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Bundesarbeitsgericht
Urt. v. 11.07.2012, Az.: 10 AZR 287/11
Arbeitsentgelt (Psychiatriezulage); Tätigkeit in einer halbgeschlossenen Station (AVR Caritas)
Gericht: BAG
Entscheidungsform: Urteil
Datum: 11.07.2012
Referenz: JurionRS 2012, 29155
Aktenzeichen: 10 AZR 287/11
ECLI: [keine Angabe]

Verfahrensgang:

vorgehend:

LAG Niedersachsen - 21.02.2011 - AZ: 12 Sa 1249/10

Rechtsgrundlage:

Anmerkung VI Nr. 1 (1) der Anlage 2 Buchst. a) Richtlinien für Arbeitsverträge in den Einrichtungen des Deutschen Caritasverbandes (AVR)

Fundstellen:

AuR 2012, 415

AUR 2012, 415

NZA 2012, 1392

PflR 2013, 213-215

ZTR 2012, 638-640

BAG, 11.07.2012 - 10 AZR 287/11

Orientierungssatz:

1. Wird eine psychiatrische Station, die nur zeitweise und nur wegen einzelner Patienten geschlossen wird, nach Konzeption und praktischer Umsetzung durch die Behandlung von Patienten mit richterlichem oder ärztlichem Stationsgebot geprägt, so ist sie "halbgeschlossen" iSv. Anmerkung VI Nr. 1 (1) der Anlage 2a der AVR.

2. Es ist nicht erforderlich, dass die Schließzeiten zeitlich überwiegen, sie müssen aber die Arbeit auf der Station mit prägen. Es unterliegt tatrichterlicher Würdigung, ob nach Konzeption und praktischer Umsetzung eine halbgeschlossene Abteilung oder Station vorliegt.

In Sachen

Beklagte, Berufungsklägerin, Berufungsbeklagte und Revisionsklägerin,

pp.

Klägerin, Berufungsbeklagte, Berufungsklägerin und Revisionsbeklagte,

hat der Zehnte Senat des Bundesarbeitsgerichts aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 11. Juli 2012 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesarbeitsgericht Prof. Dr. Mikosch, die Richter am Bundesarbeitsgericht Schmitz-Scholemann und Mestwerdt sowie die ehrenamtlichen Richter Züfle und Effenberger für Recht erkannt:

Tenor:

1. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen vom 21. Februar 2011 - 12 Sa 1249/10 - wird zurückgewiesen. Der Tenor des angefochtenen Urteils wird wie folgt neu gefasst:

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Nienburg vom 17. Juni 2010 - 3 Ca 663/09 - wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Beklagte verurteilt wird, an die Klägerin 828,36 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 19. Dezember 2009 sowie 276,12 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 9. Juni 2010 zu zahlen.

Auf die Berufung der Klägerin wird die Beklagte verurteilt, an die Klägerin weitere 322,14 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 19. Dezember 2009 zu zahlen.

Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

2. Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.

Von Rechts wegen!

Tatbestand

1

Die Parteien streiten über eine Zulage (Psychiatriezulage).

2

Die Klägerin ist für die Beklagte als Krankenschwester tätig. Nach § 2 des Dienstvertrags gelten für das Dienstverhältnis die "Richtlinien für Arbeitsverträge in den Einrichtungen des Deutschen Caritasverbandes" (AVR) in ihrer jeweils geltenden Fassung. Die Klägerin bezieht eine Vergütung aus der Vergütungsgruppe Kr 5a.

3

Anmerkung VI Nr. 1 (1) der Anlage 2a der AVR (Anmerkungen zu den Tätigkeitsmerkmalen der Vergütungsgruppen Kr 1 bis Kr 14) regelt Folgendes:

"(1) Pflegepersonen der Vergütungsgruppen Kr 1 bis Kr 7, die die Grund- und Behandlungspflege zeitlich überwiegend bei

a) ...

b) Kranken in geschlossenen oder halbgeschlossenen (Open-door-system) psychiatrischen Abteilungen oder Stationen,

...

ausüben, erhalten für die Dauer dieser Tätigkeit eine monatliche Zulage von 46,02 Euro."

