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Bundesgerichtshof
Beschl. v. 17.02.2011, Az.: V ZB 205/10
Anspruch auf Einstellung einer Zwangsversteigerung eines Einfamilienhaues im Falle des Bestehens einer Selbstmordgefahr (Suizidgefahr) beim Schuldner
Gericht: BGH
Entscheidungsform: Beschluss
Datum: 17.02.2011
Referenz: JurionRS 2011, 12138
Aktenzeichen: V ZB 205/10
ECLI: [keine Angabe]

Verfahrensgang:

vorgehend:

AG Luckenwalde - 13.04.2010 - AZ: 17 K 425/06

LG Potsdam - 07.07.2010 - AZ: 5 T 323/10

LG Potsdam - 07.07.2010 - AZ: 5 T 324/10

Fundstellen:

NJW-RR 2011, 1000-1001

NZM 2011, 791-792

WuM 2011, 569-571

BGH, 17.02.2011 - V ZB 205/10

Redaktioneller Leitsatz:

Ein Vollstreckungsschutzantrag nach § 765a ZPO mit dem Ziel der Aufhebung des Zuschlags im Zwangsversteigerungsverfahren kommt nur dann nicht mehr in Betracht, wenn der Zuschlagsbeschluss bereits rechtskräftig ist.

Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat
am 17. Februar 2011
durch
den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Krüger,
die Richterin Dr. Stresemann,
den Richter Dr. Roth und
die Richterinnen Dr. Brückner und Weinland
beschlossen:

Tenor:

Auf die Rechtsbeschwerde des Beteiligten zu 3 wird der Beschluss der 5. Zivilkammer des Landgerichts Potsdam vom 7. Juli 2010 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Beschwerdegericht zurückverwiesen.

Der Gegenstandswert für die anwaltliche Vertretung des Rechtsbeschwerdeführers im Rechtsbeschwerdeverfahren beträgt 95.000 EUR.

Gründe

I.

1

Die Beteiligten zu 1 und 2 betreiben die Zwangsversteigerung des mit einem Einfamilienhaus bebauten Grundstücks der Beteiligten zu 3 und 4. Der Verkehrswert wurde auf 95.000 EUR festgesetzt. In dem Termin vom 13. April 2010 blieb der Beteiligte zu 5 mit einem Gebot von 65.000 EUR Meistbietender und erhielt den Zuschlag.

2

Am 19. April 2010 beantragte der Beteiligte zu 3, den Zuschlag zu versagen und das Zwangsversteigerungsverfahren für sechs Monate einzustellen. Zur Begründung führte er an, dass er seit September 2009 mit seiner schwerstbehinderten Tochter allein in dem Einfamilienhaus wohne. Ein Herausreißen der Tochter aus der gewohnten Umgebung wäre für ihren Zustand schädlich. Er habe 2009 einen Herzinfarkt erlitten und befinde sich noch in medizinischer Nachsorge. Seitdem er Kenntnis von der Zwangsversteigerung habe, leide er an einer depressiven Erkrankung, und es verfestigte sich ein Suizidgedanke stetig.

3

Gegen den ihm am 3. Mai 2010 zugestellten Zuschlagsbeschluss hat der Beteiligte zu 3, gestützt auf den Einstellungsantrag und unter Vorlage eines ärztlichen Attests, sofortige Beschwerde eingelegt. Das Landgericht hat die sofortige Beschwerde zurückgewiesen. Mit der zugelassenen Rechtsbeschwerde erstrebt der Beteiligte zu 3 weiterhin die Versagung des Zuschlags und die Einstellung des Zwangsversteigerungsverfahrens.

II.

4

Das Beschwerdegericht meint, der Schuldner könne nach Erteilung des Zuschlags einen Schutzantrag nach § 765a ZPO nicht (neu) stellen und diesen auch nicht erstmals mit der Beschwerde gegen den Zuschlag anbringen. Der Zuschlagsbeschluss könne im Beschwerdeweg nur in den in § 100 ZVG aufgeführten Fällen aufgehoben werden, in denen dem Vollstreckungsgericht ein wesentlicher Rechtsfehler unterlaufen sei

III.

