. durch die Fehlbeurteilung der AU des Vertragsarztes oder des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung), und er (3.) zusätzlich seine Rechte bei der Krankenkasse unverzüglich nach Erlangung der Kenntnis von dem Fehler geltend macht.

in dem Rechtsstreit

Az: B 3 KR 20/15 B

L 11 KR 1242/14 (LSG Baden-Württemberg)

S 23 KR 1298/11 (SG Stuttgart)

...........................................,

Kläger und Beschwerdegegner,

gegen

AOK Baden-Württemberg - Die Gesundheitskasse,

Presselstraße 19, 70191 Stuttgart,

Beklagte und Beschwerdeführerin.

Der 3. Senat des Bundessozialgerichts hat am 8. Juli 2015 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. W e n n e r , den Richter S c h r i e v e r und die Richterin Dr. W a ß e r sowie den ehrenamtlichen Richter S c h a l l e r und die ehrenamtliche Richterin G a r b e n - M o g w i t z

beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 21. Oktober 2014 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.

Gründe

I

1

Streitig ist ein Anspruch des Klägers auf Krankengeld (Krg) für den Zeitraum vom 11.12.2010 bis 25.3.2011.

2

Der 1952 geborene Kläger war aufgrund eines versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses seit April 2005 Mitglied der Beklagten. Das Beschäftigungsverhältnis endete am 30.11.2010. Wegen Arbeitsunfähigkeit (AU) erhielt der Kläger Lohnfortzahlung vom 2.11.2010 bis 30.11.2010. Der behandelnde Hausarzt stellte am 27.11.2010 weitere AU zunächst voraussichtlich bis zum 10.12.2010 fest. Daher erhielt der Kläger vom 1.12.2010 bis 10.12.2010 von der Beklagten Krg. Die folgende ärztliche Feststellung von AU datiert vom 11.12.2010.

3

Die Beklagte lehnte die weitere Zahlung von Krg für die Zeit ab 11.12.2010 ab, da der Kläger nicht mehr mit Anspruch auf Krg versichert sei. Die über den Bezug von Krg aufrechterhaltene Mitgliedschaft des Klägers habe am 10.12.2010 geendet (Bescheid vom 21.12.2010, Widerspruchsbescheid vom 21.2.2011). Im Widerspruchs- und Klageverfahren hat der Kläger geltend gemacht, er sei bereits am 10.12.2010 in der Praxis seines Hausarztes gewesen. Weil diese überfüllt gewesen sei, habe der Arzt ihn gebeten, zur Samstagssprechstunde am 11.12.2010 erneut zu erscheinen. Der Hausarzt hat dies bestätigt. Das SG hat sich der Begründung der Beklagten angeschlossen und die Klage abgewiesen (Urteil vom 27.2.2014). Im Berufungsverfahren hat der Kläger ausgeführt, ihm sei nach mehrstündiger Wartezeit, die er aufgrund der diagnostizierten akuten Lumbalgie im Wechsel zwischen Stehen, Gehen, kurzzeitigem Sitzen und zeitweise sogar in entwürdigender Art am Boden der Arztpraxis liegend verbracht habe, am 10.12.2010 das weitere Warten nicht mehr zumutbar gewesen. Deshalb sei ihm nach wiederholter Anfrage der Vorschlag unterbreitet worden, am Folgetag erneut zu erscheinen. Das LSG hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 11.12.2010 bis zum 25.3.2011 Krg zu gewähren (Urteil vom 21.10.2014). Es hat unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des BSG ausgeführt, der Anspruch auf Krg setze für jeden Bewilligungsabschnitt die rechtzeitige ärztliche Feststellung der AU voraus. Es handele sich um eine Obliegenheit des Versicherten, seine AU grundsätzlich jeweils rechtzeitig vor Ablauf der Befristung der bisherigen Attestierung ärztlich feststellen zu lassen und dies seiner Krankenkasse zu melden. Die Folgen einer unterbliebenen oder nicht rechtzeitigen Feststellung oder Meldung trage grundsätzlich der Versicherte. Die Mitgliedschaft des Klägers bei der Beklagten mit Anspruch auf Krg könne nach § 192 Abs 1 Nr 2 SGB V nur bei Vorliegen einer rechtzeitigen ärztlichen Feststellung der AU aufrechterhalten bleiben. Der Kläger habe jedoch die Obliegenheit, seine AU rechtzeitig vor Ablauf des Krg-Bewilligungsabschnitts am 10.11.2010 weiter feststellen zu lassen, in der vom Kläger geschilderten und von seinem Hausarzt bestätigten besonderen Ausnahmekonstellation nicht verletzt.

4

Mit der Beschwerde wendet sich die Beklagte gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG.