4

Die Klägerin arbeitet auf der allgemeinpsychiatrischen Akut-Station V mit maximal 22 Betten. Nach richterlicher Anordnung einer geschlossenen Unterbringung eines Patienten wird die Station stunden-, tage- oder wochenlang vollständig und unabhängig davon geschlossen, ob mehrere Patienten oder nur ein Patient einem solchen Stationsgebot unterliegen. In den Schließzeiten übt das Pflegepersonal die Schlüsselgewalt über die Station aus. Patienten mit einer richterlichen Anordnung auf geschlossene Unterbringung können die Station nicht verlassen, den übrigen Patienten muss in dieser Zeit auf Bitten geöffnet werden. In den Monaten Mai 2008, August bis Dezember 2008 und November 2009 wurde keine Unterbringung richterlich angeordnet.

5

Die Klägerin begehrt Zahlung der Zulage für den Zeitraum November 2007 bis Mai 2010. Sie vertritt die Auffassung, die Station V sei eine halbgeschlossene Station im Sinne der Anmerkung VI Nr. 1 (1) Buchst. b der Anlage 2a zu den AVR.

6

Die Klägerin hat beantragt,

1. die Beklagte zu verurteilen, an sie 1.150,50 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen;

2. die Beklagte zu verurteilen, an sie weitere 276,12 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

7

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

8

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen, soweit sie auf Zahlung der Zulage für Monate ohne Schließzeiten gerichtet ist, und ihr im Übrigen stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat der Klage in vollem Umfang entsprochen. Mit der zugelassenen Revision begehrt die Beklagte weiterhin Abweisung der Klage.

Entscheidungsgründe

9

Die Revision ist unbegründet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Zahlung der Zulage gemäß Anmerkung VI Nr. 1 (1) Buchst. b der Anlage 2a zu den AVR. Sie ist Pflegeperson der Vergütungsgruppen Kr 1 bis Kr 7 und übt zeitlich überwiegend Grund- und Behandlungspflege an Kranken in einer halbgeschlossenen (Open-door-system) psychiatrischen Abteilung aus. Die Station V der Beklagten ist eine halbgeschlossene Station im Sinne der Vorschrift.

10

I. Der Senat hat zur wortgleichen Tarifnorm der Protokollerklärung Nr. 1 (1) Buchst. b der Anlage 1b zum BAT die Auffassung vertreten, es sei im Hinblick auf die in der Station betreuten Patienten zu beurteilen, ob eine Station geschlossen oder halbgeschlossen sei. In beiden Fällen stehe die Schlüsselgewalt ausschließlich dem Pflegepersonal zu. Auf einer geschlossenen Station dürften die Patienten die Station grundsätzlich nicht verlassen, während auf einer halbgeschlossenen Station der einzelne Patient mit Zustimmung einer verantwortlichen Person die Station verlassen dürfe. Die von psychisch kranken Menschen ausgehende Gefahr für sie selbst, für andere Patienten und für das Pflegepersonal müsse es erforderlich machen, die Station in gewissem Umfange geschlossen zu halten, um so eine ständige Übersicht über den Aufenthalt der Patienten und die Anwesenheit von Personen zu haben, die durch die Patienten gefährdet werden können. Ausreichend sei, dass die Station sich nur für einen Teil der Patienten als geschlossene Station darstelle. Die Pflegezulage diene der Abgeltung der durch diese besonderen Gegebenheiten bedingten Erschwernisse der Arbeit (BAG 14. Januar 2004 - 10 AZR 17/03 - zu II 2 a der Gründe, AP BAT §§ 22, 23 Zulagen Nr. 39; 12. November 1997 - 10 AZR 772/96 - zu II 2 der Gründe, AP BAT § 33 Nr. 15; 6. November 1996 - 10 AZR 214/96 - zu II 2 der Gründe, ZTR 1997, 129; 6. Dezember 1995 - 10 AZR 3/95 - zu II 2 a der Gründe, ZTR 1996, 219).

