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Bundesgerichtshof
Beschl. v. 28.09.2010, Az.: 5 StR 330/10
Beurteilung der erzieherischen Wirkung einer vollzogenen Untersuchungshaft auf einen bereits mehrfach verurteilten Angeklagten zur Rechtfertigung einer niedrigeren Jugendstrafe; Verfahrensverzögerung durch eine irrtümlich beim örtlich unzuständigen Gericht erhobene Anklage durch die Staatsanwaltschaft
Gericht: BGH
Entscheidungsform: Beschluss
Datum: 28.09.2010
Referenz: JurionRS 2010, 25547
Aktenzeichen: 5 StR 330/10
ECLI: [keine Angabe]

Verfahrensgang:

vorgehend:

LG Dresden - 06.04.2010

Rechtsgrundlagen:

Art. 20 Abs. 3 GG

§ 54 Abs. 1 S. 1 JGG

Art. 6 Abs. 1 S. 1 MRK

Fundstellen:

NStZ 2011, 524-525

StraFo 2011, 56-57

StV 2011, 588-589

Verfahrensgegenstand:

Vergewaltigung u. a.

BGH, 28.09.2010 - 5 StR 330/10

Redaktioneller Leitsatz:

  1. 1.

    Zwar kann eine erlittene Untersuchungshaft im Rahmen der Strafzumessung - insbesondere bei bisher haftunerfahrenen Angeklagten - ein bestimmender Gesichtspunkt sein.

  2. 2.

    Ihre erzieherische Bedeutung und damit korrespondierend eine mögliche Erörterungspflicht in den schriftlichen Urteilsgründen bestimmen sich allerdings nach den Umständen des Einzelfalls; dabei sind namentlich die Dauer der Untersuchungshaft, das Alter des Angeklagten, dessen persönliche Entwicklung und soziale Perspektiven von Bedeutung.

  3. 3.

    Der Senat lässt dahinstehen (neigt aber dazu), ob die Kompensation einer Verfahrensverzögerung im Wege des sogenannten Vollstreckungsmodells im Jugendstrafverfahren auch dann möglich ist, wenn die Jugendstrafe neben der Schwere der Schuld auch auf das Vorliegen schädlicher Neigungen gestützt worden ist.

Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat
am 28. September 2010
beschlossen:

Tenor:

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Dresden vom 6. April 2010 wird nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen.

Es wird davon abgesehen, dem Angeklagten die durch sein Rechtsmittel entstandenen Kosten und Auslagen aufzuerlegen. Er hat jedoch die hierdurch dem Nebenkläger entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

1

Das Landgericht hat den Angeklagten - einen Heranwachsenden - wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung schuldig gesprochen, aufgrund von Reifeverzögerung Jugendstrafrecht angewendet und ihn wegen schädlicher Neigungen und der Schwere der Schuld unter Einbeziehung zweier weiterer Verurteilungen (Jugendstrafe von sechs Monaten und Einheitsjugendstrafe von drei Jahren) zu einer einheitlichen Jugendstrafe von sechs Jahren verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf Verfahrensrügen und sachlichrechtliche Beanstandungen gestützten Revision.

2

Nach den Feststellungen des Landgerichts zwang der Angeklagte während der Verbüßung der dreijährigen Jugendstrafe den damals 18 Jahre alten, "offensichtlich verschüchterten" Geschädigten, der wegen Erschleichens von Leistungen erstmals eine Jugendstrafe verbüßte, unter Einsatz von Schlägen zur Durchführung des oralen und Duldung des analen Geschlechtsverkehrs.

3

1.

Die Revision zum Schuldspruch bleibt aus den vom Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift zutreffend dargelegten Gründen ohne Erfolg.

4

2.

Auch die Bemessung der Jugendstrafe hält im Ergebnis rechtlicher Nachprüfung stand.

5

a)

Die Urteilsgründe lassen hinreichend erkennen, dass dem Erziehungsgedanken im Rahmen der Strafzumessung die ihm zukommende Bedeutung eingeräumt worden ist und die wesentlichen erzieherischen Gesichtspunkte beachtet worden sind (§ 54 Abs. 1 Satz 1 JGG).

6

Entgegen der Ansicht der Revision bedurfte es in diesem Zusammenhang nicht der ausdrücklichen Erörterung, welche erzieherischen Wirkungen die ab September 2009 vollzogene Untersuchungshaft auf den Angeklagten gehabt hat. Zwar kann eine erlittene Untersuchungshaft im Rahmen der Strafzumessung - freilich insbesondere bei bisher haftunerfahrenen Angeklagten - ein bestimmender Gesichtspunkt sein (vgl. BGHR JGG § 18 Abs. 2 Erziehung 8 und Strafzwecke 6; BGH NStZ 1984, 508; StV 1986, 68, 69; NStZ 1998, 86, 87 [BGH 09.09.1997 - 4 StR 377/97]). Deren erzieherische Bedeutung und damit korrespondierend eine mögliche Erörterungspflicht in den schriftlichen Urteilsgründen bestimmen sich allerdings nach den Umständen des Einzelfalls; dabei sind namentlich die Dauer der Untersuchungshaft, das Alter des Angeklagten, dessen persönliche Entwicklung und soziale Perspektiven von Bedeutung.

