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Bundesgerichtshof
Beschl. v. 12.05.2011, Az.: V ZB 296/10
Vor Anordnung der Abschiebungshaft unterlassene Anhörung kann nicht nachgeholt werden und verletzt den Betroffenen in seinem Recht aus Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG; Möglichkeit der Nachholung der vor Anordnung der Abschiebungshaft unterlassenen Anhörung des Betroffenen
Gericht: BGH
Entscheidungsform: Beschluss
Datum: 12.05.2011
Referenz: JurionRS 2011, 17772
Aktenzeichen: V ZB 296/10
ECLI: [keine Angabe]

Verfahrensgang:

vorgehend:

AG Neuss - 14.09.2010 - AZ: 16 XIV 31/10 B

AG Neuss - 16.09.2010 - AZ: 16 XIV 31/10 B

LG Düsseldorf - 03.11.2010 - AZ: 25 T 579/10

BGH, 12.05.2011 - V ZB 296/10

Redaktioneller Leitsatz:

Ist die nach § 420 Abs. 1 S. 1 FamFG zwingend vorgeschriebene Anhörung des Betroffenen vor der Anordnung der Sicherungshaft unterblieben, liegt ein Verfahrensfehler vor, der nicht nachträglich geheilt werden kann.

Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat
am 12. Mai 2011
durch
den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Krüger,
die Richter Prof. Dr. Schmidt-Räntsch und Dr. Roth und
die Richterinnen Dr. Brückner und Weinland
beschlossen:

Tenor:

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird festgestellt, dass der Beschluss der Zivilkammer 25 des Landgerichts Düsseldorf vom 3. November 2010 und die Beschlüsse des Amtsgerichts Neuss vom 14. und 16. September 2010 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben.

Gerichtskosten werden nicht erhoben. Der Stadt N. werden die notwendigen Auslagen des Betroffenen aller Instanzen auferlegt.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 3.000 €.

Gründe

I.

1

Der Betroffene, ein kosovarischer Staatsangehöriger, reiste im August 2006 mit seiner Familie in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte Asyl. Mit zwischenzeitlich bestandskräftigem Bescheid vom 28. September 2006 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Asylantrag ab. Die Abschiebung des Betroffenen in den Kosovo scheiterte, weil der Betroffene sich weigerte, die für die Erteilung der Passersatzpapiere erforderlichen Unterlagen auszufüllen. Im Juni 2010 reiste der Betroffene nach Frankreich aus, wurde aber am 15. September 2010 nach Deutschland rücküberstellt.

2

Auf Antrag der Beteiligten zu 2 ordnete das Amtsgericht mit Beschluss vom 14. September 2010 "gemäß §§ 415, 427 FamFG, § 62 Abs. 2 AufenthG" die Haft zur Sicherung der Abschiebung bis zum 14. Dezember 2010 an. Am 16. September 2010 wurde der Betroffene durch das Amtsgericht angehört. Anschließend ordnete das Amtsgericht die Vollstreckung des Beschlusses vom 14. September 2010 an.

3

Die gegen die amtsgerichtlichen Beschlüsse gerichtete Beschwerde hat das Landgericht zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich der Betroffene mit seiner Rechtsbeschwerde, mit der er nach der am 18. November 2010 erfolgten Abschiebung die Feststellung erreichen möchte, dass die vorinstanzlichen Beschlüsse ihn in seinen Rechten verletzt haben.

II.

4

Das Beschwerdegericht meint, die Haft sei zu jedem Zeitpunkt durch einen richterlichen Beschluss gedeckt gewesen; die erforderliche richterliche Anhörung sei vom Amtsgericht unverzüglich nachgeholt worden. Infolge der unerlaubten Einreise des Betroffenen und der rechtskräftigen Ablehnung seines Asylantrags liege der Haftgrund nach § 62 Abs. 2 Satz 1 AufenthG vor. Ferner seien die Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG erfüllt, da sich der Betroffene unerlaubt nach Frankreich abgesetzt habe. Aufgrund dessen und weil der Betroffene versucht habe, seine wahre Identität zu verschleiern, liege schließlich auch der Haftgrund nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG vor. Einer persönlichen Anhörung durch das Beschwerdegericht habe es nicht bedurft, da der Betroffene zeitnah erstinstanzlich angehört worden sei.

III.

5

Das Rechtsmittel hat Erfolg.

6

1.

