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Bundesfinanzhof
Urt. v. 15.06.2016, Az.: III R 6/16
Kindergeldberechtigung der in Deutschland lebenden polnischen Mutter eines in Polen mit dem Vater lebenden Kindes
Gericht: BFH
Entscheidungsform: Urteil
Datum: 15.06.2016
Referenz: JurionRS 2016, 26731
Aktenzeichen: III R 6/16
ECLI: [keine Angabe]

Verfahrensgang:

vorgehend:

FG Berlin-Brandenburg - 21.02.2013 - AZ: 5 K 5041/11

Rechtsgrundlagen:

§ 31 S. 1 EStG

§ 64 Abs. 1 EStG

§ 64 Abs. 2 S. 1 EStG

VO Nr. 883/2004 Art. 67

VO Nr. 883/2004 Art. 68

VO Nr. 987/2009 Art. 60 Abs. 1 S. 2

Fundstelle:

BFH/NV 2016, 1715-1716

BFH, 15.06.2016 - III R 6/16

Redaktioneller Leitsatz:

1. Der in einem anderen EU-Mitgliedstaat lebende Elternteil kann gegenüber dem im Inland lebenden Elternteil nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG i.V.m. Art. 67 der VO Nr. 883/2004, Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 vorrangig kindergeldberechtigt sein, wenn er sein Kind dort in seinen Haushalt aufgenommen hat (Anschluss an BFH-Urteil vom 4. Februar 2016 III R 17/13, BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612 [BFH 04.02.2016 - III R 17/13]).

2. Die nach Art. 67 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 vorzunehmende Fiktion bewirkt, dass die Wohnsituation auf Grundlage der im Streitzeitraum im anderen EU-Mitgliedstaat gegebenen Verhältnisse (fiktiv) ins Inland übertragen wird.

3. Dem steht nicht entgegen, dass das Kindergeld Teil des Familienleistungsausgleichs (§ 31 EStG) ist und dass der Kindesvater selbst keinen Antrag auf Kindergeld in Deutschland gestellt hat.

Tenor:

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 21. Februar 2013 5 K 5041/11 im Kostenausspruch ganz und im Übrigen insoweit aufgehoben, als es den Streitzeitraum Mai 2010 bis Januar 2011 betrifft.

Insoweit wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des finanzgerichtlichen Verfahrens hat die Klägerin zu 85 %, die Beklagte zu 15 % zu tragen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens hat die Klägerin zu tragen.

Gründe

1

I. Streitig ist Kindergeld für den Zeitraum Mai 2010 bis Januar 2011. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist polnische Staatsangehörige und Mutter des im August 1995 geborenen Sohnes (S), der bei ihrem früheren Ehemann, dem Vater ihres Sohnes, in Polen lebt. Die Klägerin lebt mit ihrem jetzigen Ehemann in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland).

2

Die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) lehnte mit Bescheid vom 20. November 2009 den Antrag der Klägerin auf Kindergeld für S ab. Der dagegen gerichtete Einspruch blieb erfolglos (Einspruchsentscheidung vom 11. Januar 2011).

3

Das Finanzgericht (FG) gab der dagegen gerichteten Klage, mit welcher die Klägerin Kindergeld für S für den Zeitraum Oktober 2008 bis Januar 2011 begehrte, teilweise statt. Es verpflichtete die Familienkasse, Kindergeld für S für den Zeitraum Januar 2010 bis Januar 2011 festzusetzen. Im Übrigen wies es die Klage ab. Zur Begründung der Klagestattgabe führte das FG aus, dass der Kindsvater mangels eines Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts im Inland nicht kindergeldberechtigt sei. § 64 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) sei daher nicht anwendbar.

4

Nach Zulassung der Revision durch den Bundesfinanzhof (BFH) für den Zeitraum Mai 2010 bis Januar 2011 rügt die Familienkasse die Verletzung des § 64 EStG.

5

Die Familienkasse beantragt,

das angefochtene Urteil, soweit es den Zeitraum Mai 2010 bis Januar 2011 betrifft, aufzuheben und die Klage abzuweisen.

6

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

7

Mit Beschluss vom 26. Februar 2015 hat der BFH das Verfahren bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) über das bei ihm anhängige Vorabentscheidungsersuchen C-378/14 ausgesetzt. Der EuGH hat mit Urteil vom 22. Oktober 2015 C-378/14 (EU:C:2015:720, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 2015, 1190) über die Vorlagefragen entschieden.

