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Schwerbehinderte Arbeitnehmer - Kündigung

 Normen 

§§ 168 - 175 SGB IX

 Information 

1. Allgemein

Schwerbehinderte Arbeitnehmer und ihnen Gleichgestellte unterliegen grundsätzlich gemäß § 168 SGB IX insofern einem besonderen Kündigungsschutz (Sonderkündigungsschutz), als dass ihre Kündigung die Zustimmung des Integrationsamtes erfordert.

Hinweis:

Voraussetzung ist gemäß § 173 Abs. 1 S. 1 SGB IX jedoch, dass das Arbeitsverhältnis zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung ohne Unterbrechung länger als sechs Monate bestanden hat. Zur Frage der Berechnung bzw. Unterbrechung dieses Zeitraums siehe den Beitrag "Kündigungsschutz".

Zu den Ausnahmen von dem Sonderkündigungsschutz siehe den Beitrag "Schwerbehinderte Arbeitnehmer - Ausnahmen vom Sonderkündigungsschutz".

Die Mindestkündigungsfrist beträgt vier Wochen - für eine außerordentliche Kündigung zwei Wochen - und kann nicht unterschritten werden.

2. Ordentliche Kündigung

Die Kündigung eines schwerbehinderten Arbeitnehmers oder diesem Gleichgestellten ist nur wirksam, wenn ihr das Integrationsamt vor dem Ausspruch der Kündigung zugestimmt hat.

Die Zustimmung des Integrationsamtes ist immer erforderlich, unabhängig davon, ob die Kündigung in der Praxis dem Kündigungsschutzgesetz unterfällt oder nicht, es sei denn, das Kündigungsschutzgesetz ist nicht anwendbar, da das Arbeitsverhältnis noch nicht sechs Monate bestanden hat (§ 173 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX).

Die Zustimmung muss schriftlich in doppelter Ausführung beantragt werden. Beginnend mit dem Antrag des Arbeitgebers soll das Integrationsamt gemäß § 171 SGB IX innerhalb eines Monats seine Entscheidung mitteilen. Die Entscheidung geht dem Arbeitgeber, dem schwerbehinderten Arbeitnehmer / Gleichgestellten und der Agentur für Arbeit zu.

Hinweis:

Wurde die Zustimmung zur Kündigung durch den Insolvenzverwalter beantragt, so kann sich nach der Entscheidung BAG 15.11.2012 - 8 AZR 827/11 der Betriebserwerber nicht wirksam auf den Zustimmungsbescheid berufen, wenn dieser nach dem Betriebserwerb nur dem Insolvenzverwalter zugestellt wurde.

Die Zustimmung muss dem AG zugestellt sein, vorher darf keine Kündigung erfolgen (anders bei der außerordentlichen Kündigung!).

Mit dem Zugang der Zustimmung bei dem Arbeitgeber hat dieser einen Monat Zeit, die Kündigung auszusprechen. Innerhalb dieser Frist können bei gleichbleibendem Kündigungssachverhalt auch wiederholt Kündigungen ausgesprochen werden (bei gleichbleibendem Kündigungssachverhalt), ohne dass erneut eine Zustimmung einzuholen ist (BAG 08.11.2007 - 2 AZR 425/06).

Die Entscheidung des Integrationsamtes kann im Falle der Verweigerung der Zustimmung mit dem Widerspruch bzw. der Anfechtungsklage angefochten werden.

Kündigt der Arbeitgeber einem schwerbehinderten Arbeitnehmer in Kenntnis von dessen Schwerbehinderteneigenschaft, ohne zuvor die erforderliche Zustimmung des Integrationsamtes zur Kündigung einzuholen, so kann der Arbeitnehmer die Unwirksamkeit der Kündigung bis zur Grenze der Verwirkung gerichtlich geltend machen. Nach § 4 Satz 4 KSchG beginnt in derartigen Fällen die dreiwöchige Klagefrist erst ab der Bekanntgabe der Entscheidung des Integrationsamtes an den Arbeitnehmer (BAG 13.02.2008 - 2 AZR 864/06).

