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Bundesgerichtshof
Beschl. v. 16.08.2016, Az.: VI ZB 19/16
Ergänzung erkennbar unklarer oder ergänzungsbedürftiger Angaben in einem Wiedereinsetzungsantrag nach Fristablauf mit der Rechtsbeschwerde
Gericht: BGH
Entscheidungsform: Beschluss
Datum: 16.08.2016
Referenz: JurionRS 2016, 23891
Aktenzeichen: VI ZB 19/16
ECLI: ECLI:DE:BGH:2016:160816BVIZB19.16.0

Verfahrensgang:

vorgehend:

AG Seligenstadt - 02.10.2015 - AZ: 1 C 294/15 (2)

LG Darmstadt - 17.02.2016 - AZ: 6 S 197/15

Fundstellen:

BRAK-Mitt 2016, 281

FA 2016, 349

FamRZ 2016, 1924

JZ 2016, 721

MDR 2016, 1284

MDR 2016, 1368-1369

Mitt. 2017, 94

NJW 2016, 10

NJW 2016, 3312-3313

RENOpraxis 2016, 249

VersR 2016, 1463

VRR 2016, 2

ZAP EN-Nr. 733/2016

ZAP 2016, 1108

BGH, 16.08.2016 - VI ZB 19/16

Amtlicher Leitsatz:

ZPO § 139 Abs. 1, § 236 (B)

Erkennbar unklare oder ergänzungsbedürftige Angaben in einem Wiedereinsetzungsantrag, deren Aufklärung nach § 139 ZPO geboten gewesen wäre, können nach Fristablauf mit der Rechtsbeschwerde ergänzt werden (Anschluss BGH, Beschluss vom 25. September 2013 - XII ZB 200/13, Rn. 9).

Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 26. August 2016 durch den Vorsitzenden Richter Galke, den Richter Offenloch, die Richterinnen Dr. Oehler und Müller und den Richter Dr. Klein
beschlossen:

Tenor:

Auf die Rechtsbeschwerde des Klägers wird der Beschluss der 6. Zivilkammer des Landgerichts Darmstadt vom 17. Februar 2016 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Der Gegenstandswert wird auf 2.530,48 € festgesetzt.

Gründe

I.

1

Der Kläger hat gegen das ihm am 22. Oktober 2015 zugestellte Urteil des Amtsgerichts rechtzeitig Berufung eingelegt. Durch Schriftsatz vom 1. Dezember 2015 hat der Kläger die Berufung begründet. Der Schriftsatz ist im Wege der Faxübermittlung am 23. Dezember 2015 bei dem Landgericht eingegangen; der mit der Post übersandte Originalschriftsatz hat das Landgericht am 4. Januar 2016 erreicht. Auf den ihm am 8. Januar 2016 zugegangenen Hinweis des Kammervorsitzenden über den verspäteten Eingang der Berufungsbegründung hat der Kläger mit am 22. Januar 2016 bei dem Landgericht eingegangenem Schriftsatz Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist beantragt. Zur Begründung hat er - unter Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung der bei seinem Prozessbevollmächtigten angestellten Rechtsanwaltsfachangestellten W. - ausgeführt: Sein Prozessbevollmächtigter habe die Berufungsbegründung im Anschluss an ein letztes Mandantengespräch mit ihm am 1. Dezember 2015 um 11 Uhr fertiggestellt und nach Ausfertigung unterschrieben. Am selben Tag habe Frau W. den Schriftsatz zur Post gegeben und abgeschickt. Weil die im Fristenkalender falsch auf den 23. Dezember 2015 eingetragene Frist trotz Erledigung nicht gestrichen worden sei, habe eine weitere Angestellte an diesem Tag zur Sicherheit beim Landgericht angerufen, ob der Schriftsatz eingegangen sei. Da dies nicht der Fall gewesen sei, habe man die Berufungsbegründung nochmals abgeschickt.

2

Das Landgericht hat den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist zurückgewiesen und die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen. Mit seiner Rechtsbeschwerde begehrt der Kläger die Aufhebung dieses Beschlusses und die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

II.

3

Die Rechtsbeschwerde ist zulässig und begründet.

4

1. Die nach § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO in Verbindung mit § 522 Abs. 1 Satz 4, § 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist zulässig. Eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts ist gemäß § 574 Abs. 2 Nr. 2 Fall 2 ZPO zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich. Denn die angefochtene Entscheidung verletzt den Kläger in seinen Verfahrensgrundrechten auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) und auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG). Das Berufungsgericht hat gegen § 139 Abs. 1 ZPO verstoßen, indem es die Begründung des Wiedereinsetzungsgesuchs für unzureichend erachtet hat, ohne den Kläger hierauf hinzuweisen.

5

a) Eine Partei darf grundsätzlich darauf vertrauen, dass im Bundesgebiet werktags aufgegebene Postsendungen am folgenden Werktag ausgeliefert werden. Ohne konkrete Anhaltspunkte muss ein Rechtsmittelführer deshalb nicht mit Postlaufzeiten rechnen, die die ernsthafte Gefahr der Fristversäumung begründen (BGH, Beschluss vom 20. Mai 2009 - IV ZB 2/08, NJW 2009, 2379 Rn. 8 mwN). Wurde der Schriftsatz vom 1. Dezember 2015 an diesem Tag vor der Postleerung in den Briefkasten eingeworfen, durfte der Kläger auf einen fristgemäßen Eingang bei dem Landgericht am 2. Dezember 2015 vertrauen.

