Rechtswörterbuch

Nutzen Sie die Schnellsuche, um nach Themen im Rechtswörtebuch zu suchen!

Tarifeinheit

 Normen 

§ 4a TVG

Art. 9 Abs. 3 GG

 Information 

1. Hintergrund

Das Bundesarbeitsgericht hatte mit den Urteilen BAG 07.07.2010 - 4 AZR 537/08, BAG 23.06.2010 - 10 AS 2/10, BAG 27.01.2010 - 4 AZR 537/08 (A) seinen zuvor vertretenen Grundsatz der Tarifeinheit aufgegeben:

Das BAG vertrat die Auffassung, dass "die Rechtsnormen eines Tarifvertrags, die den Inhalt, den Abschluss und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen ordnen, in den jeweiligen Arbeitsverhältnissen eines Betriebes unmittelbar gelten und diese durch das Tarifvertragsgesetz vorgesehene Geltung nicht dadurch verdrängt wird, dass für den Betrieb kraft Tarifbindung des Arbeitgebers nach § 3 Abs. 1 TVG mehr als ein Tarifvertrag gilt, für Arbeitsverhältnisse derselben Art im Falle einer Tarifbindung eines oder mehrerer Arbeitnehmer allerdings jeweils nur ein Tarifvertrag".

Diese Rechtslage barg die Gefahr, dass die Koalitionen aufgrund der im Betrieb herrschenden Tarifkollision der ihnen durch Art. 9 Abs. 3 GG überantworteten und im allgemeinen Interesse liegenden Aufgabe der Ordnung und Befriedung des Arbeitslebens nicht mehr gerecht werden konnten. Der Gesetzgeber hat insofern das "Gesetz zur Tarifeinheit" erlassen und mit dem das Tarifvertragsgesetz und das Arbeitsgerichtsgesetz geändert wurden.

2. Herstellung der Tarifeinheit

2.1 Einführung

Die Vorgaben zur Tarifeinheit in § 4a TVG sehen das folgende Stufenverhältnis vor:

2.2 Vermeidung von Tarifkollisionen als Aufgabe der Gewerkschaften

Der Grundsatz der Tarifeinheit ist in § 4a TVG gesetzlich geregelt: Dadurch soll die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie gesichert werden. Es ist gemäß § 4a Abs. 1 TVG zunächst Aufgabe der Tarifvertragsparteien, durch autonome Entscheidungen Tarifkollisionen zu vermeiden. Nach der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 18/4062) kann dies insbesondere wie folgt erreicht werden:

  • Die Gewerkschaften stimmen ihre jeweiligen Zuständigkeiten ab und ihre Tarifverträge gelten somit für verschiedene Arbeitnehmergruppen (sogenannte gewillkürte Tarifpluralität).

  • Die Gewerkschaften verhandeln gemeinsam ihre Tarifverträge in einer Tarifgemeinschaft.

  • Die Gewerkschaften, ohne in einer Tarifgemeinschaft verbunden zu sein, schließen inhaltsgleiche Tarifverträge ab.

  • Eine Gewerkschaft zeichnet den Tarifvertrag einer anderen Gewerkschaft nach (sogenannter Anschlusstarifvertrag).

  • Innerhalb eines Zusammenschlusses mehrerer Gewerkschaften werden verbandsinterne Konfliktlösungsverfahren genutzt.

  • Eine Gewerkschaft gestattet die Ergänzung ihres Tarifwerks durch tarifvertragliche Regelungen einer anderen Gewerkschaft.

Der Grundsatz der Tarifeinheit greift als Kollisionsregel mithin nur subsidiär ein, wenn es den Tarifvertragsparteien im Wege autonomer Entscheidungen nicht gelingt, Tarifkollisionen zu vermeiden. Eine nach dem Grundsatz der Tarifeinheit auflösungsbedürftige Tarifpluralität ist nur dann vorgesehen, soweit sich die Geltungsbereiche verschiedener Tarifverträge verschiedener Gewerkschaften überschneiden (Tarifkollision).

