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Bundesverfassungsgericht
Urt. v. 21.06.2016, Az.: 2 BvR 2730/13
Verfassungsmäßigkeit des Ankaufs von Staatsanleihen von Mitgliedstaaten der Eurozone durch die Europäische Zentralbank (EZB); Rechtliche Anforderungen für die Beteiligung der Deutschen Bundesbank an einer künftigen Durchführung des Outright Monetary Transactions-Programms (OMT); Sicherung der demokratischen Einflussmöglichkeiten des Bürgers im Prozess der europäischen Integration; Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union (EU) in den vom Grundgesetz (GG) dafür vorgesehenen Formen; Geltendmachung einer hinreichend qualifizierten Kompetenzüberschreitung der EZB durch den Grundsatzbeschluss über das OMT-Programm; Aktivierung der Integrationsverantwortung der Bundesregierung
Gericht: BVerfG
Entscheidungsform: Urteil
Datum: 21.06.2016
Referenz: JurionRS 2016, 18383
Aktenzeichen: 2 BvR 2730/13
ECLI: [keine Angabe]

BVerfG, 21.06.2016 - 2 BvR 2730/13

Amtlicher Leitsatz:

  1. 1.

    Zur Sicherung seiner demokratischen Einflussmöglichkeiten im Prozess der europäischen Integration hat der Bürger grundsätzlich ein Recht darauf, dass eine Übertragung von Hoheitsrechten nur in den vom Grundgesetz dafür vorgesehenen Formen der Art. 23 Abs. 1 Sätze 2 und 3, Art. 79 Abs. 2 GG erfolgt.

  2. 2.

    Maßnahmen von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union, die ultra vires ergehen, verletzen das im Zustimmungsgesetz gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG niedergelegte Integrationsprogramm und damit zugleich den Grundsatz der Volkssouveränität (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG). Der Abwendung derartiger Rechtsverletzungen dient das Institut der Ultra-vires-Kontrolle.

  3. 3.

    Die Verfassungsorgane trifft aufgrund der ihnen obliegenden Integrationsverantwortung die Verpflichtung, Maßnahmen von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union, die eine Identitätsverletzung bewirken oder einen Ultra-vires-Akt darstellen, entgegenzutreten.

  4. 4.

    Die Deutsche Bundesbank darf sich an einer künftigen Durchführung des OMT-Programms nur beteiligen, wenn und soweit die vom Gerichtshof der Europäischen Union aufgestellten Maßgaben erfüllt sind, das heißt wenn

    • Ankäufe nicht angekündigt werden,

    • das Volumen der Ankäufe im Voraus begrenzt ist,

    • zwischen der Emission eines Schuldtitels und seinem Ankauf durch das ESZB eine im Voraus festgelegte Mindestfrist liegt, die verhindert, dass die Emissionsbedingungen verfälscht werden,

    • nur Schuldtitel von Mitgliedstaaten erworben werden, die einen ihre Finanzierung ermöglichenden Zugang zum Anleihemarkt haben,

    • die erworbenen Schuldtitel nur ausnahmsweise bis zur Endfälligkeit gehalten werden und

    • die Ankäufe begrenzt oder eingestellt werden und erworbene Schuldtitel wieder dem Markt zugeführt werden, wenn eine Fortsetzung der Intervention nicht erforderlich ist.