11

II. Daran hält der Senat fest. Davon ausgehend liegt eine halbgeschlossene Station (Open-door-system) im Sinne der Vorschrift auch dann vor, wenn die Station nach Konzeption und Praxis nicht ständig, sondern (aufgrund richterlicher oder ärztlicher Anordnung) nur zeitweise geschlossen ist.

12

1. Bereits der Wortlaut der Regelung, von dem bei der Auslegung von AVR wie bei der Tarifauslegung zunächst auszugehen ist (zu den Grundsätzen der Auslegung von AVR: BAG 21. Oktober 2009 - 10 AZR 786/08 - Rn. 28, AP AVR Caritasverband Anlage 1 Nr. 5; 17. Juli 2008 - 6 AZR 635/07 - Rn. 9, AP AVR Caritasverband Anlage 1 Nr. 4), legt nahe, dass eine zeitweise aufgrund richterlicher (oder ärztlicher) Anordnung geschlossene Station "halbgeschlossen" im Sinne der Vorschrift ist. Der erläuternde Klammerzusatz ("Open-door-system"), der für eine offene stationäre Psychiatriebehandlung steht (Neuenschwander/Meyer/Hell Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 2003, 20, 21), schließt eine Station, die grundsätzlich offen geführt, aber im Bedarfsfall jederzeit geschlossen werden kann, als teiloffene Station mit ein (Neuenschwander/Meyer/Hell aaO.). Dem Adverb "halb" kommt nach gängigem Sprachgebrauch auch die Bedeutung "teilweise" zu (Duden Das große Wörterbuch der deutschen Sprache 3. Aufl. Stichwort "halb").

13

2. Nach der Regelungssystematik der Vorschrift wird der Anspruch sowohl in einer geschlossenen wie in einer halbgeschlossenen Station in gleicher Höhe ausgelöst. Die Systematik der Vorschrift erfordert die Abgrenzung gegenüber einer offenen Station, in der ein Anspruch auf die Zulage nicht entstehen kann. Eine offene Station (Tagesklinik, psychiatrische Wohngruppen etc.) wird nach medizinischer Konzeption und praktischer Umsetzung nicht oder nur in Notfällen geschlossen (zB weil eine angeordnete Unterbringung in einer dafür vorgesehenen geschlossenen oder halbgeschlossenen Station nicht realisiert werden kann), sie ist aber nicht für die Behandlung von Patienten mit richterlichem oder ärztlichem Stationsgebot ausgelegt. In einer offenen Station kann ein Anspruch auf die Zulage auch für gelegentliche Zeiten einer Schließung nicht entstehen, weil die Unterbringung von Patienten mit Stationsgebot nach der Konzeption einer offenen Station nicht vorgesehen ist und tatsächlich auch nicht in nennenswertem Umfang vorkommt. Gibt dagegen die Behandlung von Patienten mit richterlichem oder ärztlichem Stationsgebot einer Station nach Konzeption und praktischer Umsetzung das Gepräge, so ist sie "halbgeschlossen" im Sinne der Vorschrift. Es ist nicht erforderlich, dass Schließzeiten zeitlich überwiegen, sie müssen aber die Arbeit auf der Station mit prägen. Eine rein rechnerische Betrachtung greift dabei zu kurz; es unterliegt tatrichterlicher Würdigung, ob nach Konzeption und praktischer Umsetzung im Einzelfall eine halbgeschlossene Abteilung oder Station vorliegt. Aus der gebotenen Abgrenzung zu einer offenen Station ergibt sich, dass geringfügige Schließzeiten den Anspruch auf die Zulage nicht begründen können (vgl. BAG 6. November 1996 - 10 AZR 214/96 - zu II 2 der Gründe, ZTR 1997, 129).