Eine ohne die erforderliche Zustimmung erklärte Kündigung ist nach § 134 BGB nichtig.

3. Außerordentliche Kündigung

Im Fall einer außerordentlichen Kündigung ist gemäß § 174 SGB IX der Antrag auf Zustimmung zur Kündigung innerhalb einer Frist von zwei Wochen zu stellen, beginnend mit dem Zeitpunkt, in dem der Arbeitgeber von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlangt. Maßgeblich ist der Zeitpunkt des Eingangs des Antrags beim Integrationsamt. Dieses hat dann wiederum zwei Wochen Zeit, eine Entscheidung zu treffen.

Hinweis:

Bei Fristüberschreitung gilt die Zustimmungsfiktion des § 174 Abs. 3 S. 2 SGB IX. Wenn der Arbeitgeber trotzdem die Zustimmung abwartet, wird die Kündigung unwirksam.

Dabei soll gemäß § 174 Abs. 4 SGB IX die Zustimmung erteilt werden, wenn die außerordentliche Kündigung aus einem Grund ausgesprochen wird, der in keinem Zusammenhang mit der Behinderung steht. Für die Beurteilung des Bestehens eines Zusammenhangs sind dem Kündigungsgrund die der Behinderung zugrunde liegenden Beeinträchtigungen gegenüberzustellen. Dabei ist grundsätzlich von der Behinderung auszugehen. Einzubeziehen ist darüber hinaus eine Behinderung, hinsichtlich derer eine versorgungsbehördliche Feststellung trotz Antragstellung ohne Vertretenmüssen des Antragstellers noch nicht getroffen ist. Gleiches gilt für eine offenkundige Behinderung (BVerwG 12.07.2012 - 5 C 16/11).

Die Kündigung ist nach § 174 Abs. 5 SGB IX gegenüber dem schwerbehinderten Arbeitnehmer bzw. Gleichgestellten spätestens unverzüglich nach der Erteilung der Zustimmung auszusprechen. Unerheblich ist es, wenn zu diesem Zeitpunkt die Zwei-Wochen-Frist des § 626 BGB überschritten ist. Immer muss der Arbeitgeber jedoch die Erteilung der Zustimmung abwarten. Die Zustimmungsentscheidung des Integrationsamtes muss im Zeitpunkt der Kündigungserklärung getroffen sein, sie muss nicht schriftlich vorliegen (anders ordentliche Kündigung!). Das Verstreichenlassen der Frist kann erst nach Fristablauf gemäß § 174 Abs. 3 S. 2 SGB IX als fingierte Genehmigung angesehen werden (BAG 19.06.2007 - 2 AZR 226/06).

Wird die Zustimmung erst durch den Widerspruchsausschuss erteilt, hat der Arbeitgeber nach dem Urteil BAG 21.04.2005 - 2 AZR 255/04 die Kündigung spätestens dann auszusprechen, wenn er sichere Kenntnis von der Zustimmung erhalten hat. Dies kann die telefonische Bestätigung der Zustimmung sein.

Nach dem Urteil BAG 12.05.2005 - 2 AZR 159/04 gilt die Regelung des § 174 SGB IX auch für eine nach dem Arbeitsrecht des öffentlichen Dienstes ordentlich unkündbare schwerbehinderte Arbeitnehmerin. Daneben stellten die Richter in dem Urteil fest, dass die Zustimmungsentscheidung des Integrationsamtes im Zeitpunkt der Kündigungserklärung getroffen sein muss, sie muss nicht schriftlich vorliegen.

