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Bundesgerichtshof
Beschl. v. 23.11.2010, Az.: 3 StR 410/10
Voraussetzungen der Darlegung einer Widerstandsunfähigkeit i.S.d. § 179 Abs. 1 Nr. 1 Strafgesetzbuch (StGB) bei geistiger Behinderung des Tatopfers
Gericht: BGH
Entscheidungsform: Beschluss
Datum: 23.11.2010
Referenz: JurionRS 2010, 29255
Aktenzeichen: 3 StR 410/10
ECLI: [keine Angabe]

Verfahrensgang:

vorgehend:

LG Kleve - 19.07.2010

Fundstellen:

NStZ 2011, 210

StRR 2011, 83 (red. Leitsatz)

StV 2011, 225-226

BGH, 23.11.2010 - 3 StR 410/10

Redaktioneller Leitsatz:

  1. 1.

    Widerstandsunfähig im Sinne des § 179 Abs. 1 Nr. 1 StGB ist, wer aus den in dieser Vorschrift genannten Gründen keinen zur Abwehr ausreichenden Widerstandswillen bilden, äußern oder durchsetzen kann. Dabei genügt es, dass das Tatopfer nur vorübergehend widerstandsunfähig ist.

  2. 2.

    Als Ursache einer solchen Unfähigkeit kommen nicht nur geistig-seelische Erkrankungen, sondern auch sonstige geistig-seelische Beeinträchtigungen in Betracht, die sich etwa aus einem Zusammentreffen einer besonderen Persönlichkeitsstruktur des Opfers und seiner Beeinträchtigung durch die Tatsituation infolge Überraschung, Schrecks oder Schocks ergeben.

  3. 3.

    Der Tatrichter hat - gegebenenfalls mit Hilfe eines Sachverständigen - aufgrund einer Gesamtbetrachtung, in die auch das aktuelle Tatgeschehen einzubeziehen ist - die geistig-seelische Verfassung des Tatopfers und deren Auswirkungen auf das Opferverhalten zu prüfen und in den Urteilsgründen darzulegen.

  4. 4.

    Die bloße Feststellung einer geistigen Behinderung des Opfers (hier zu 100%) belegt allein die Annahme von Widerstandsunfähigkeit nicht.

Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat
nach Anhörung des Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers
am 23. November 2010
gemäß § 349 Abs. 4 StPO
einstimmig beschlossen:

Tenor:

Auf die Revision des Beschuldigten wird das Urteil der auswärtigen großen Strafkammer des Landgerichts Kleve in Moers vom 19. Juli 2010 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

1

Das Landgericht hat die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Hiergegen wendet sich der Beschuldigte mit seiner Revision, mit der er die Verletzung sachlichen Rechts rügt. Das Rechtsmittel hat Erfolg.

2

1.

Nach den Feststellungen öffnete der Beschuldigte in drei Fällen die Hose der zu 100 % geistig behinderten Zeugin und führte jeweils einen Finger in deren Scheide ein. Die Geschädigte war aufgrund ihrer geistigen Behinderung unfähig, die von ihr abgelehnten sexuellen Übergriffe abzuwehren. Dies nutzte der Beschuldigte aus, der wusste, dass die Frau die sexuellen Handlungen nicht wollte und aufgrund ihrer Behinderung zum Widerstand außerstande war. Wegen eines bei einem Verkehrsunfall erlittenen Frontalhirnsyndroms, das tiefgreifende Veränderungen in der Äußerung der Affekte, Bedürfnisse und Impulse bewirkt hatte, war der Beschuldigte zum Zeitpunkt der Taten nicht in der Lage, sein Verhalten entsprechend seiner erhalten gebliebenen Unrechtseinsicht zu steuern.

3

Das Landgericht ist auf der Grundlage dieser Feststellungen davon ausgegangen, der Beschuldigte habe im Zustand der Schuldunfähigkeit in drei Fällen eine widerstandsunfähige Person sexuell missbraucht. Es hat seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet, weil von ihm in vergleichbaren Reizsituationen gleichartige Taten zu erwarten seien und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich sei. Wegen der Unberechenbarkeit des Beschuldigten erscheine eine von seinem Einverständnis abhängige Kontrolle durch die Ehefrau nicht ausreichend, um den Schutz der Allgemeinheit auch ohne Vollstreckung der Maßregel zu gewährleisten.