2.3 Herstellung der Tarifeinheit bei Geltung von mehreren Tarifverträgen im Betrieb

§ 4a Abs. 2 TVG stellt klar, dass Arbeitgeber an die Tarifverträge mehrerer Gewerkschaften gebunden sein können. In diesem Fällen ist die Tarifeinheit nach den folgenden Vorgaben herzustellen:

§ 4a Abs. 2 S. 2 TVG regelt den Grundsatz der Tarifeinheit nach dem betrieblichen Mehrheitsprinzip. Ist ein Arbeitgeber an kollidierende Tarifverträge mehrerer Gewerkschaften gebunden, ist im Überschneidungsbereich der kollidierenden Tarifverträge nur der Tarifvertrag der Gewerkschaft anwendbar, die im Betrieb die meisten Arbeitnehmer organisiert. Der Grundsatz der Tarifeinheit betrifft mithin nicht das Verhältnis eines für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrags zu einem Tarifvertrag, an den der Arbeitgeber nach § 3 TVG gebunden ist.

Die Regelungen zur Tarifeinheit ändern nicht das Arbeitskampfrecht. Über die Verhältnismäßigkeit von Arbeitskämpfen, mit denen ein kollidierender Tarifvertrag erwirkt werden soll, wird allerdings im Einzelfall im Sinne des Prinzips der Tarifeinheit zu entscheiden sein. Der Arbeitskampf ist Mittel zur Sicherung der Tarifautonomie. Der Arbeitskampf dient nicht der Sicherung der Tarifautonomie, soweit dem Tarifvertrag, der mit ihm erwirkt werden soll, eine ordnende Funktion offensichtlich nicht mehr zukommen würde, weil die abschließende Gewerkschaft keine Mehrheit der organisierten Arbeitnehmer im Betrieb haben würde. Im Rahmen der Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sind alle Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen. Dazu können auch Strukturen des Arbeitgebers und die Reichweite von Tarifverträgen gehören.

Dies bedeutet allerdings nicht, dass jede Organisation der Arbeitnehmer, die in einem Betrieb die meisten Mitglieder organisiert, zugleich eine tariffähige Gewerkschaft ist. Tariffähige Gewerkschaften müssen weiterhin nicht nur frei gebildet, gegnerfrei und gegnerunabhängig sein sowie das geltende Tarifrecht als für sich verbindlich anerkennen, sondern in der Regel auch auf überbetrieblicher Grundlage organisiert sein. Ferner müssen sie in der Lage sein, durch Ausüben von Druck auf den Tarifpartner zu einem Tarifabschluss zu kommen. Reine "Betriebsgewerkschaften" können nicht zu einer sinnvollen Ordnung und Befriedung des Arbeitslebens beitragen.

Nach Satz 2 wird der Tarifvertrag der Minderheitsgewerkschaft verdrängt, soweit sich die Geltungsbereiche der Tarifverträge jeweils in zeitlicher, räumlicher, fachlicher und persönlicher Hinsicht überschneiden. Nur dann besteht eine auflösungsbedürftige Tarifkollision. Schließt also die im Betrieb mehrheitlich vertretene Gewerkschaft einen Tarifvertrag, der nicht alle Arbeitnehmer erfasst, wird der Tarifvertrag der im Betrieb weniger vertretenen Gewerkschaft auch nur insoweit verdrängt. Der Tarifvertrag der Gewerkschaft, die im Betrieb weniger Arbeitnehmer organisiert, ist also ungeachtet der Kollisionsregel in Satz 2 im Übrigen nach den allgemeinen Grundsätzen zur Anwendung zu bringen.

Satz 2 setzt nicht voraus, dass sich die Regelungsgegenstände der Tarifverträge decken. Der Grundsatz der Tarifeinheit gilt auch dann, wenn die Tarifverträge unterschiedliche Regelungsgegenstände beinhalten, sofern es nicht dem Willen der Tarifvertragsparteien des Mehrheitstarifvertrags entspricht, eine Ergänzung ihrer Regelungen durch Vereinbarungen mit konkurrierenden Gewerkschaften zuzulassen. Damit trägt das Gesetz dem Gedanken Rechnung, dass Gewerkschaften durch den Abschluss von Tarifverträgen eine ganzheitliche Vertretung der Interessen der Arbeitnehmer bezwecken und einzelne, nicht ausdrücklich erfasste Regelungsgegenstände nicht der Regelungskompetenz konkurrierender Gewerkschaften überlassen wollen.

