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Bundesgerichtshof
Beschl. v. 30.06.2011, Az.: V ZB 24/11
Verletzung der Freiheitsrechte eines Ausländers aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG durch die Haftanordnung zwecks Sicherung einer Abschiebung; Anforderung an das Begründungserfordernis nach § 417 Abs. 2 S. 2 Nr. 4 FamFG
Gericht: BGH
Entscheidungsform: Beschluss
Datum: 30.06.2011
Referenz: JurionRS 2011, 22899
Aktenzeichen: V ZB 24/11
ECLI: [keine Angabe]

Verfahrensgang:

vorgehend:

AG Berlin-Tiergarten - 06.12.2010 - AZ: 383 XIV 583/10 B

LG Berlin - 20.01.2011 - AZ: 84 T 2/11 B

BGH, 30.06.2011 - V ZB 24/11

Redaktioneller Leitsatz:

Das Vorliegen eines zulässigen Haftantrags ist Verfahrensvoraussetzung für die Anordnung der Sicherungshaft. Die Antragstellung sowie die Antragsbegründung müssen aus den Verfahrensakten selbst ersichtlich sein.

Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat
am 30. Juni 2011
durch
den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Krüger,
die Richter Dr. Lemke und Prof. Dr. Schmidt-Räntsch,
die Richterin Dr. Stresemann und
den Richter Dr. Czub
beschlossen:

Tenor:

Dem Betroffenen wird für die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der Zivilkammer 84 des Landgerichts Berlin vom 20. Januar 2011 Verfahrenskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwältin Dr. Ackermann beigeordnet.

Auf die Rechtsbeschwerde wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten vom 6. Dezember 2010 und der Beschluss der Zivilkammer 84 des Landgerichts Berlin vom 20. Januar 2011 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben.

Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in allen Instanzen werden dem Land B. auferlegt.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 3.000 €.

Gründe

I.

1

Der Betroffene, ein mazedonischer Staatsangehöriger, reiste nach eigenen Angaben Ende März 2010 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 27. Oktober 2010 wurde er festgenommen; einen Pass und eine Meldeanschrift im Bundesgebiet konnte er nicht vorweisen. Bei der Personalienüberprüfung wurde festgestellt, dass gegen den Betroffenen ein bis zum 30. April 2012 befristetes Einreiseverbot der Republik Ungarn für das Schengengebiet vorliegt. Ein Asylantrag des Betroffenen wurde als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen. Am 23. November 2010 beantragte der Betroffene bei dem Verwaltungsgericht im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Erteilung einer Aufenthaltsduldung.

2

Am 1. Dezember 2010 hat die beteiligte Behörde die Verlängerung einer früheren angeordneten Haft "um mindestens sechs Wochen" beantragt. In dem Termin zur Anhörung des Betroffenen vor dem Amtsgericht hat sie am Schluss der Anhörung "Haftverlängerung bis 26.01.2011" beantragt. Dem hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 6. Dezember 2010 stattgegeben. Die Beschwerde hat das Landgericht zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde will der Betroffene die Feststellung erreichen, dass die Beschlüsse des Landgerichts und des Amtsgerichts ihn in seinen Rechten verletzt haben. Für das Rechtsbeschwerdeverfahren beantragt er die Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe.

II.

3

Nach Ansicht des Beschwerdegerichts bestand der in § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG genannte Haftgrund, weil der begründete Verdacht bestanden habe, dass sich der Betroffene ohne Inhaftierung der Abschiebung entziehen werde. Er habe die Frage des Gerichts, ob er sich für eine Abschiebung bereithalten werde, ohne Umschweife verneint, weil er bei seinem in B. lebenden Kind bleiben wolle.

4

Weiter meint das Beschwerdegericht, es habe im Hinblick auf das bei dem Verwaltungsgericht anhängige Eilverfahren keine Prognose anstellen müssen, ob die Abschiebung innerhalb der in § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG genannten Frist möglich sei. Denn der Betroffene wolle eine Duldung erreichen, welche die Abschiebung nicht hindere, wenn sie mit der Erteilung eines Passersatzpapieres ende.

5

Schließlich ist der beteiligten Behörde nach Auffassung des Beschwerdegerichts kein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot vorzuwerfen; sie habe die Passbeschaffung während der Dauer des Asylverfahrens nicht betreiben müssen.

III.

6

Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

7

1.

Die Rechtsbeschwerde ist nach § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 FamFG statthaft (vgl. Senat, Beschluss vom 25. Februar 2010 - V ZB 172/09, NVwZ 2010, 726, 727; Beschluss vom 29. April 2010 - V ZB 218/09, NVwZ 2010, 1508, 1509) und auch im Übrigen zulässig (§ 71 Abs. 1 und 2 FamFG).

8

2.

