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Bundesverwaltungsgericht
Beschl. v. 05.04.2012, Az.: BVerwG 4 B 45.11
Anforderungen an die Darlegung einer Divergenz und eines Verfahrensmangels i. R. des Beschwerdeverfahrens
Gericht: BVerwG
Entscheidungsform: Beschluss
Datum: 05.04.2012
Referenz: JurionRS 2012, 13927
Aktenzeichen: BVerwG 4 B 45.11
ECLI: [keine Angabe]

Verfahrensgang:

vorgehend:

OVG Sachsen - 27.07.2011 - AZ: OVG 1 A 701/09

Fundstellen:

AnwBl 2012, 215

BauR 2012, 5

BVerwG, 05.04.2012 - BVerwG 4 B 45.11

Redaktioneller Leitsatz:

1.

Nach § 124a Abs. 3 Satz 4 VwGO muss die Berufungsbegründung einen bestimmten Antrag enthalten sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe). Die Bestimmung verlangt, dass die Berufungsgründe substantiiert und konkret auf den zu entscheidenden Fall bezogen sein müssen. Sie haben in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht im Einzelnen auszuführen, weshalb das angefochtene Urteil, soweit dagegen die Berufung zugelassen wurde, nach der Auffassung des Berufungsführers unrichtig ist und geändert werden muss.

2.

Fehler in der Sachverhalts- und Beweiswürdigung. Sind revisionsrechtlich nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem sachlichen Recht zuzurechnen.

3.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts ist grundsätzlich davon auszugehen, dass ein Gericht das von ihm entgegengenommene Vorbringen der Beteiligten auch zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat. Die Gerichte brauchen nicht jedes Vorbringen in den Gründen der Entscheidung ausdrücklich zu bescheiden; nur wenn sich aus den besonderen Umständen des Falles deutlich ergibt, dass ein Gericht seine Pflicht zur Kenntnisnahme und Erwägung entscheidungserheblichen Tatsachenstoffs verletzt hat, kann ein Gehörsverstoß im Einzelfall festgestellt werden.

4.

Es entspricht gefestigter Rechtsprechung, dass es zulässig ist, mehrere Klagebegehren in der Weise voneinander abhängig zu machen, dass das Gericht für den Fall eines Misserfolgs des Hauptantrags über einen Hilfsantrag zu entscheiden hat. Dies hat zur Folge, dass ein Hilfsantrag, über den die Vorinstanz nicht zu entscheiden brauchte, weil sie dem Hauptantrag entsprochen hat, durch das Rechtsmittel des Unterlegenen nach dem Hauptantrag ebenfalls in der Rechtsmittelinstanz anfällt.

In der Verwaltungsstreitsache
...
hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 5. April 2012
durch
den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Rubel
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Gatz und Petz
beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde der Klägerin gegen das Urteil des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 27. Juli 2011 wird zurückgewiesen, soweit sie auf die Aufhebung des Bescheides der Beklagten vom 7. November 2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheids des Regierungspräsidiums Dresden vom 13. April 2004 gerichtet ist. Im Übrigen wird das Urteil aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Sächsische Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen zur Hälfte. Im Übrigen bleibt die Kostenentscheidung der Schlussentscheidung vorbehalten.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 10 000 EUR festgesetzt.

Gründe

1

Die Beschwerde hat nur teilweise Erfolg.

2

1. Das Berufungsgericht hat auf die Berufungen der Beklagten und des Beigeladenen die Klage mit dem Hauptantrag, die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung und den dazu ergangenen Widerspruchsbescheid aufzuheben, abgewiesen. Hiergegen wendet sich die Klägerin vergeblich mit ihrer Beschwerde.

3

a) Die Revision ist nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO zuzulassen. Das Berufungsurteil hat zu § 124a Abs. 3 Satz 4 VwGO keinen Rechtssatz aufgestellt, der einem vom Bundesverwaltungsgericht formulierten Rechtssatz widerspricht.