4

2.

Gegen die angeordnete Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus bestehen durchgreifende rechtliche Bedenken.

5

a)

Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB setzt neben der positiven Feststellung einer auf einem länger andauernden, nicht nur vorübergehenden geistigen Defekt beruhenden Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) oder erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) voraus, dass die unterzubringende Person eine rechtswidrige Tat begangen hat, in der sich die geistige Störung manifestiert. Weiterhin muss die Gesamtwürdigung von Tat und Täter ergeben, dass von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist.

6

b)

Das Landgericht hat zwar rechtsfehlerfrei festgestellt, dass die Steuerungsfähigkeit des Beschuldigten wegen einer krankhaften seelischen Störung bei den ihm zur Last liegenden Taten aufgehoben war. Die Beweiswürdigung belegt aber nicht die für den objektiven Tatbestand des sexuellen Missbrauchs widerstandsunfähiger Personen entscheidende Feststellung, die Geschädigte sei bei den sexuellen Übergriffen widerstandsunfähig gewesen.

7

Widerstandsunfähig im Sinne des § 179 Abs. 1 Nr. 1 StGB ist, wer aus den in dieser Vorschrift genannten Gründen keinen zur Abwehr ausreichenden Widerstandswillen bilden, äußern oder durchsetzen kann. Dabei genügt es, dass das Tatopfer nur vorübergehend widerstandsunfähig ist. Als Ursache einer solchen Unfähigkeit kommen nicht nur geistig-seelische Erkrankungen, sondern auch sonstige geistig-seelische Beeinträchtigungen in Betracht, die sich etwa aus einem Zusammentreffen einer besonderen Persönlichkeitsstruktur des Opfers und seiner Beeinträchtigung durch die Tatsituation infolge Überraschung, Schreck oder Schock ergeben. Der Tatrichter hat - gegebenenfalls mit Hilfe eines Sachverständigen - aufgrund einer Gesamtbetrachtung, in die auch das aktuelle Tatgeschehen einzubeziehen ist, die geistig-seelische Verfassung des Tatopfers und deren Auswirkungen auf das Opferverhalten zu prüfen und in den Urteilsgründen darzulegen (BGH, Urteil vom 15. März 1989 - 2 StR 662/88, BGHSt 36, 145, 147).

8

Diesen Maßstäben wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Die Strafkammer hat seine Überzeugung von der Widerstandsunfähigkeit der Geschädigten nicht begründet, so dass für den Senat nicht nachprüfbar ist, ob sie zu Recht von einer psychischen Widerstandsunfähigkeit der Zeugin ausgegangen ist. Sie hat sich lediglich mit Hilfe eines aussagepsychologischen Sachverständigengutachtens von der Aussagetüchtigkeit der Geschädigten sowie der Glaubhaftigkeit ihrer Angaben überzeugt. Den Urteilsgründen lässt sich schon nicht entnehmen, was Grundlage der Feststellung ist, die Geschädigte sei zu 100 % geistig behindert. Entscheidend kommt hinzu, dass die bloße Feststellung einer geistigen Behinderung allein die Annahme von Widerstandsunfähigkeit nicht belegt (BGH, Beschluss vom 21. April 2005 - 4 StR 89/05, NStZ-RR 2005, 232; BGH, Beschluss vom 1. April 2003 - 4 StR 96/03, NStZ 2003, 602; BGH, Beschluss vom 13. November 2002 - 4 StR 438/02, BGHR StGB § 179 I Widerstandsunfähigkeit 9; Fischer, StGB, 57. Aufl., § 179 Rn. 9). Ein fachpsychiatrisches Gutachten zur Schwere der geistigen Behinderung und deren Auswirkungen auf die Widerstandsfähigkeit der Geschädigten zu den Tatzeitpunkten wurde ausweislich der Urteilsgründe nicht erstattet. Der persönliche Eindruck von der Geschädigten in der Hauptverhandlung lässt eine Aussage über deren Widerstandsfähigkeit gegen sexuelle Übergriffe schwerlich zu. Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung.

Becker
von Lienen
Sost-Scheible
Hubert
Mayer

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