In den Verfahren
I. über die Verfassungsbeschwerde
des Herrn Dr. G...,
- Bevollmächtigte: 1. Rechtsanwalt Prof. Dr. Wolf-Rüdiger Bub,
2. Prof. Dr. Dietrich Murswiek -
gegen 1. den Beschluss des Rates der Europäischen Zentralbank vom 6. September 2012 betreffend Outright Monetary Transactions (OMT) und die fortgesetzten Ankäufe von Staatsanleihen auf der Basis dieses Beschlusses und des vorangegangenen Programms für die Wertpapiermärkte (Securities Markets Programme - SMP),
2. das Unterlassen der Bundesregierung, die Europäische Zentralbank wegen des Beschlusses vom 6. September 2012 betreffend Outright Monetary Transactions (OMT) und wegen der Ankäufe von Staatsanleihen beim Gerichtshof der Europäischen Union zu verklagen,
- 2 BvR 2728/13 -,
II. über die Verfassungsbeschwerde
1. des Herrn Dr. B...,
2. des Herrn Prof. Dr. H...,
3. des Herrn Prof. Dr. N...,
4. des Herrn Prof. Dr. Sch...,
5. des Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. St...,
- Bevollmächtigter: Prof. Dr. Karl Albrecht Schachtschneider -
zu 1. bis 3. und 5.
gegen 1. die Maßnahmen des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank zur Eurorettung, insbesondere den Ankauf von Staatsanleihen der Mitglieder des Euroverbundes zum Zwecke der mittelbaren Staatsfinanzierung am Sekundärmarkt,
2. das Unterlassen der Bundesregierung, Nichtigkeitsklage gemäß Art. 263 Abs. 1 und Abs. 2 AEUV beim Europäischen Gerichtshof gegen den Kauf von Staatsanleihen von Mitgliedstaaten des EuroVerbundes durch das System der Europäischen Zentralbanken sowie die Europäische Zentralbank und die Entgegennahme von Staatsanleihen als Sicherheiten für Zentralbankkredite, sofern diese Maßnahmen der Staatsfinanzierung dienen, zu erheben,
- 2 BvR 2729/13 -,
III. über die Verfassungsbeschwerde
des Herrn H...,
sowie 11692 weiterer Beschwerdeführer,
- Bevollmächtigte: 1. Prof. Dr. Christoph Degenhart,
2. Rechtsanwältin Prof. Dr. Herta Däubler-Gmelin,
3. Prof. Dr. Bernhard Kempen
gegen 1. das Unterlassen der Bundesregierung, darauf hinzuwirken, dass der Beschluss des Rates der Europäischen Zentralbank vom 6. September 2012 über den unbegrenzten Erwerb von Anleihen einzelner Eurostaaten am Sekundärmarkt durch die Europäische Zentralbank aufgehoben wird,
2. das Unterlassen der Bundesregierung, durch wirksame Vorkehrungen sicher zu stellen, dass die Haftung der Bundesrepublik aus den Anleihekäufen in Folge des Beschlusses des Rates der Europäischen Zentralbank vom 6. September 2012 über den unbegrenzten Erwerb von Anleihen einzelner Eurostaaten am Sekundärmarkt durch die Europäische Zentralbank und ihre Haftung aus dem Vertrag zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus die Summe ihrer Zahlungsverpflichtungen nach Artikel 8 Absatz 5 Satz 1 des Vertrages entsprechend Anlage II des Vertrages nicht übersteigt,
3. die Weigerung des Deutschen Bundestages, zur Wahrung seiner haushaltspolitischen Gesamtverantwortung seine Zustimmung zu den Anpassungsprogrammen im Rahmen des Europäischen Stabilitätsmechanismus als Bedingung für die Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank nur zu erteilen, wenn er zuvor umfassend über Art und Umfang der Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank informiert worden ist,
4. den Beschluss der Europäischen Zentralbank vom 6. September 2012 über den unbegrenzten Erwerb von Anleihen einzelner Eurostaaten am Sekundärmarkt,
- 2 BvR 2730/13 -,
IV. über die Verfassungsbeschwerde
des Herrn Prof. Dr. von St...,
sowie 17 weiterer Beschwerdeführer,
- Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Prof. Dr. Markus C. Kerber -
zu 1. bis 6. und