Die nach der Erledigung der Hauptsache auf Feststellung nach § 62 Abs. 1 FamFG gerichtete Rechtsbeschwerde ist nach § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 FamFG, § 106 Abs. 2 Satz 1 AufenthG statthaft und auch im Übrigen zulässig (§ 71 Abs. 1 und 2 FamFG).

7

Der Statthaftigkeit der Rechtsbeschwerde steht die Bestimmung des § 70 Abs. 4 FamFG nicht entgegen. Danach ist die Rechtsbeschwerde gegen eine im Verfahren über die Anordnung einer einstweiligen Anordnung ergangene Beschwerdeentscheidung ausgeschlossen. So liegt es hier jedoch nicht, weil Gegenstand der Rechtsbeschwerde eine Entscheidung ist, die außerhalb des einstweiligen Anordnungsverfahrens ergangen ist.

8

a)

Zwar erwähnt das Amtsgericht in seinem Beschluss vom 14. September 2010 die Vorschrift des § 427 FamFG, die die Möglichkeit der einstweiligen Anordnung einer vorläufigen Freiheitsentziehung vorsieht. Daraus lässt sich jedoch nicht ohne Weiteres der Schluss ziehen, dass das Amtsgericht tatsächlich eine vorläufige Anordnung getroffen hat. Hier ist zu berücksichtigen, dass der Beschluss weder Feststellungen zur Frage der Notwendigkeit einer zunächst vorläufigen Regelung enthält noch die Sicherungshaft auf sechs Wochen (vgl. § 427 Abs. 1 Satz 2 FamFG) begrenzt ist. Zudem werden in den Entscheidungsgründen die Voraussetzungen der Abschiebungshaft abschließend festgestellt. Schließlich weist die erteilte Rechtsmittelbelehrung auf die Monatsfrist nach § 63 Abs. 1 FamFG hin und nicht auf die - im Falle der einstweiligen Anordnung maßgebliche - Zwei-Wochen-Frist nach § 63 Abs. 2 Nr. 1 FamFG.

9

b)

Das Vorliegen einer vorläufigen Anordnung kann auch nicht deswegen angenommen werden, weil das Amtsgericht nach Anhörung des Betroffenen mit Beschluss vom 16. September 2010 die Vollstreckung der Haftanordnung angeordnet hat. Hierbei handelt es sich nicht um die Hauptsacheentscheidung im Anschluss an eine nur vorläufige Regelung. Dagegen spricht, dass der Beschluss vom 16. September 2010 nicht für sofort vollziehbar erklärt worden ist; das hätte im Falle einer Hauptsacheentscheidung im Anschluss an eine nur vorläufige Anordnung ebenso nahe gelegen wie die Darlegung der einzelnen Voraussetzungen für die Anordnung von Abschiebungshaft, an der es in dem Beschluss vom 16. September 2010 jedoch fehlt. Zudem enthält die Entscheidung weder Ausführungen zur Haftdauer noch - anders als die Anordnung vom 14. September 2010 - eine Rechtsmittelbelehrung. Schließlich spricht auch die Tenorierung der Entscheidung gegen die Annahme einer Hauptsacheentscheidung. Letztlich enthält die Entscheidung vom 16. September 2010 gegenüber dem Beschluss vom 14. September 2010 keinen eigenständigen Regelungsgehalt. Er beschränkt sich allein auf die Anordnung der Vollstreckung des Beschlusses vom 14. September 2010. Diese Anordnung lief jedoch ins Leere, da der Beschluss vom 14. September 2010 bereits aufgrund der Anordnung der sofortigen Wirksamkeit (§ 422 Abs. 2 Satz 1 FamFG) sofort vollstreckbar war.

10

2.

Die Rechtsbeschwerde ist begründet. Sowohl die Entscheidungen des Amtsgerichts, die ebenfalls Gegenstand rechtlicher Nachprüfung sind (vgl. Senat, Beschluss vom 4. März 2010 - V ZB 184/09, FGPrax 2010, 152, 154), als auch die Entscheidung des Beschwerdegerichts haben den Betroffenen in seinem Freiheitsrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt (§ 62 Abs. 1 FamFG).

11

a)

Das Amtsgericht hat den Betroffenen entgegen § 420 Abs. 1 Satz 1 FamFG nicht vor der Haftanordnung vom 14. September 2010 angehört.