6

b) Die Partei muss im Rahmen ihres Antrags auf Wiedereinsetzung in die versäumte Frist gemäß § 236 Abs. 2 ZPO die die Wiedereinsetzung begründenden Tatsachen vortragen und glaubhaft machen.

7

aa) Hierzu gehört eine aus sich heraus verständliche, geschlossene Schilderung der tatsächlichen Abläufe, aus denen sich ergibt, auf welchen konkreten Umständen die Fristversäumnis beruht. Alle Tatsachen, die für die Wiedereinsetzung von Bedeutung sein können, müssen grundsätzlich innerhalb der Antragsfrist vorgetragen werden (§ 234 Abs. 1, § 236 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Erkennbar unklare oder ergänzungsbedürftige Angaben, deren Aufklärung nach § 139 ZPO geboten ist, dürfen jedoch nach Fristablauf erläutert oder vervollständigt werden (st. Rspr., Senatsbeschluss vom 29. Januar 2002 - VI ZB 28/01, Rn. 4 mwN; BGH, Urteil vom 7. März 2002 - IX ZR 235/01, NJW 2002, 2107, 2108 mwN; Beschlüsse vom 13. Juni 2007 - XII ZB 232/06, NJW 2007, 3212 Rn. 8; vom 9. Februar 2010 - XI ZB 34/09, FamRZ 2010, 636 Rn. 9; vom 21. Oktober 2010 - IX ZB 73/10, NJW 2011, 458 Rn. 17; vom 25. September 2013 - XII ZB 200/13, NJW 2014, 77 Rn. 9).

8

bb) Nach diesen Grundsätzen hätte das Berufungsgericht dem Kläger Gelegenheit zur Ergänzung seines Vorbringens zu den Umständen der Postaufgabe geben müssen (§ 139 Abs. 1 ZPO).

9

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat ausgeführt, die Berufungsbegründung sei von seiner Angestellten W. zur Post gegeben und abgeschickt worden. Die Rechtsanwaltsfachangestellte W. hat an Eides statt versichert, den ausgefertigten und unterschriebenen Schriftsatz am 1. Dezember 2015 zur Post gegeben zu haben, bevor sie pünktlich um 13 Uhr habe gehen müssen. Angesichts dieser Darstellung und dem zeitlichen Puffer bis zum Ablauf der Berufungsbegründungsfrist am 22. Dezember 2015 durfte das Landgericht nicht ohne ausdrücklichen Hinweis von ungenügenden Angaben zu den Umständen der Postaufgabe ausgehen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 9. Februar 2010 - XI ZB 34/09, FamRZ 2010, 636 Rn. 11; vom 21. Oktober 2010 - IX ZB 73/10, NJW 2011, 458 [BGH 21.10.2010 - IX ZB 73/10] Rn. 18 ff.). Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist insbesondere keine Sachlage gegeben, nach der ein Hinweis nach § 139 Abs. 1 ZPO deshalb entbehrlich wäre, weil es an einem konkreten Vortrag insgesamt gefehlt hätte (vgl. hierzu BGH, Beschlüsse vom 24. Januar 2012 - II ZB 3/11, NJW-RR 2012, 747 Rn. 12; vom 26. November 2013 - II ZB 13/12, MDR 2014, 422 Rn. 12).

10

c) Erkennbar unklare oder ergänzungsbedürftige Angaben, deren Aufklärung - wie hier - nach § 139 ZPO geboten gewesen wäre, können nach Ablauf der Antragsfrist mit der Rechtsbeschwerde ergänzt werden (BGH, Beschlüsse vom 18. Juli 2007 - XII ZB 32/07, NJW 2007, 2778 Rn. 14; vom 25. September 2013 - XII ZB 200/13, NJW 2014, 77 Rn. 9). Die Rechtsanwaltsfachangestellte W. hat nunmehr an Eides statt versichert, dass sie die vom Prozessbevollmächtigten des Klägers unterschriebene Berufungsbegründung am Vormittag des 1. Dezember 2015 ordnungsgemäß einkuvertiert und frankiert und sodann zunächst in den Postausgangskorb gelegt habe. Mit Feierabend gegen 13 Uhr habe sie dann die gesamte Post einschließlich der Berufungsbegründung dem Postausgangskorb entnommen und in den Briefkasten vor dem Rathaus Seligenstadt, der nur ca. 20 Meter von der Kanzlei entfernt sei, eingeworfen. Auf der Grundlage dieser ergänzenden Behauptungen hätte das Berufungsgericht die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht ablehnen dürfen, weil der Kläger danach mit einem rechtzeitigen Eingang seiner Berufungsbegründung bei dem Landgericht rechnen durfte. Auf die doppelt fehlerhafte Führung des Fristenkalenders kommt es in diesem Zusammenhang nicht an.

11

2. Die Rechtsbeschwerde ist somit auch begründet.

III.

12

Das Berufungsgericht wird zu prüfen haben, ob es das im Rechtsbeschwerdeverfahren ergänzte Parteivorbringen für glaubhaft, den vorgetragenen Geschehensablauf also für überwiegend wahrscheinlich (BGH, Beschluss vom 9. Februar 1998 - II ZB 15/97, NJW 1998, 1870; Beschluss vom 20. März 1996 - VIII ZB 7/96, NJW 1996, 1682 Rn. 15; Beschluss vom 3. März 1983 - IX ZB 4/83, VersR 1983, 491) hält. Die Sache ist daher gemäß § 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO zur erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Galke

Offenloch

Oehler

Müller

Klein

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