4. Kenntnis des Arbeitgebers von der Schwerbehinderteneigenschaft

"Hat der schwerbehinderte Arbeitnehmer im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung bereits einen Bescheid über seine Schwerbehinderteneigenschaft erhalten oder wenigstens (...) rechtzeitig einen entsprechenden Antrag beim Versorgungsamt gestellt, steht ihm der Sonderkündigungsschutz auch dann zu, wenn der Arbeitgeber von der Schwerbehinderteneigenschaft oder der Antragstellung keine Kenntnis hatte. (...) Allerdings unterliegt das Recht des Arbeitnehmers, sich nachträglich auf eine Schwerbehinderung zu berufen und die Zustimmungsbedürftigkeit der Kündigung geltend zu machen, der Verwirkung (§ 242 BGB)." Dies ist "der Fall, wenn der Arbeitgeber von der Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch keine Kenntnis hatte und der Arbeitnehmer sich nicht innerhalb einer angemessenen Frist nach Zugang der Kündigung gegenüber dem Arbeitgeber auf seine bereits festgestellte oder zur Feststellung beantragte Schwerbehinderteneigenschaft beruft." (BAG 22.09.2016 - 2 AZR 700/15).

"Als Maßstab für die Rechtzeitigkeit der Geltendmachung ist vielmehr (...) von der Drei-Wochen-Frist des § 4 Satz 1 KSchG auszugehen (...). Binnen dieser Frist muss der Arbeitnehmer entscheiden, ob er gegen die Kündigung vorgehen will. Dieser Zeitraum steht ihm deshalb grundsätzlich auch für die Entscheidung zur Verfügung, ob er sich auf eine dem Arbeitgeber noch nicht bekannte Schwerbehinderteneigenschaft berufen möchte. Hinzuzurechnen ist die Zeitspanne, innerhalb derer er den Zugang der Mitteilung über den bestehenden Sonderkündigungsschutz beim Arbeitgeber zu bewirken hat." (BAG 22.09.2016 - 2 AZR 700/15).

Auswirkungen einer vorherigen Frage nach einer Schwerbehinderung:

Der Arbeitgeber ist im bestehenden Arbeitsverhältnis berechtigt, den Arbeitnehmer nach dem Bestehen einer Schwerbehinderung zu fragen. Es steht dabei dem Arbeitnehmer frei, die Frage wahrheitsgemäß zu beantworten.

Verneint jedoch der schwerbehinderte Arbeitnehmer die Frage nach seiner Schwerbehinderung im Vorfeld einer Kündigung wahrheitswidrig, ist es ihm im Kündigungsschutzprozess unter dem Gesichtspunkt widersprüchlichen Verhaltens verwehrt, sich auf seine Schwerbehinderteneigenschaft zu berufen (BAG 16.02.2012 - 6 AZR 553/10).

5. Verbindlichkeit der Entscheidung des Integrationsamts

Das Bundesarbeitsgericht hat Aussagen zur Bindung des Arbeitsgerichts an die Entscheidung des Integrationsamts getroffen (BAG 22.07.2021 - 2 AZR 193/21):

"Liegt eine Zustimmung des Integrationsamts zur Kündigung vor, haben die Arbeitsgerichte dies ihren Entscheidungen zugrunde zu legen. Das gilt sowohl für ausdrückliche Entscheidungen des Integrationsamts nach § 174 Abs. 3 Satz 1 SGB IX als auch für die Zustimmungsfiktion des § 174 Abs. 3 Satz 2 SGB IX. (...).

Gemäß § 171 Abs. 4 SGB IX haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen die Zustimmung des Integrationsamts keine aufschiebende Wirkung. (...) Das bedeutet, dass die durch das Integrationsamt einmal erteilte Zustimmung zur Kündigung - vorbehaltlich ihrer Nichtigkeit - so lange Wirksamkeit entfaltet, wie sie nicht rechtskräftig aufgehoben ist. Wird die Zustimmungsentscheidung erst nach rechtskräftiger Abweisung der Kündigungsschutzklage bestands- oder rechtskräftig aufgehoben, steht dem Arbeitnehmer ggf. die Restitutionsklage nach § 580 ZPO offen."

6. Präventionsverfahren

Siehe den Beitrag "Schwerbehinderte Arbeitnehmer - Präventionsverfahren".

7. Zwingende Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung

Siehe den Beitrag "Schwerbehindertenvertretung".