5

Diese Ausführungen halten einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Die nach § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ZPO statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet.

6

1.

Ohne Erfolg bleibt allerdings die erstmals im Rechtsbeschwerdeverfahren erhobene Rüge, es liege ein Zuschlagsversagungsgrund gemäß § 83 Nr. 1 ZVG vor, weil nach Nr. 6 der Hinweise des Vollstreckungsgerichts an Bietinteressenten die Ausweispapiere bei der Gebotsabgabe vorzulegen seien, dem Protokoll über den Versteigerungstermin jedoch nicht entnommen werden könne, dass sich der Beteiligte zu 5 ausgewiesen habe. Die Unbeachtlichkeit dieser Rüge folgt bereits daraus, dass die Rechtsbeschwerde nur auf Rechtsfehler der Entscheidung des Beschwerdegerichts gestützt werden kann (§ 576 Abs. 1 ZPO) und ein solcher schon deshalb nicht in Betracht kommt, weil das Beschwerdegericht einen etwaigen Zuschlagsversagungsgrund nach § 83 Nr. 1 ZVG nur auf eine Beanstandung des Beschwerdeführers hin prüfen musste (vgl. § 100 Abs. 3 ZVG). Eine solche ist in den Vorinstanzen jedoch nicht erhoben worden. Im Übrigen erfasst § 83 Nr. 1 ZVG nur eine Verletzung von Versteigerungsbedingungen im Sinne des Gesetzes (§§ 44 bis 65 ZVG).

7

2.

Rechtsfehlerhaft nimmt das Beschwerdegericht aber an, dass der nach Erteilung des Zuschlags gestellte Vollstreckungsschutzantrag des Beschwerdeführers (§ 765a ZPO) unbeachtlich sei. Das Gegenteil ergibt sich aus der von ihm zitierten Entscheidung des Bundesgerichtshofs (vom 24. November 2005 - V ZB 99/05, NJW 2006, 505) und der herangezogenen Kommentierung von Stöber (ZVG, 19. Aufl., Einleitung 59.10 b) sowie aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (NJW 2007, 2910 [BVerfG 11.07.2007 - 1 BvR 501/07]).

8

Zwar kann ein Zuschlagsbeschluss im Beschwerdeweg grundsätzlich nur in den in § 100 ZVG aufgeführten Fällen aufgehoben werden, in denen dem Vollstreckungsgericht ein wesentlicher Rechtsfehler unterlaufen ist. Die verfassungsrechtliche Schutzpflicht der Vollstreckungsorgane aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zwingt aber zu einer Ausnahme, wenn der durch den Zuschlag eintretende Eigentumsverlust zu einer konkreten Suizidgefahr bei dem Schuldner oder einem seiner Angehörigen führt. In diesem Fall ist es selbst dann, wenn die Suizidgefahr ein neuer Umstand ist, den das Vollstreckungsgericht (so) noch nicht hat wahrnehmen können, in keinem Fall gerechtfertigt, dass das Beschwerdegericht vor der nunmehr (möglicherweise) bestehenden Gefahr die Augen verschließt und unter Berufung auf die formale Verfahrensgestaltung eine Entscheidung bestehen lässt, die Ursache für den Tod des Schuldners werden kann (Senat, Beschluss vom 24. November 2005 - V ZB 99/05, NJW 2006, 505 Rn. 19 u. 24). Dabei spielt es keine Rolle, ob sich die auf den Zuschlagsbeschluss zurückzuführende Gefahr der Selbsttötung erstmals nach dessen Erlass gezeigt hat und deshalb erstmals mit der dagegen gerichteten sofortigen Beschwerde geltend gemacht wird, oder ob sie latent bereits vor dem Zuschlag vorhanden war und sich durch diesen im Rahmen eines dynamischen Geschehens weiter vertieft hat. Die fehlende inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Vorbringen des Schuldners zu einer möglichen Suizidgefahr verletzt in beiden Fällen Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG (BVerfG, NJW 2007, 2910 Rn. 11 f. [BVerfG 11.07.2007 - 1 BvR 501/07]). Erst wenn der Zuschlagsbeschluss rechtskräftig ist, kommt ein Vollstreckungsschutzantrag nach § 765a ZPO mit dem Ziel der Aufhebung des Zuschlags nicht mehr in Betracht (Senat, Beschluss vom 1. Oktober 2009 - V ZB 37/09, WM 2010, 522; BVerfG, WM 2010, 767 [BVerfG 03.03.2010 - 2 BvR 2696/09]).

