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Bundesgerichtshof
Beschl. v. 11.10.2012, Az.: V ZB 232/11
Anforderungen an eine Verletzung des Grundrechts auf rechtliches Gehör bei fehlender Aushändigung des Haftverlängerungsantrags vor der Anhörung eines in sein Heimatland Marokko abgeschobenen Ausländers
Gericht: BGH
Entscheidungsform: Beschluss
Datum: 11.10.2012
Referenz: JurionRS 2012, 27598
Aktenzeichen: V ZB 232/11
ECLI: [keine Angabe]

Verfahrensgang:

vorgehend:

AG Bingen - 06.04.2011 - AZ: 110 XIV 13/11 B

AG Bingen - 29.06.2011 - AZ: 110 XIV 13/11 B

LG Mainz - 21.09.2011 - AZ: 8 T 165/11

BGH, 11.10.2012 - V ZB 232/11

Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 11. Oktober 2012 durch die Vorsitzende Richterin Dr. Stresemann und die Richter Dr. Lemke, Prof. Dr. Schmidt-Räntsch, Dr. Czub und Dr. Kazele

beschlossen:

Tenor:

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss der 8. Zivilkammer des Landgerichts Mainz vom 21. September 2011 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als für den Zeitraum vom 17. Juni 2011 an zum Nachteil des Betroffenen entschieden worden ist.

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Bingen vom 6. April 2011, soweit die Haft zur Sicherung der Abschiebung über den 16. Juni 2011 hinaus angedauert hat, und der Beschluss des Amtsgerichts Bingen vom 29. Juni 2011 über die weitere Verlängerung der Abschiebungshaft den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben.

Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen im Beschwerdeverfahren werden zu 45 vom Hundert und diejenigen im Rechtsbeschwerdeverfahren in vollem Umfang der Stadt Trier auferlegt. Im Übrigen findet eine Auslagenerstattung nicht statt.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 3.000 €.

Gründe

I.

1

Der Betroffene, ein marokkanischer Staatsbürger, reiste im November 2010 mit dem Zug in das Bundesgebiet ein, ohne im Besitz eines Passes, eines Visums oder eines Aufenthaltstitels zu sein. Er wurde festgenommen und befand sich in der Zeit vom 16. November bis zum 21. Dezember 2010 in Abschiebungshaft. Einen aus der Haft gestellten Asylantrag, in dem der Betroffene angab, algerischer Staatsbürger zu sein, lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge als offensichtlich unbegründet ab.

2

Der zwischenzeitlich freigelassene Betroffene wurde im Februar 2011 erneut festgenommen. Auf Antrag der Beteiligten zu 2 (Ausländerbehörde) hat das Amtsgericht Trier Abschiebungshaft bis zum 9. April 2011 angeordnet. Nach Abgabe der Sache an das zuständige Amtsgericht Bingen hat dieses mit Beschluss vom 6. April 2011 die Abschiebungshaft bis zum 9. Juli 2011 verlängert.

3

Ein Antrag des Betroffenen vom 17. Juni 2011, den Beschluss über die Haftverlängerung aufzuheben, ist nicht beschieden worden. Auf Antrag der Beteiligten zu 2 hat das Amtsgericht am 29. Juni 2011 eine zweite Verlängerung der Abschiebungshaft bis zum 9. Oktober 2011 beschlossen. In dem Anhörungstermin hatte der Betroffene angegeben, dass seine bisherigen Angaben zu seinem Namen, seiner Herkunft und seiner Nationalität (Algerier) falsch gewesen seien; er sei vielmehr Marokkaner und wolle jetzt in seine Heimat zurück.

4

Nach Ausstellung eines Passersatzpapieres durch das Generalkonsulat des Königreichs Marokko ist der Betroffene am 28. Juli 2011 abgeschoben worden. Seine sofortige Beschwerde gegen die erneute Verlängerung der Haft hat er mit dem Antrag aufrechterhalten, festzustellen, dass er durch die Beschlüsse vom 6. April und vom 29. Juni 2011 in seinen Rechten verletzt worden ist.

5

Das Landgericht hat die sofortige Beschwerde teils als unzulässig verworfen, teils als unbegründet zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde will der Betroffene die Feststellung erreichen, dass er - soweit es den Zeitraum nach Eingang des Haftaufhebungsantrags betrifft - durch die Beschlüsse über die erste und die zweite Haftverlängerung in seinen Rechten verletzt worden ist.

II.