4

Nach § 124a Abs. 3 Satz 4 VwGO muss die Berufungsbegründung einen bestimmten Antrag enthalten sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe). Nach der von der Klägerin zitierten ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (zuletzt Beschluss vom 2. Juli 2008 - BVerwG 10 B 3.08 - [...] Rn. 3) verlangt die Bestimmung, dass die Berufungsgründe substantiiert und konkret auf den zu entscheidenden Fall bezogen sein müssen. Sie haben in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht im Einzelnen auszuführen, weshalb das angefochtene Urteil, soweit dagegen die Berufung zugelassen wurde, nach der Auffassung des Berufungsführers unrichtig ist und geändert werden muss. Erfolgt die Berufungsbegründung durch die Bezugnahme auf den Zulassungsantrag, was nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts grundsätzlich zulässig ist (Urteil vom 30. Juni 1998 - BVerwG 9 C 6.98 - BVerwGE 107, 117 <122>), muss dieser den genannten Anforderungen genügen. Die Klägerin ist der Auffassung, das Berufungsgericht habe stillschweigend den davon abweichenden Rechtssatz aufgestellt, eine Berufung sei auch dann im Sinne von § 124a Abs. 3 Satz 4 VwGO zulässig, wenn der Berufungskläger seinen erstinstanzlichen Vortrag kursorisch wiederhole und im Übrigen auf sein bisheriges Vorbringen verweise, wobei der Zulässigkeit einer Berufung nicht entgegenstehe, dass die Berufungsbegründung nach Art eines Antrags auf Zulassung der Berufung abgefasst sei.

5

Die gerügte Divergenz liegt nicht vor. Das Berufungsgericht hat keine geringeren Anforderungen an die Berufungsbegründungen gestellt als das Bundesverwaltungsgericht, sondern die Berufungsbegründungen der Beklagten und des Beigeladenen in Übereinstimmung mit dessen Rechtsprechung akzeptiert. Zwar ist die Berufungsbegründung des Beigeladenen insofern mit der Begründung seines Antrags auf Zulassung der Berufung identisch, als sie sich erneut den Zulassungsgründen des § 124 Abs. 2 Nr. 1, 2 und 5 VwGO gewidmet hat. Sie hat aber deutlich gemacht, aus welchen Gründen der Beigeladene das erstinstanzliche Urteil für falsch hält. Gleiches gilt für die Berufungsbegründung der Beklagten. Beide Rechtsmittelführer haben den Standpunkt des Verwaltungsgerichts angegriffen, dass der im Urteil näher gekennzeichnete Fuß- und Radweg keine trennende Wirkung habe und die Grundstücke der Klägerin und des Beigeladenen deshalb im selben Baugebiet, einem allgemeinen Wohngebiet (§ 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 4 BauNVO), lägen, in dem ein Brennstoffhandel weder allgemein noch ausnahmsweise zulässig sei. Ihrer Ansicht nach verläuft zwischen den Grundstücken eine Baugebietsgrenze und entspricht die Eigenart der näheren Umgebung des Grundstücks des Beigeladenen einem Mischgebiet (§ 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 6 BauNVO) mit der Folge, dass der umstrittene Brennstoffhandel zulässig sei. Der Beigeladene hat zusätzlich vorgetragen und begründet, dass der Brennstoffhandel, weil einer Tankstelle (§ 4 Abs. 3 Nr. 5 BauNVO) vergleichbar, selbst in einem allgemeinen Wohngebiet ausnahmsweise zulässig sei. Damit haben beide Berufungskläger im konkreten Fall die Berufungsgründe eindeutig bezeichnet.

6

b) Die Revision ist auch nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO wegen eines Verfahrensmangels zuzulassen.

7

aa) Die Klägerin rügt als Verstoß gegen § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO, dass das Berufungsgericht der Abgrenzung der näheren Umgebung des Vorhabengrundstücks und deren Bewertung als sog. Gemengelage nicht existente Tatsachen zugrunde gelegt habe. Sie zeigt jedoch nicht konkret auf, um welche Tatsachen es sich dabei handeln soll. In Wahrheit beanstandet sie, dass das Berufungsgericht die ermittelte Umgebungsbebauung zu Unrecht nicht als allgemeines Wohngebiet eingestuft habe. Damit markiert sie einen behaupteten Fehler in der Sachverhalts- und Beweiswürdigung. Derartige Fehler sind aber - so sie denn vorlägen - nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts regelmäßig - und so auch hier - revisionsrechtlich nicht dem Verfahrensrecht, sondern dem sachlichen Recht zuzurechnen (vgl. Beschluss vom 2. November 1995 - BVerwG 9 B 710.94 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 266).

8

bb) Auch die Rüge, das Berufungsgericht sei von einem "aktenwidrigen" Sachverhalt ausgegangen, ist eine in das Gewand einer Verfahrensrüge gekleidete Sachrüge. Die Klägerin macht nämlich nicht substantiiert geltend, tatsächliche Feststellungen des Berufungsgerichts stimmten nicht mit dem Akteninhalt überein, sondern moniert, dass das Berufungsgericht den Sachverhalt rechtlich anders gewürdigt hat als das Verwaltungsgericht.