IV.

9

Der angefochtene Beschluss kann daher keinen Bestand haben, er ist aufzuheben (§ 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO). Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin:

10

Es wird zunächst zu prüfen sein, ob nach dem Vortrag des Rechtsbeschwerdeführers bei einem endgültigen Eigentumsverlust durch Eintritt der Rechtskraft des Zuschlagsbeschlusses - und nicht erst im Hinblick auf die drohende Zwangsräumung (zur Unterscheidung: Senat, Beschluss vom 24. November 2005 - V ZB 99/05, NJW 2006, 505 Rn. 23 f.; BVerfG, NJW 2007, 2910 Rn. 13 f. [BVerfG 11.07.2007 - 1 BvR 501/07]) - ernsthaft mit seinem Suizid zu rechnen ist (vgl. Senat, Beschluss vom 7. Oktober 2010 - V ZB 82/10, WM 2011, 74 Rn. 23). Der Nachweis, dass es bei Fortsetzung des Verfahrens in jedem Fall zu einer Selbsttötung kommen wird, ist nicht erforderlich (vgl. Senat, Beschluss vom 7. Oktober 2010 - V ZB 82/10, WM 2011, 74 Rn. 23).

11

Zu beachten ist, dass der Rechtsbeschwerdeführer nicht verpflichtet ist, das Gericht bereits durch seinen Vortrag oder durch die vorgelegten Atteste davon zu überzeugen, dass eine konkrete Suizidgefahr besteht. Die Richtigkeit einer schlüssigen Behauptung muss sich, wie auch sonst in Verfahren, die nach der Zivilprozessordnung durchzuführen sind, im Rahmen der Beweisaufnahme erweisen. Da das Gericht die Ernsthaftigkeit einer Suizidgefahr mangels eigener medizinischer Sachkunde ohne sachverständige Hilfe in aller Regel nicht beurteilen kann, ist es im Zweifel gehalten, einem Antrag des Schuldners auf Einholung eines Sachverständigengutachtens nachzugehen (vgl. BVerfG FamRZ 2005, 1972, 1973 mwN; vgl. auch Senat, Beschluss vom 2. Dezember 2010 - V ZB 124/10, [...], und Beschluss vom 16. Dezember 2010 - V ZB 215/09, [...]).

12

Ist danach eine konkrete Suizidgefahr aufgrund einer endgültigen Zuschlagserteilung zu bejahen, wird weiter zu prüfen sein, ob dieser Gefahr auf andere Weise als durch die Versagung des Zuschlags und die vorläufige Einstellung der Zwangsvollstreckung wirksam begegnet werden kann, zum Beispiel durch eine vorläufige Unterbringung des Rechtsbeschwerdeführers (vgl. näher Senat, Beschluss vom 14. Juni 2007 - V ZB 28/07, NJW 2007, 3719, 3720 f.). Für das in diesem Fall notwendige Verfahren zur Vermeidung einer Blockade zwischen Vollstreckungs- und Betreuungsgericht wird auf den Beschluss des Senats vom 15. Juli 2010 (V ZB 1/10, NJW-RR 2010, 1649 Rn. 12 f.) verwiesen. Verspricht auch eine solche Maßnahme keinen Erfolg, muss über die Zuschlagsversagung anhand einer am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierten Würdigung der Gesamtumstände entschieden werden, bei der sowohl den dem Schuldner in der Zwangsvollstreckung gewährleisteten Grundrechten als auch den gewichtigen, ebenfalls grundrechtlich geschützten Interessen der anderen Beteiligten des Zwangsvollstreckungsverfahrens Rechnung getragen wird.

Krüger
Stresemann
Roth
Brückner
Weinland

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