8. bis 18.
gegen den Beschluss des EZB-Rates vom 6. September 2012,
- 2 BvR 2731/13 -,
sowie
V. über die Anträge, im Organstreitverfahren festzustellen, dass der Antragsgegner
1. verpflichtet ist, zur Sicherung seiner haushaltspolitischen Gesamtverantwortung darauf hinzuwirken, dass der Beschluss des Rates der Europäischen Zentralbank vom 6. September 2012 über den unbegrenzten Erwerb von Anleihen einzelner Euro-Staaten am Sekundärmarkt durch die Europäische Zentralbank als Umgehung des Verbots monetärer Staatsfinanzierung nach Artikel 123 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union aufgehoben wird, und dass er alle Maßnahmen oder Entscheidungen zu unterlassen hat, die der Umsetzung dieses Beschlusses dienen,
2. seine Zustimmung zu den als Bedingung für den Erwerb von Staatsanleihen am Sekundärmarkt durch die Europäische Zentralbank erforderlichen Anpassungsprogrammen im Rahmen der Europäischen Finanzstabilitätsfazilität oder des Europäischen Stabilitätsmechanismus durch einen nach Artikel 38 Absatz 1 Satz 2, Artikel 20 Absatz 1 und Absatz 2 sowie Artikel 79 Absatz 3 Grundgesetz zur Sicherung seiner haushaltspolitischen Gesamtverantwortung notwendigen konstitutiven Parlamentsbeschluss nur erteilen darf, wenn er über die Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank zuvor nach Art, Umfang und Dauer sowie über die damit verbundenen Haftungsrisiken hinreichend informiert wird, und durch wirksame Vorkehrungen gewährleistet ist, dass die Haftung der Bundesrepublik Deutschland aus diesen Anleihekäufen die Summe ihrer Zahlungsverpflichtungen aus Artikel 8 Absatz 5 Satz 1 des Vertrages zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus, wie sie sich aus Anhang II des Vertrages ergibt, nicht übersteigt,
Antragstellerin: Fraktion DIE LINKE im Deutschen Bundestag,
vertreten durch die Vorsitzenden,
Platz der Republik 1, 11011 Berlin,
- Bevollmächtigte: 1. Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Peter Schneider,
2. Prof. Dr. Andreas Fisahn -
Antragsgegner: Deutscher Bundestag,
vertreten durch den Präsidenten Prof. Dr. Norbert Lammert, MdB,
Platz der Republik 1, 11011 Berlin,
- Bevollmächtigte: 1. Prof. Dr. Christoph Möllers,
2. Prof. Dr. Martin Nettesheim -
- 2 BvE 13/13 -
beigetreten in den Verfahren zu I. bis IV.:
Deutscher Bundestag,
vertreten durch den Präsidenten Prof. Dr. Norbert Lammert, MdB,
Platz der Republik 1, 11011 Berlin,
- Bevollmächtigte: 1. Prof. Dr. Christoph Möllers,
2. Prof. Dr. Martin Nettesheim -
beigetreten in den Verfahren zu I. bis IV. sowie im Verfahren zu V. auf Seiten des Deutschen Bundestages:
Bundesregierung,
vertreten durch die Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel,
Bundeskanzleramt, Willy-Brandt-Straße 1, 10557 Berlin,
- Bevollmächtigter: Prof. Dr. Ulrich Häde -
hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat -
unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter
Präsident Voßkuhle,
Landau,
Huber,
Hermanns,
Müller,
Kessal-Wulf,
König,
Maidowski
aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 16. Februar 2016 durch
Urteil
für Recht erkannt:

Tenor:

  1. 1.

    Die Verfahren werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.

  2. 2.

    Die Verfassungsbeschwerden werden in dem unter C.II. genannten Umfang verworfen. Im Übrigen werden sie nach Maßgabe der unter D.II.3. genannten Gründe zurückgewiesen.

  3. 3.

    Die Anträge im Organstreitverfahren werden in dem unter C.III.2. genannten Umfang verworfen. Im Übrigen werden sie nach Maßgabe der unter D.II.3. genannten Gründe zurückgewiesen.

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