Das Rechtsmittel ist auch begründet. Sowohl die Haftanordnung als auch die Beschwerdeentscheidung haben den Betroffenen in seinem Freiheitsrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt (§ 62 Abs. 1 FamFG). Die Haft hätte schon deshalb nicht angeordnet werden dürfen, weil es an einem zulässigen Haftantrag fehlte. Das Vorliegen eines solchen Antrags ist Verfahrensvoraussetzung und daher in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen (vgl. Senat, Beschluss vom 29. April 2010 - V ZB 218/09, NVwZ 2010, 1508, 1509; Beschluss vom 22. Juli 2010 - V ZB 28/10, FGPrax 2010, 316, 317; Beschluss vom 9. Dezember 2010 - V ZB 136/10 Rn. 6, [...]).

9

a)

Da der Antrag und dessen Begründung die Grundlage für die Anhörung des Betroffenen bilden, muss sowohl die Antragstellung als auch die Antragsbegründung aus den Verfahrensakten selbst ersichtlich sein; diese müssen daher entweder den vollständigen schriftlichen Haftantrag enthalten, oder die Antragsbegründung muss sich aus dem Protokoll über die Anhörung des Betroffenen ergeben (Senat, Beschluss vom 29. April 2010 - V ZB 218/09, aaO; Beschluss vom 21. Oktober 2010 - V ZB 96/10 Rn. 13, [...]; Beschluss vom 9. Dezember 2010 - V ZB 136/10 Rn. 6, [...]). Fehlt beides, ist eine Überprüfung der Ordnungsmäßigkeit der Haftanordnung in den Rechtsmittelinstanzen nicht möglich (Senat, Beschluss vom 29. April 2010 - V ZB 218/09, aaO; Beschluss vom 9. Dezember 2010 - V ZB 136/10, aaO).

10

b)

So verhält es sich hier.

11

aa)

Zwar hat die beteiligte Behörde ihren schriftlichen Haftverlängerungsantrag vom 1. Dezember 2010 begründet; zu der erforderlichen Dauer der Freiheitsentziehung (§ 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 4 FamFG) hat sie ausgeführt, dass die notwendige Passbeschaffung von Amts wegen erfahrungsgemäß vier bis sechs Wochen dauere. Aber der in dem Termin zur Anhörung des Betroffenen vor dem Amtsgericht mündlich gestellte Antrag, die Haft bis zum 26. Januar 2011 zu verlängern, enthält keine Begründung. In dem Protokoll über den Anhörungstermin ist nicht vermerkt und auch sonst nicht ersichtlich, dass auf die Antragsbegründung vom 1. Dezember 2010 Bezug genommen wurde. Das hätte im Übrigen auch nicht ausgereicht. Denn die beantragte Haftverlängerung geht mehr als eine Woche über den ursprünglichen Haftverlängerungsantrag hinaus.

Dass es dort " ... mindestens sechs Wochen" heißt, ist unerheblich. Dem Begründungserfordernis nach § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 4 FamFG ist nur bei Angabe einer bestimmten Dauer der beantragten Freiheitsentziehung Genüge getan. Deshalb ist davon auszugehen, dass die Haft für sechs Wochen verlängert werden sollte. Bei dieser Sachlage kann der mündlich gestellte Antrag entweder als neuer Haftverlängerungsantrag oder als Präzisierung des ursprünglichen Antrags angesehen werden. Beidem hätte das Amtsgericht nicht stattgeben dürfen. Denn wenn der neue mündlich gestellte Haftantrag Grundlage der Entscheidung war, durfte die Haft wegen der fehlenden Antragsbegründung nicht verlängert werden. War der ursprüngliche, nunmehr hinsichtlich der Haftdauer präzisierte Antrag Entscheidungsgrundlage, ist das Amtsgericht über den Antrag hinausgegangen, weil es die Haft um mehr als sechs Wochen verlängert hat. Die Anordnung einer über den Antrag der Behörde hinausgehenden Dauer der Freiheitsentziehung ist jedoch unzulässig (Senat, Beschluss vom 6. Mai 2010 - V ZB 223/09, FGPrax 2010, 212, Rn. 15).

12

bb)

In dem Beschwerdeverfahren hat die beteiligte Behörde keine Begründung zu dem - gegebenenfalls - neuen Haftantrag abgegeben. Auch hat sie die Haftdauer nicht dem ursprünglichen Antrag angepasst. Deshalb durfte das Beschwerdegericht die Haftanordnung nicht aufrechterhalten.

IV.

13

Wegen des Erfolgs der Rechtsbeschwerde ist dem Betroffenen Verfahrenskostenhilfe zu bewilligen, weil er nach seinen wirtschaftlichen Verhältnissen nicht in der Lage ist, die Kosten für das Rechtsbeschwerdeverfahren aufzubringen (§ 114 ZPO i.V.m. § 76 Abs. 1 FamFG).

V.

14

1.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2, § 83 Abs. 2 FamFG, § 128c Abs. 3 Satz 2 KostO. Unter Berücksichtigung der Regelung in Art. 5 Abs. 5 EMRK entspricht es billigem Ermessen, das Land B. als diejenige Körperschaft, der die beteiligte Behörde angehört (vgl. § 430 FamFG), zur Erstattung der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen zu verpflichten.

15

2.

Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 128c Abs. 2 KostO i.V.m. § 30 KostO.

Krüger
Lemke
Schmidt-Räntsch
Stresemann
Czub

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