12

aa)

Die Anhörung des Betroffenen vor der Anordnung der Sicherungshaft ist in § 420 Abs. 1 Satz 1 FamFG zwingend vorgeschrieben. Sie kann nicht, wie im vorliegenden Fall, danach erfolgen. Die vorherige Anhörung des Betroffenen ist eine Verfahrensgarantie, die Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG fordert und mit grundrechtlichem Schutz versieht (Senat, Beschluss vom 17. Juni 2010 - V ZB 9/10, InfAuslR 2010, 384, 385). Ein Fall des § 427 Abs. 2 Satz 1 FamFG liegt, ungeachtet der Frage, ob die Anhörung unverzüglich nachgeholt wurde, gerade nicht vor.

13

bb)

Durch die am 16. September 2010 nachgeholte Anhörung konnte dieser Verfahrensverstoß nicht geheilt werden. Ein Verstoß gegen die Pflicht zur vorherigen Anhörung drückt der gleichwohl angeordneten Sicherungshaft den Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung auf, der durch Nachholung der Maßnahme rückwirkend nicht mehr zu tilgen ist (Senat, Beschluss vom 4. März 2010 - V ZB 184/09, FGPrax 2010, 152, 154). Deshalb kommt es bei der späteren Überprüfung der Haftanordnung im Rahmen von § 62 FamFG weder auf eine Nachholung der Anhörung noch darauf an, ob die Freiheitsentziehung in der Sache zu Recht angeordnet worden war (Senat, Beschluss vom 17. Juni 2010 - V ZB 9/10, InfAuslR 2010, 384, 385).

14

cc)

Da der Beschluss vom 16. September 2010 auf der verfahrenswidrig erlassenen Haftanordnung beruht, indem er deren Vollstreckung anordnet, verletzt auch er den Betroffenen in seinem Freiheitsrecht. Der Beschluss kann nicht im Sinne einer die ursprüngliche Haftanordnung ersetzenden neuen Anordnung der Sicherungshaft ausgelegt werden. Dagegen sprechen bereits die Tenorierung der Entscheidung, das Fehlen von Ausführungen zur Haftdauer und das Fehlen einer Rechtsmittelbelehrung.

15

b)

Auch die Beschwerdeentscheidung hat den Betroffenen in seinen Rechten verletzt, weil das Beschwerdegericht den Betroffenen nicht nach § 420 Abs. 1 Satz 1, § 68 Abs. 2 Satz 1 FamFG persönlich angehört hat.

16

Von einer erneuten Anhörung durch das Beschwerdegericht kann zwar nach § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG abgesehen werden, wenn eine persönliche Anhörung des Betroffenen in erster Instanz erfolgt und zusätzliche Erkenntnisse durch eine erneute Anhörung nicht zu erwarten sind (vgl. Senat, Beschluss vom 4. März 2010 - V ZB 222/09, BGHZ 184, 323, 329). Das Beschwerdegericht darf jedoch von der Ermächtigung in § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG keinen Gebrauch machen, wenn die Anhörung in erster Instanz bereits auf einem Verfahrensfehler beruht. Beruht die erstinstanzliche Entscheidung auf einer Verletzung des Verfahrensgrundrechts auf rechtliches Gehör, sind die Ermittlungen des Gerichts erster Instanz keine geeignete Grundlage für das weitere Verfahren (Senat, Beschluss vom 16. September 2010 - V ZB 120/10, FGPrax 2010, 290, 291). So verhält es sich hier. Der Betroffene ist in erster Instanz erst nach der Haftanordnung und damit nicht ordnungsgemäß persönlich angehört worden. Er hatte überdies keine Gelegenheit, persönlich zu dem Haftantrag der Beteiligten zu 2 Stellung zu nehmen. Aus dem Protokoll der Anhörung vom 16. September 2010 ergibt sich nicht, dass ihm der Haftantrag übersetzt worden wäre.

IV.

17

Die Kostenentscheidung folgt aus § 81 Abs. 1 Sätze 1 und 2, § 83 Abs. 2 FamFG, § 128c Abs. 3 Satz 2 KostO. Unter Berücksichtigung der Regelung in Art. 5 Abs. 5 EMRK entspricht es billigem Ermessen, die Stadt, der die beteiligte Behörde angehört (vgl. § 430 FamFG), zur Erstattung der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen zu verpflichten. Der Gegenstandswert bestimmt sich nach § 128c Abs. 2, § 30 Abs. 2 KostO.

Krüger
Schmidt-Räntsch
Roth
Brückner
Weinland

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