9

cc) Die Rüge der Klägerin, das Berufungsgericht habe ihren Anspruch auf rechtliches Gehör nach § 108 Abs. 2 VwGO verletzt, ist unbegründet.

10

Nach Einschätzung des Berufungsgerichts stellen die Nebenbestimmungen zur umstrittenen Baugenehmigung sicher, dass von dem Vorhaben der Beigeladenen keine unzumutbare Lärm-, Staub- und Geruchsimmissionen ausgehen. Die Klägerin wirft dem Berufungsgericht vor, ihren Vortrag ignoriert zu haben, dass die Beklagte die Nebenbestimmungen zum Immissionsschutz "ins Blaue hinein" verfügt habe und offensichtlich sei, dass sie nicht eingehalten werden könnten. Der Klägerin ist entgegenzuhalten, dass aus dem Schweigen der Urteilsgründe zu Einzelheiten des Parteivortrags allein noch nicht der Schluss gezogen werden kann, das Gericht habe diese nicht zur Kenntnis genommen oder in Erwägung gezogen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts ist grundsätzlich davon auszugehen, dass ein Gericht das von ihm entgegengenommene Vorbringen der Beteiligten auch zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat. Die Gerichte brauchen nicht jedes Vorbringen in den Gründen der Entscheidung ausdrücklich zu bescheiden; nur wenn sich aus den besonderen Umständen des Falles deutlich ergibt, dass ein Gericht seine Pflicht zur Kenntnisnahme und Erwägung entscheidungserheblichen Tatsachenstoffs verletzt hat, kann ein Gehörsverstoß im Einzelfall festgestellt werden (Beschluss vom 10. Oktober 2006 - BVerwG 9 B 27.05 - NVwZ 2007, 84). Solche Umstände fehlen hier. Denn das Berufungsgericht ist auf die Frage, ob die Nebenbestimmungen geeignet sind, eine unzumutbare Immissionsbelastung der Klägerin zu verhindern, eingegangen (UA Rn. 29, 30). Eine unzumutbare Lärmbelastung durch die Anlieferungsfahrten für Brennstoffe hat es verneint, weil diese Fahrten auf fünf pro Woche beschränkt seien. Entgegen der Rüge der Klägerin liegt darin kein Verstoß gegen § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Klägerin bestreitet nicht, dass das Berufungsgericht den Inhalt der Baugenehmigung zutreffend wiedergegeben hat, sondern wendet ein, dass die Nebenbestimmung entgegen der Ansicht der Vorinstanz nicht geeignet sei, eine unzumutbare Lärmbelastung zu verhindern. Damit ist ihre Verfahrensrüge in Wirklichkeit eine Sachrüge.

11

2. Zu Recht macht die Klägerin indes geltend, dass das Berufungsgericht unter Verletzung des Verfahrensrechts ihre erstinstanzlich gestellten Hilfsanträge nicht beschieden hat. Es entspricht gefestigter Rechtsprechung, dass es zulässig ist, mehrere Klagebegehren in der Weise voneinander abhängig zu machen, dass das Gericht für den Fall eines Misserfolgs des Hauptantrags über einen Hilfsantrag zu entscheiden hat. Dies hat zur Folge, dass ein Hilfsantrag, über den die Vorinstanz nicht zu entscheiden brauchte, weil sie dem Hauptantrag entsprochen hat, durch das Rechtsmittel des Unterlegenen nach dem Hauptantrag ebenfalls in der Rechtsmittelinstanz anfällt (Urteil vom 15. April 1997 - BVerwG 9 C 19.96 - BVerwGE 104, 260 <263>). Das geschieht automatisch (Urteil vom 15. April 1997 a.a.O.) und nicht nur dann, wenn der Kläger neben der Zurückweisung des Rechtsmittels hilfsweise beantragt hat, dem vorinstanzlich gestellten Hilfsantrag stattzugeben.

12

Das Berufungsgericht hätte danach über die Hilfsanträge der Klägerin auf Feststellung, dass die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung rechtswidrig war, sowie ggf. auf Feststellung, dass die Baugenehmigung erloschen ist, entscheiden müssen. Dieser verfahrensrechtlichen Pflicht ist es nicht nachgekommen. Da der Senat mangels ausreichender Tatsachenfeststellungen im angefochtenen Urteil nicht selbst entscheiden kann, verweist er den Rechtsstreit gemäß § 133 Abs. 6 VwGO zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung über die Hilfsanträge an das Berufungsgericht zurück.

13

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO und die Streitwertfestsetzung auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.

Prof. Dr. Rubel

Dr. Gatz

Petz

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