8. Zeitpunkt der Geltendmachung des Sonderkündigungsschutzes

Der schwerbehinderte Arbeitnehmer muss den besonderen Kündigungsschutz nach Zugang der Kündigung innerhalb einer angemessenen Frist von drei Wochen gegenüber dem Arbeitgeber geltend machen, d.h. er muss sich auf seine bereits festgestellte oder zur Feststellung beantragte Schwerbehinderteneigenschaft berufen. Unterlässt der schwerbehinderte Arbeitnehmer die entsprechende Mitteilung, so hat er den besonderen Kündigungsschutz verwirkt.

Die Dreiwochenfrist ist eine Regelfrist. Sie konkretisiert den Verwirkungstatbestand (Treu und Glauben). Ihre Überschreitung führt danach regelmäßig, aber nicht zwingend zur Verwirkung (BAG 23.02.2010 - 2 AZR 659/08).

Hinweis:

Die zuvor geltende Monatsfrist (u.a. BAG 12.01.2006 - 2 AZR 539/05) wurde ausdrücklich aufgegeben!

Beim Vorliegen besonderer Umstände kann die Drei-Wochen-Frist jedoch durchbrochen werden. Als einen derartigen Umstand hat die Rechtsprechung u.a. in der obigen Entscheidung beispielsweise die Kenntnis des Arbeitgebers von solchen gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Arbeitnehmers angesehen, die ihrer Art nach den Schluss auf eine Schwerbehinderteneigenschaft des Arbeitnehmers nahelegen. Bei einer derartigen Kenntnis besteht jedenfalls bei einer unwesentlichen Überschreitung der Monatsfrist kein schutzwürdiges Vertrauen des Arbeitgebers darauf, dass der schwerbehinderte Arbeitnehmer nicht schwerbehindert sei und es daher zu einer Kündigung keiner Zustimmung des Integrationsamtes bedürfe.

 Siehe auch 

Betriebliches Eingliederungsmanagement

Gleichgestellte

Integrationsamt

Integrationsfachdienst

Kündigungsfrist - Arbeitsrecht

Schwerbehinderte Arbeitnehmer

Schwerbehinderte Arbeitnehmer - Aufhebungsvertrag

Schwerbehinderte Arbeitnehmer - Beschäftigungspflicht

Schwerbehinderte Arbeitnehmer - Vorstellungsgespräch

BAG 23.02.2010 - 2 AZR 659/08 (Zulässigkeit der Geltendmachung des Sonderkündigungsschutzes erst mit der Kündigungsschutzklage)

BAG 19.06.2007 - 2 AZR 94/06 (Wartezeit bis zum Eingreifen des besonderen Kündigungsschutzes)

BAG 07.03.2002 - 2 AZR 612/00 (Ausnahmsweise Sonderkündigungsschutz vor Antragstellung)

LAG Düsseldorf 08.09.2011 - 5 Sa 672/11 (aus der Mitteilung muss der Arbeitgeber erkennen können, dass sich der schwerbehinderte Arbeitnehmer auf den Sonderkündigungsschutz beruft)

Grimm/Brock/Windeln: Einschränkung des besonderen Kündigungsschutzes für Schwerbehinderte im SGB IX; Der Betrieb - DB 2005, 282

Joussen: Die Kündigungsfristen bei der außerordentlichen Kündigung von Schwerbehinderten; Der Betrieb - DB 2002, 2162

Klein: Der Kündigungsschutz schwerbehinderter Arbeitnehmer nach dem Bundesteilhabegesetz; Neue Juristische Wochenschrift - NJW 2017, 852

Knittel: SGB IX. Kommentar; Loseblatt

Sartorius: Beginn des besonderen Kündigungsschutzes für schwerbehinderte Menschen und ihnen Gleichgestellte; Zeitschrift für die Anwaltspraxis - ZAP 2021, 705

Seel: Rechtsfragen bei Kündigung schwerbehinderter Arbeitnehmer; Monatsschrift für Deutsches Recht - MDR 2007, 499