6

Das Beschwerdegericht meint, dass der die erste Verlängerung der Abschiebungshaft betreffende Feststellungsantrag nach § 62 Abs. 1 FamFG unzulässig sei, weil der Betroffene diesen Beschluss nicht innerhalb der Rechtsmittelfrist mit der sofortigen Beschwerde angefochten, sondern lediglich nach Ablauf der Beschwerdefrist eine Haftaufhebung nach § 426 Abs. 2 FamFG beantragt habe. Der die zweite Verlängerung der Haft betreffende Feststellungsantrag sei zwar zulässig, aber unbegründet. Daran ändere es nichts, dass der vorangegangene Beschluss nicht hätte ergehen dürfen, falls der Haftantrag dem Betroffenen nicht ausgehändigt worden und das rechtliche Gehör damit nicht gewahrt gewesen sein sollte. Die Verlängerung der Abschiebungshaft gründe sich allein auf das Vorliegen von Haftgründen zur Zeit der Verlängerungsentscheidung und setze die Rechtmäßigkeit der vorangegangenen Haftanordnung nicht voraus.

III.

7

Die gemäß § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 FamFG i.V.m. mit dem Feststellungsantrag nach § 62 FamFG statthafte (Senat, Beschluss vom 25. Februar 2010 - V ZB 172/09, FGPrax 210, 150, 151 Rn. 9 f.) und auch im Übrigen zulässige (§ 71 FamFG) Rechtsbeschwerde ist begründet.

8

1. Das Rechtsmittel hat zum einen Erfolg, soweit es gegen den Beschluss vom 6. April 2011 gerichtet ist.

9

a) Das Beschwerdegericht hat den Feststellungsantrag nach § 62 FamFG zu Unrecht als insgesamt unzulässig verworfen.

10

aa) Richtig ist allerdings, dass dem Feststellungsantrag nicht bereits für die Zeit von dem Wirksamwerden der Haftverlängerung an (10. April 2010) entsprochen werden konnte, weil der Betroffene eine Beschwerde gegen diesen Beschluss nicht eingelegt hatte und die Entscheidung damit rechtskräftig geworden war. Allein das rechtliche Interesse des Betroffenen an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Entscheidung erlaubt nicht die Stellung eines Feststellungsantrags losgelöst von dem jeweiligen Rechtsschutzsystem, sofern es dem Betroffenen - wie hier - zumutbar und möglich war, eine von der Verfahrensordnung bereitgestellte Rechtsschutzmöglichkeit zu ergreifen (vgl. Senat, Beschlüsse vom 20. Januar 2011 - V ZB 116/10, FGPrax 2011, 143, 144 Rn. 8 und vom 28. April 2011 - V ZB 292/10, FGPrax 2011, 200, 201 Rn. 15).

11

bb) Anders ist es jedoch für die Zeit vom Eingang eines Antrags auf Haftaufhebung gemäß § 426 Satz 1 FamFG an bei dem Gericht, da sich dieser nicht nur auf neue Umstände, sondern auch auf Einwände gegen die Anordnung der Haft stützen kann (vgl. Senat, Beschlüsse vom 28. April 2011 - V ZB 292/10, FGPrax 2011, 200, 201 Rn. 17 und vom 26. Mai 2011 - V ZB 318/10, Rn. 16, [...]). Hat sich der Antrag auf Haftaufhebung danach (hier durch den Ablauf des Zeitraums, für den die Haftverlängerung angeordnet worden war) erledigt, so kann das Verfahren in der Beschwerdeinstanz mit dem Antrag fortgesetzt werden, die Rechtsverletzung des Betroffenen festzustellen (Senat, Beschlüsse vom 28. April 2011 - V ZB 292/10, FGPrax 2011, 200, 201 Rn. 18, vom 26. Mai 2011 - V ZB 318/10, Rn. 16, [...] und vom 15. Dezember 2011 - V ZB 302/10, Rn 12, [...]).

12

b) Der Feststellungsantrag vom 6. April 2011 ist begründet. Der Beschluss hat den Betroffenen ab dem Eingang des Haftaufhebungsantrags bei dem Amtsgericht am 17. Juni 2011 in seinen Rechten verletzt.

13

aa) Der Betroffene rügt zu Recht eine Verletzung des Verfahrensgrundrechts auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG), weil der Antrag der Beteiligten zu 2 auf Haftverlängerung ihm nicht vor seiner Anhörung ausgehändigt worden ist. Der Betroffene kann sich zur Begründung seines Vorbringens darauf stützen, dass sich aus den Gerichtsakten für eine Aushändigung des Haftantrags an ihn nichts ergibt und in dem Protokoll über die Anhörung durch das Amtsgericht lediglich die Bekanntgabe des Antrags der Beteiligten zu 2 vermerkt worden ist.