II

5

Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unbegründet, soweit sie nicht bereits unzulässig ist, weil das Urteil des LSG nicht von der seitens der Beklagten zitierten Entscheidung des BSG abweicht (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) und der Rechtssache auch nicht die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung zukommt (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG).

6

1. Die Beklagte macht geltend, die Revision sei nach § 160 Abs 2 Nr 2 SGG zuzulassen, da die angefochtene Entscheidung von dem Urteil des BSG vom 4.3.2014 (B 1 KR 17/13 R = SozR 4-2500 § 192 Nr 6, SozR 4-2500 § 44 Nr 19, SozR 4-2500 § 46 Nr 6) abweiche und auf dieser Abweichung beruhe.

7

Der Zulassungsgrund der Divergenz dient der Einheitlichkeit der Rechtsprechung und stellt damit einen Unterfall des Zulassungsgrunds der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache dar. Sie liegt nur vor, wenn in der anzufechtenden Entscheidung ein abstrakter Rechtssatz aufgestellt wurde, der mit einem abstrakten Rechtssatz in der angegebenen obergerichtlichen Entscheidung nicht übereinstimmt. Ein abstrakter Rechtssatz beruht auf einer fallübergreifenden, nicht lediglich auf die Würdigung des Einzelfalls bezogenen rechtlichen Aussage. Es muss ein Widerspruch im Grundsätzlichen vorliegen (vgl BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 34; BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 4; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 160 RdNr 10a und 13, jeweils mwN; Lüdtke in Lüdtke, SGG, 4. Aufl 2012, § 160 RdNr 13).

8

Ein solcher Widerspruch im Grundsätzlichen ist weder dargelegt noch erkennbar. Das Berufungsgericht hat keinen abstrakten, fallübergreifenden Rechtssatz aufgestellt, der von einem Rechtssatz des BSG in der genannten Entscheidung abweicht. Vielmehr hat das Berufungsgericht die Rechtsprechung des BSG zum Krg-Anspruch insgesamt umfassend - auch die von der Beklagten angeführte Entscheidung des BSG vom 4.3.2014 (B 1 KR 17/13 R = SozR 4-2500 § 192 Nr 6, SozR 4-2500 § 44 Nr 19, SozR 4-2500 § 46 Nr 6) - zitiert und ist dieser inhaltlich gefolgt. Es hat vorliegend ausdrücklich von einem Ausnahmefall gesprochen, weil der Kläger seine Obliegenheit, die AU rechtzeitig ärztlich feststellen zu lassen, in der besonderen Ausnahmekonstellation nicht verletzt habe.

9

Der für das Krg bis zum 31.12.2014 allein zuständige 1. Senat das BSG hat in seinen Entscheidungen stets darauf hingewiesen, dass trotz der grundsätzlich strikten Anwendung der Ausschlussregelungen in engen Grenzen Ausnahmen anzuerkennen seien, wenn die ärztliche Feststellung oder die Meldung der AU durch Umstände verhindert oder verzögert worden seien, die dem Verantwortungsbereich der Krankenkassen und nicht dem des Versicherten zuzurechnen seien. Der Versicherte erfülle seine Obliegenheit, für eine zeitgerechte ärztliche Feststellung der AU zu sorgen, wenn er alles in seiner Macht stehende tue, um die ärztliche Feststellung zu erhalten. Er habe dazu den Arzt aufzusuchen und ihm seine Beschwerden vorzutragen. Er könne aber den Arzt nicht zwingen, eine vollständige Befunderhebung durchzuführen und eine zutreffende Beurteilung abzugeben. Unterbleibe die ärztliche Feststellung der AU allein aus Gründen, die dem Verantwortungsbereich des Vertragsarztes oder der sonstigen zur Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung berufenen Personen oder Einrichtungen zuzuordnen seien, so dürfe sich das nicht zum Nachteil der Versicherten auswirken (st Rspr vgl nur BSG SozR 4-2500 § 46 Nr 1 = BSGE 95, 219 = SozR 4-2500 § 44 Nr 8, RdNr 18; zuletzt BSG, Urteil vom 16.12.2014 - B 1 KR 37/14 R - RdNr 24 mwN).

10

Weiter führt der 1. Senat in ständiger Rspr aus, dass die Feststellung der AU ausnahmsweise nachträglich erfolgen könne, wenn der Versicherte: (1.) alles in seiner Macht stehende und ihm Zumutbare getan hat, um seine Ansprüche zu wahren, er (2.) daran aber durch eine von der Krankenkasse zu vertretende Fehlentscheidung gehindert wurde (zB durch die Fehlbeurteilung der AU des Vertragsarztes oder des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung), und er (3.) zusätzlich seine Rechte bei der Krankenkasse unverzüglich nach Erlangung der Kenntnis von dem Fehler geltend macht (vgl nur BSGE 95, 219 [BSG 08.11.2005 - B 1 KR 30/04R] = SozR 4-2500 § 46 Nr 1, RdNr 22 ff; sowie zuletzt BSG, Urteil vom 16.12.2014 - B 1 KR 37/14 R - RdNr 28 mwN).