14

3. Entgegen der Auffassung der Revision ist nicht erheblich, ob eine bestimmte Anzahl von Patienten oder nur ein Patient dem Stationsgebot unterliegt. Auch ein einzelner Patient kann ein erhebliches Gefahrenpotenzial für sich, andere Patienten oder das Pflegepersonal darstellen. Das Pflegepersonal muss auch bei nur einem untergebrachten Patienten erhöhte Achtsamkeit walten lassen, um die ständige Übersicht über dessen Aufenthalt sowie den möglicherweise gefährdeter weiterer Personen zu behalten und in Konfliktfällen eingreifen zu können. Da mit der Zulage Erschwernisse ausgeglichen werden sollen, die mit typischerweise notwendigen Zwangsmaßnahmen zusammenhängen (BAG 14. Januar 2004 - 10 AZR 17/03 - zu II 4 der Gründe, AP BAT §§ 22, 23 Zulagen Nr. 39), ist vorstehendes Verständnis der Vorschrift auch nach Sinn und Zweck der Regelung geboten.

15

4. Diese Auslegung führt zu vernünftigen, sachgerechten und praktisch brauchbaren Lösungen. Die Anzahl der Patienten, die aufgrund richterlicher Anordnung untergebracht werden müssen, ist nicht vorhersehbar, ein solcher Fall kann aber nach der medizinischen Konzeption in einer halbgeschlossenen Station jederzeit eintreten. Das Pflegepersonal muss immer mit einer Unterbringung rechnen und hat darauf keinen Einfluss. Entgegen der Auffassung der Revision verliert eine halbgeschlossene Station deshalb bei zwischenzeitlicher Öffnung ihren Charakter nicht, wenn auf Dauer erhebliche Schließzeiten vorliegen bzw. zu erwarten sind; eine nach Monaten mit und ohne Schließzeiten differenzierende Betrachtung greift zu kurz.

16

III. Die tatrichterliche Würdigung des Landesarbeitsgerichts, dass die psychiatrische Akutstation V der Beklagten halbgeschlossen im Sinne der Vorschrift ist, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Die Station ist nach dem für die Beklagte maßgeblichen § 15 Abs. 2 Satz 1 des Niedersächsischen Gesetzes über Hilfen und Schutzmaßnahmen für psychisch Kranke (NPsychKG) vom 16. Juni 1997 so ausgestattet, dass eine auf unterschiedliche Anforderungen abgestimmte Behandlung und Betreuung der untergebrachten Personen ermöglicht und deren Wiedereingliederung in die Gemeinschaft gefördert wird; die nach § 15 Abs. 2 Satz 2 Alt. 1 NPsychKG geforderten Voraussetzungen für eine geschlossene Unterbringung, insbesondere im Hinblick auf die notwendigen Sicherheitsvorkehrungen, liegen vor. Nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts war die Station im Streitzeitraum auch in nicht unerheblichem Umfang geschlossen.

17

IV. Die Höhe der Forderung steht zwischen den Parteien nicht im Streit. Der Zinsanspruch ergibt sich aus §§ 291, 288 Abs. 1 Satz 2 BGB. Die Klägerin hat Prozesszinsen geltend gemacht. Prozesszinsen sind in entsprechender Anwendung von § 187 Abs. 1 BGB erst ab dem Tag zu zahlen, der auf den Tag der Zustellung der Klage sowie einer Klageerweiterung folgt (BAG 19. Dezember 2007 - 5 AZR 1008/06 - Rn. 35, EzA BGB 2002 § 306 Nr. 3). Der Tenor des Berufungsurteils war wegen der Zinsentscheidung und der unterbliebenen Zurückweisung der Berufung der Beklagten klarstellend neu zu fassen.

18

V. Die Beklagte hat gemäß § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten der Revision zu tragen.

Mikosch
Schmitz-Scholemann
Mestwerdt
Züfle
Effenberger

Verhältnis zu bisheriger Rechtsprechung:

Fortführung von BAG 14. Januar 2004 - 10 AZR 17/03 - AP BAT §§ 22, 23 Zulagen Nr. 39; 12. November 1997 - 10 AZR 772/96 - AP BAT § 33 Nr. 15; 6. November 1996 - 10 AZR 214/96 - ZTR 1997, 129; 6. Dezember 1995 - 10 AZR 3/95 - ZTR 1996, 219

Branchenspezifische Problematik: Psychiatrie

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