14

bb) Die mündliche Bekanntgabe des Inhalts des Haftantrags genügt den Anforderungen für eine ordnungsgemäße Gewährung rechtlichen Gehörs nicht. Zwar kann der Haftantrag dem Betroffenen bei einfachen, überschaubaren Sachen erst unmittelbar vor dessen Anhörung eröffnet werden (vgl. Senat, Beschluss vom 4. März 2010 - V ZB 222/09, BGHZ 184, 323, 330 Rn. 16). Notwendig ist aber auch in diesen Fällen stets, dass ein schriftlicher Haftantrag der Behörde dem Betroffenen vor seiner Anhörung in vollständiger Abschrift ausgehändigt wird (vgl. Senat, Beschlüsse vom 21. Juli 2011 - V ZB 141/11, FGPrax 2011, 257, 258 Rn. 8 und vom 14. Juni 2012 - V ZB 284/11, Rn. 9, [...]). Andernfalls kann nämlich nicht ausgeschlossen werden, dass der Betroffene nicht in der Lage war, zu sämtlichen Angaben der Behörde Stellung zu nehmen (vgl. Senat, Beschlüsse vom 21. Juli 2011 - V ZB 141/11, aaO und vom 14. Juni 2012 - V ZB 284/11, Rn. 9 aaO). Das hat zur Folge, dass in dem Rechtsbeschwerdeverfahren von einer Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG ausgegangen werden muss.

15

2. Ebenfalls Erfolg hat die Rechtsbeschwerde, soweit sie gegen den Beschluss des Amtsgerichts vom 29. Juni 2011 über eine weitere Verlängerung der Abschiebungshaft gerichtet ist. Den nach der Abschiebung von dem Betroffenen gestellten Feststellungsantrag hat das Beschwerdegericht zu Unrecht als unbegründet angesehen.

16

Die zweite Anordnung über die Haftverlängerung leidet an demselben Mangel wie die erste, weil dem Verfahrensbevollmächtigten des Betroffenen mit der Ladung zum Termin nicht die in dem Haftverlängerungsantrag in Bezug genommenen früheren Haftanträge übermittelt worden sind.

17

Das ist entgegen der Ansicht des Beschwerdegerichts nicht unerheblich. Der Antrag auf eine Haftverlängerung ist nach § 425 Abs. 3 FamFG in gleicher Weise zu begründen wie der erste Haftantrag (Senat, Beschluss vom 28. April 2011 - V ZB 252/10, Rn. 12, [...]). Dabei kann die Behörde zwar zur Vermeidung von Wiederholungen - wie es die Beteiligte zu 2 getan hat - in dem Antrag auf Haftverlängerung wegen der nach § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 FamFG von ihr darzulegenden Tatsachen auf ihre Angaben in dem Haftantrag Bezug nehmen, wenn sich an diesen Umständen nichts geändert hat (vgl. Senat, Beschluss vom 14. Juli 2011 - V ZB 50/11, Rn. 9, [...]). Der frühere Antrag muss dem Betroffenen dann aber auch übermittelt worden sein, woran es hier jedoch fehlt.

18

Enthält der Haftverlängerungsantrag eine Bezugnahme auf die Begründung des Haftantrags, so ist - wenn dieser dem Betroffenen nicht ausgehändigt wurde - die Entscheidung über die Haftverlängerung (ebenfalls) ohne eine ordnungsgemäße Anhörung des Betroffenen (§ 420 Abs. 1 Satz 1 FamG) ergangen. Für diese ist es erforderlich, dass der Betroffene vor ihrem Beginn alle schriftlichen Anträge und Stellungnahmen der Behörde in Abschrift erhalten hat, damit er in diese einsehen und die von der Behörde für seine Inhaftierung vorgebrachten Gründe -gegebenenfalls unter Hinzuziehung eines Rechtsanwalts -in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht überprüfen kann (Senat, Beschluss vom 14. Juni 2012 - V ZB 281/11, Rn. 9).

19

3. Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird nach § 74 Abs. 7 FamFG abgesehen.

IV.

20

Die Kostenentscheidung folgt aus § 81 Abs. 1, § 83 Abs. 2, § 430 FamFG, § 128c Abs. 3 Satz 2 KostO, Art. 5 EMRK.

Stresemann

Lemke

Schmidt-Räntsch

Czub

Kazele

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