Hinweis:

Das Bundesverfassungsgericht hat zur das Gesetz zur Tarifeinheit als weitgehend verfassungsgemäß geurteilt (BVerfG 11.07.2017 - 1 BvR 1571/15):

§ 4a des Tarifvertragsgesetzes ist insoweit mit Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes nicht vereinbar, als es an Vorkehrungen fehlt, die sicherstellen, dass die Interessen der Berufsgruppen, deren Tarifvertrag nach § 4a Absatz 2 Satz 2 des Tarifvertragsgesetzes verdrängt wird, im verdrängenden Tarifvertrag hinreichend berücksichtigt werden.

Bis zu einer Neuregelung gilt § 4a Abs. 2 Satz 2 des Tarifvertragsgesetzes mit der Maßgabe fort, dass ein Tarifvertrag von einem kollidierenden Tarifvertrag nur verdrängt werden kann, wenn plausibel dargelegt ist, dass die Mehrheitsgewerkschaft die Interessen der Berufsgruppen, deren Tarifvertrag verdrängt wird, ernsthaft und wirksam in ihrem Tarifvertrag berücksichtigt hat.

Als maßgeblichen Zeitpunkt, zu dem die betrieblichen Mehrheitsverhältnisse festzustellen sind, legt Satz 2 den Zeitpunkt des letzten Abschlusses des kollidierenden Tarifvertrags fest. Zu diesem Zeitpunkt wird die Tarifkollision herbeigeführt. Abzustellen ist auf den Zeitpunkt, zu dem der Tarifvertrag schriftlich abgeschlossen wird. Eine tarifschließende Gewerkschaft muss also, will sie die Anwendbarkeit ihres Tarifvertrags in Überschneidungsbereichen gewährleisten, sicherstellen, dass sie im Zeitpunkt ihres Tarifabschlusses die relative Mehrheit der gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer des Betriebs vertritt. Haben sich verschiedene Gewerkschaften in einer Tarifgemeinschaft zusammengeschlossen, deren Tarifvertrag mit dem Tarifvertrag einer konkurrierenden Gewerkschaft kollidiert, ist die Zahl der von den in der Tarifgemeinschaft verbundenen Gewerkschaften insgesamt organisierten Arbeitnehmer für die Mehrheitsfeststellung maßgeblich. Zu berücksichtigen sind bei der Mehrheitsfeststellung auch die organisierten Auszubildenden. Die im Zeitpunkt der Tarifkollision bestehenden Mehrheitsverhältnisse sind so lange maßgeblich, bis es zu einer erneuten Tarifkollision kommt. Die stichtagsbezogene Betrachtung dient dem Rechtsfrieden und der Rechtssicherheit. Es wird vermieden, dass jeder Gewerkschaftswechsel oder jedes Ausscheiden und Eintreten von Arbeitnehmern die betriebliche Mehrheitsfrage erneut aufwirft. Der Abschluss eines kollidierenden Tarifvertrags liegt auch in der Änderung eines bestehenden Tarifvertrags. Kein erneuter Kollisionsfall liegt demgegenüber bei einer tarifvertraglichen Regelung vor, die eine tarifliche Auslegungsfrage klarstellt.

Kollidieren die Tarifverträge erst zu einem späteren Zeitpunkt, ist nach Satz 3 dieser Zeitpunkt für die Mehrheitsfeststellung maßgeblich. Dies kommt in Betracht, wenn der Arbeitgeber erst nach Abschluss des kollidierenden Tarifvertrags der tarifschließenden Vereinigung von Arbeitgebern beitritt, der kollidierende Tarifvertrags erst nach Abschluss in Kraft tritt oder ein Betrieb erst nach dem Abschluss des kollidierenden Tarifvertrags neu gegründet wird.

Der Betriebsbegriff, der für die Ermittlung der Mehrheitsverhältnisse zugrunde zu legen ist, ist tarifrechtlich zu bestimmen. Danach ist ein Betrieb diejenige organisatorische Einheit, innerhalb derer der Arbeitgeber mit seinen Arbeitnehmern mithilfe von technischen und immateriellen Mitteln bestimmte arbeitstechnische Zwecke fortgesetzt verfolgt. Damit entspricht der tarifrechtliche Betriebsbegriff in seiner grundsätzlichen Ausrichtung dem betriebsverfassungsrechtlichen Betriebsbegriff, der infolge seiner Konturierung durch die Rechtsprechung einen für die Praxis praktikablen Rahmen setzt. Damit dient als Anknüpfungspunkt für das Mehrheitsprinzip die Solidargemeinschaft, die infolge der Zusammenfassung von Arbeitnehmern zur Verfolgung arbeitstechnischer Zwecke entsteht.