11

Das LSG hat ersichtlich einen sich in diesen engen Grenzen haltenden Ausnahmefall entscheiden wollen. Es hat die Grundsätze der Rechtsprechung, insbesondere die Obliegenheit des Versicherten, die AU rechtzeitig ärztlich feststellen zu lassen, betont und hat damit die vom BSG aufgestellten abstrakten Rechtssätze übernommen. Es hat darüber hinaus keinen abstrakten Rechtssatz mit fallübergreifender Bedeutung aufgestellt. Mithin liegt eine Divergenz hinsichtlich der für die Entscheidung maßgeblichen Rechtssätze nicht vor. Das BSG ist nicht zur Entscheidung darüber berufen, ob das Berufungsgericht im Einzelfall richtig unter die Rechtssätze des Gerichts oder der Rechtsprechung subsummiert hat.

12

2. Aus dem gleichen Grund fehlt der Rechtssache auch die seitens der Beklagten geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung.

13

Die Beklagte meint, der Rechtsstreit werfe die grundsätzlich zu klärende Rechtsfrage auf: "Ob allein das Aufsuchen des Hausarztes vor Ablauf des letzten Krankengeldbewilligungsabschnitts ohne Ausstellung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zur Erhaltung der Mitgliedschaft als Pflichtversicherter und Aufrechterhaltung des Krankengeldanspruchs aus der Beschäftigtenversicherung ausreicht, wenn die ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit zwar am darauffolgenden Tag, aber nach Ablauf des letzten Krankenbewilligungsabschnitts erfolgt."

14

Diese Frage stellt sich im vorliegenden Fall jedoch nicht, da das Berufungsgericht gerade nicht über diese oder eine ähnliche abstrakte Rechtsfrage entschieden, sondern die Ausnahmekonstellation betont und damit ausdrücklich auf die besonderen Umstände des Einzelfalls abgestellt hat. Der Kläger hatte danach vorliegend seine Obliegenheit insbesondere deshalb erfüllt, weil er noch am letzten Tag der bescheinigten AU seinen Hausarzt aufgesucht hatte und dort längere Zeit - wegen seiner Rückenschmerzen teilweise auf dem Boden liegend - im überfüllten Wartezimmer gewartet hatte. Das Berufungsgericht hat damit die Zumutbarkeit im Einzelfall bewertet und keine grundsätzliche Rechtsfrage geklärt. Es wollte sich ersichtlich in dem vom BSG vorgegebenen Rahmen halten und darlegen, dass der Kläger "alles in seiner Macht stehende" getan habe, um die ärztliche Feststellung zu erhalten.

15

Für die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung kommt es nicht darauf an, ob die Beurteilung des Berufungsgerichts zutrifft, und ob die Subsumtion unter die Rechtssätze fehlerhaft ist. Ein Rechtsirrtum im Einzelfall kann weder eine grundsätzliche Bedeutung, noch eine Zulassung der Revision wegen Divergenz begründen (BSG SozR 1500 § 160a Nr 67; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 26; BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 34).

16

Zur grundsätzlichen Bedeutung ist zudem darauf hinzuweisen, dass nach dem vom Deutschen Bundestag am 11.6.2015 beschlossenen Gesetz zur Stärkung der Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung (vgl BT-Drucks 18/5123) eine Änderung des § 46 SGB V vorgesehen ist. Danach soll zukünftig der Anspruch auf Krg bereits mit dem Tag der ärztlichen Feststellung der AU entstehen (zzt ist es der folgende Tag) und der Anspruch auf Krg bleibt nach der vorgesehenen Regelung "bis zu dem Tag bestehen, an dem die weitere Arbeitsunfähigkeit wegen derselben Krankheit ärztlich festgestellt wird, wenn diese ärztliche Feststellung spätestens am nächsten Werktag nach dem zuletzt bescheinigten Ende der Arbeitsunfähigkeit erfolgt; Samstage gelten insoweit nicht als Werktage" (vgl BT-Drucks 18/5123 S 19 f). Damit dürfte zukünftig die dem vorliegenden Rechtsstreit zugrunde liegende Fallkonstellation nicht mehr streitig werden. Eine grundsätzliche Bedeutung kommt der Rechtssache auch unter diesem Aspekt nicht zu.

17

3. Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG.

Prof. Dr. Wenner
Schriever
Dr. Waßer
Schaller
Garben-Mogwitz

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