7

Hier stellte die mehr als sechs Monate vollzogene Untersuchungshaft insbesondere mit Blick auf die vorausgehenden bereits zweimaligen Verbüßungen von Jugendstrafen durch den im Zeitpunkt der Urteilsverkündung mehr als zwanzig Jahre alten Angeklagten, seinen auch im früheren Vollzug fortwährenden Rauschmittelkonsum und sein übriges Vollzugsverhalten sowie seine sonstige persönliche Entwicklung und seine fehlende familiäre Einbindung keinen bestimmenden Strafzumessungsgrund dar (vgl. BGHR JGG § 18 Abs. 2 Strafzwecke 6). Ersichtlich dauerten die tiefgreifenden Persönlichkeitsdefizite des aus zerrütteten familiären Verhältnissen stammenden (UA S. 3), ausbildungs- und beschäftigungslosen (UA S. 4) und teils erheblich wegen Gewaltdelikten vorbestraften Angeklagten trotz vorangegangenen Jugendstrafvollzugs und (wiederholt abgebrochener) Therapien auch bis unmittelbar vor Beginn der Untersuchungshaft an (UA S. 4, 11); dass die vollzogene - ohnehin faktisch begrenzte pädagogische Möglichkeiten eröffnende und in erster Linie verfahrenssichernden Zwecken dienende (vgl. BGHSt 37, 75, 77) - Untersuchungshaft nachhaltig auf den Angeklagten eingewirkt haben und deshalb eine niedrigere Jugendstrafe rechtfertigen könnte (vgl. § 18 Abs. 2 JGG; BGHSt 37, 75, 77 f.), liegt nach alledem hier fern.

8

Aus den dargestellten Gründen musste sich das Landgericht auch nicht etwa zur strengbeweislichen Einführung der die Vollstreckung der Untersuchungshaft dokumentierenden Urkunden gedrängt sehen; die insoweit erhobene Aufklärungsrüge ist daher jedenfalls unbegründet.

9

b)

Zutreffend macht die Revision allerdings geltend, dass die Erledigung des Verfahrens teils in einer Weise verzögert worden ist, die mit den grundrechtlichen Gewährleistungen des Rechtsstaatsgebots (Art. 20 Abs. 3 GG) und den konventionsrechtlichen Garantien aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK unvereinbar ist; zu einer dem Angeklagten günstigeren Rechtsfolgenbemessung führt dies gleichwohl nicht.

10

Der Senat stellt auf Grund des zutreffenden Sachvortrages der zulässig (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) erhobenen Verfahrensrüge fest, dass die Erledigung des Verfahrens gegen den Angeklagten gegen das Zügigkeitsgebot verstoßen hat. Der mehrere Monate umfassenden Sachbehandlung nach irrtümlich beim örtlich unzuständigen Gericht erhobenen Anklage durch die Staatsanwaltschaft und der damit ersichtlich nicht korrespondierenden Verfahrensförderung durch die Strafkammer entnimmt der Senat im Ergebnis eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung von sechs Monaten. Eine über diese Feststellung hinausgehende Kompensation (vgl. hierzu EGMR EuGRZ 1983, 371; BVerfG [Kammer] NJW 2003, 2225, 2226; Tepperwien NStZ 2009, 1, 3 m.w.N.) der Konventionsverletzung etwa entsprechend den vom Großen Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofs in dessen Beschluss vom 17. Januar 2008 (BGHSt 52, 124, 129 ff.) entwickelten Grundsätzen ist hier mit Blick auf den besonders gravierenden Vorwurf, die schwierige Beweissituation und das noch überschaubare Ausmaß der Verzögerung auch unter Berücksichtigung der besonderen Bedeutung zügigen Prozessierens im Jugendstrafverfahren nicht erforderlich.

11

Der Senat kann nach der Feststellung der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung dahinstehen lassen, ob eine weitergehende Kompensation im Wege des sogenannten Vollstreckungsmodells im Jugendstrafverfahren auch dann möglich wäre, wenn die Jugendstrafe neben der Schwere der Schuld auch auf das Vorliegen schädlicher Neigungen gestützt worden ist. Eine Übertragung des sogenannten Vollstreckungsmodells auf das Jugendstrafverfahren hat er anerkannt, sofern Jugendstrafe allein wegen der Schwere der Schuld verhängt worden ist (vgl. BGH NStZ 2010, 94, 95). Anders als der 3. Strafsenat (vgl. BGHR MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1 Verfahrensverzögerung 30, 15; dazu aber Eisenberg, JGG 14. Aufl. § 18 Rdn. 15 f. m.w.N.) - vor der Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen (BGHSt 52, 124) - neigt der Senat dazu, die Frage zu bejahen.

Basdorf
Schaal
Schneider
König
Bellay

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