Satz 4 bestimmt ergänzend, dass als ein Betrieb in diesem Sinne in der Regel auch ein gemeinsamer Betrieb mehrerer Unternehmen gilt.

Nach Absatz 4 kann eine Gewerkschaft von der Arbeitgeberseite die Nachzeichnung der Rechtsnormen des Tarifvertrags einer konkurrierenden Gewerkschaft verlangen. Mit dem Nachzeichnungsrecht wird den Nachteilen entgegenwirkt, die einer Gewerkschaft im Fall der Tarifkollision durch den Grundsatz der Tarifeinheit entstehen können. Anderenfalls würden ihre Mitglieder tariflos gestellt, soweit ihr Tarifvertrag nach dem Grundsatz der Tarifeinheit nach Absatz 2 nicht zur Anwendung gelangt.

3. Zuständigkeit für die Feststellung des anwendbaren Tarifvertrags

Ausschließlich die Gerichte für Arbeitssachen sind gemäß dem erweiterten § 2a Nr. 6 ArbGG zuständig für die Entscheidung über den im Betrieb anwendbaren Tarifvertrag. Das Beschlussverfahren ist wegen der dort geltenden Grundsätze, insbesondere der Verpflichtung zur Amtsermittlung, für diesen Verfahrensgegenstand geeignet.

Der neue § 99 ArbGG regelt einige Besonderheiten des Beschlussverfahrens, wenn in diesem über den im Betrieb anwendbaren Tarifvertrag zu entscheiden ist. Die Ausgestaltung des Verfahrens lehnt sich an die Regelung über die Entscheidung über die Tariffähigkeit oder Tarifzuständigkeit einer Vereinigung und die Entscheidung über die Wirksamkeit einer Allgemeinverbindlichkeitserklärung oder einer Rechtsverordnung an. Der Beschluss ist über den Kreis der unmittelbar Verfahrensbeteiligten hinaus von Bedeutung. Die gerichtliche Feststellung des im Betrieb anwendbaren Tarifvertrags unterliegt daher nicht dem Dispositionsgrundsatz, sondern dem im Beschlussverfahren geltenden Untersuchungsgrundsatz. Eine grundsätzliche Pflicht zur Aussetzung anderer Rechtsstreite ist nicht vorgesehen. Damit kann eine Verfahrenseinleitung allein auf Antrag einer Tarifvertragspartei eines kollidierenden Tarifvertrags erfolgen. Absatz 1 regelt die Antragsbefugnis. Eine Entscheidung über den im Betrieb anwendbaren Tarifvertrag kann von einer Tarifvertragspartei eines kollidierenden Tarifvertrags beantragt werden. Damit werden die Parteien eines kollidierenden Tarifvertrags in die Lage versetzt, ein Verfahren nach § 2a Nr. 6 ArbGG einzuleiten. Für das Verfahren gelten die allgemeinen Vorschriften des Beschlussverfahren entsprechend.

Die Beschlüsse im Verfahren wirken nicht nur zwischen den Parteien des Rechtsstreits (inter partes), sondern für und gegen jedermann (erga omnes).

 Siehe auch 

Allgemeinverbindlichkeit eines Tarifvertrages

Arbeitskampf

Auslegung

Betriebsrat

Betriebsübergang - Tarifverträge

Betriebsverfassung

Eingruppierung

Firmentarifvertrag

Gewerkschaften

Günstigkeitsprinzip

Mindestlohn

Öffnungsklausel - Tarifvertrag

Streik

Tarifautomatik - öffentlicher Dienst

Tarifregister

Debong/Bruns: Tarifeinheit im Krankenhaus. Auswirkungen des geplanten Gesetzes zur Tarifeinheit auf die Arbeitsverhältnisse von Ärzten im Krankenhaus; ArztRecht - ArztR 2015, 145

Greiner: Das Tarifeinheitsgesetz. Dogmatik und Praxis der gesetzlichen Tarifeinheit; Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht - NZA 2015, 769

Melot de Beauregard: Das neue Gesetz zur Tarifeinheit; Der Betrieb - DB 2015, 1527

Stier: Die Entscheidung des BVerfG zur weitgehenden Vereinbarkeit des Tarifeinheitsgesetzes mit dem Grundgesetz; Zeitschrift für das öffentliche Arbeits- und Tarifrecht - öAT 2017, 177