8

II. Die Revision ist begründet. Sie führt, soweit das Urteil mit der Revision angegriffen wurde, zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung —FGO—). Das FG hat zu Unrecht entschieden, dass der Anspruch auf Kindergeld (vorrangig) der Klägerin zusteht. Die Klägerin ist zwar nach nationalem Recht anspruchsberechtigt (§§ 62 ff. EStG). Die Anwendung von Unionsrecht führt jedoch dazu, dass der Anspruch auf Kindergeld gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig dem (geschiedenen) Ehemann und Kindsvater zusteht.

9

1. Die Klägerin erfüllt die Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 EStG. Dies wurde —für den Senat bindend (vgl. § 118 Abs. 2 FGO)— vom FG festgestellt und ist zwischen den Beteiligten auch nicht streitig. Für die Kindergeldberechtigung ist unerheblich, dass der Sohn im Streitzeitraum seinen Wohnsitz in Polen hatte (§ 63 Abs. 1 Satz 3 EStG).

10

2. Der Kindsvater, der seinen Sohn in seinen Haushalt aufgenommen hat, ist allerdings vorrangig anspruchsberechtigt. Denn nach § 64 Abs. 1 EStG wird das Kindergeld nur einem Berechtigten gezahlt. Bei mehreren Berechtigten wird das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG), hier also dem Kindsvater.

11

a) Die Anspruchsberechtigung des Kindsvaters folgt hier aus § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG. Zwar liegt der nach dieser Vorschrift erforderliche Inlandswohnsitz tatsächlich nicht vor. Es ist aber gemäß Art. 67 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Amtsblatt der Europäischen Union —ABlEU— 2004 Nr. L 166, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung —VO Nr. 883/2004 (Grundverordnung)— i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABlEU 2009 Nr. L 284, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung —VO Nr. 987/2009 (Durchführungsverordnung)— zu unterstellen, dass der Kindsvater mit S in Deutschland wohnt.

12

aa) Der Anwendungsbereich der VO Nr. 883/2004 ist im Streitfall eröffnet und Deutschland ist der zuständige Mitgliedstaat.

13

Die Klägerin ist polnische Staatsangehörige und fällt damit nach Art. 2 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 in den persönlichen Anwendungsbereich der Grundverordnung. Ebenso ist das Kindergeld nach dem EStG eine Familienleistung i.S. des Art. 1 Buchst. z der VO Nr. 883/2004, sodass auch deren sachlicher Anwendungsbereich nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der VO Nr. 883/2004 eröffnet ist.

14

Nach Art. 11 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 unterliegen die von dieser Verordnung erfassten Personen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Im Streitfall ergibt sich die Anwendung der deutschen Rechtsvorschriften jedenfalls aus Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der VO Nr. 883/2004.

15

bb) Aus Art. 67 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 folgt, dass die Wohnsituation des Kindsvaters (fiktiv) in das Inland übertragen wird.

16

Zur weiteren Begründung verweist der Senat auf die Urteile vom 4. Februar 2016 III R 17/13 (BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612, [BFH 04.02.2016 - III R 17/13] Rz 18 bis 19) und vom 28. April 2016 III R 68/13, BFHE ...,Rz 15 ff.

17

b) Der Kindsvater erfüllt neben dem Wohnsitzerfordernis auch die übrigen Voraussetzungen für einen vorrangigen Kindergeldanspruch.

18

Es bestehen weder Anhaltspunkte dafür, dass der Kindsvater ein nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer i.S. des § 62 Abs. 2 EStG ist, noch dass er mit der Klägerin einen gemeinsamen Haushalt im Streitzeitraum in Polen hatte (§ 64 Abs. 2 Satz 2 EStG). Letzterer ergibt sich auch nicht aus der Fiktionswirkung des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009.

19

c) Schließlich kommt es nicht darauf an, ob der Kindsvater selbst einen Antrag auf Kindergeld in Deutschland gestellt hat. Insoweit verweist der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen auf das Senatsurteil vom 28. April 2016 III R 68/13, Rz 27 ff.

20

3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 143 Abs. 1, § 136 Abs. 1 FGO.

21

Da die Revision der Familienkasse Erfolg hat, kann die Kostenentscheidung des FG keinen Bestand haben. Der Senat hält es für angemessen, über die Kosten nach Verfahrensabschnitten zu entscheiden. Auch eine solche Entscheidung wahrt den Grundsatz der Einheitlichkeit der Kostenentscheidung (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 30. April 2014 XI R 24/13, BFHE 245, 66, BStBl II 2014, 1014, Rz 38, m.w.N.). Danach haben nach dem Verhältnis des jeweiligen Obsiegens und Unterliegens die Kosten des Verfahrens vor dem FG die Klägerin zu 85 %, die Beklagte zu 15 % zu tragen. Die Kosten des Revisionsverfahrens hat die Klägerin zu tragen.

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