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Bundesgerichtshof
Beschl. v. 21.10.2010, Az.: V ZB 176/10
Rechtmäßigkeit einer Abschiebungshaft gegenüber einem afghanischen Staatsangehörigen trotz fehlender Anhörung des Betroffenen
Gericht: BGH
Entscheidungsform: Beschluss
Datum: 21.10.2010
Referenz: JurionRS 2010, 28683
Aktenzeichen: V ZB 176/10
ECLI: [keine Angabe]

Verfahrensgang:

vorgehend:

AG Frankfurt am Main - 07.05.2010 - AZ: 934 XIV 1232/10

LG Frankfurt am Main - 21.06.2010 - AZ: 2-29 T 88/10

BGH, 21.10.2010 - V ZB 176/10

Redaktioneller Leitsatz:

Im Beschwerdeverfahren gegen eine Haftanordnung zur Sicherung der Zurückschiebung ist der Betroffene grundsätzlich persönlich anzuhören. Etwas anderes gilt nur dann, wenn seine Anhörung in erster Instanz erfolgt ist und zusätzliche Erkenntnisse durch eine erneute Anhörung nicht zu erwarten sind.

Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat
am 21. Oktober 2010
durch
den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Krüger,
die Richter Dr. Lemke, Dr. Schmidt-Räntsch und Dr. Roth und
die Richterin Dr. Brückner
beschlossen:

Tenor:

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird festgestellt, dass der Beschluss der 29. Zivilkammer des Landgerichts Frankfurt am Main vom 21. Juni 2010 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat.

Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in den Rechtsmittelinstanzen werden dem Land Hessen auferlegt.

Der Gegenstandswert für das Rechtsbeschwerdeverfahren beträgt 3.000 EUR.

Gründe

I.

1

Der Betroffene ist afghanischer Staatsangehöriger. Nach eigenen Angaben reiste er am 6. Mai 2010 von Griechenland über Italien und Frankreich in die Bundesrepublik ein. Er meldete sich am 7. Mai 2010 gegen 0.10 Uhr bei der Bundespolizei in Frankfurt. Dort wurde er wegen des Verdachts des Verstoßes gegen das Aufenthaltsgesetz vorläufig festgenommen, weil er keine Identitätspapiere vorlegen konnte.

2

Der Betroffene, der über keinen Aufenthaltstitel für die Bundesrepublik verfügt, hatte bereits in Griechenland und Norwegen Asylanträge gestellt.

3

Auf den Antrag der Beteiligten zu 2 ordnete das Amtsgericht die Haft zur Sicherung der Zurückschiebung bis zum 6. August 2010 an. Die hiergegen gerichtete Beschwerde hat das Landgericht zurückgewiesen, ohne den Betroffenen persönlich angehört zu haben.

4

Am 1. Juli 2010 wurde der Betroffene aus der Haft entlassen, weil sein Verfahrensbevollmächtigter bei dem Verwaltungsgericht vorläufigen Rechtsschutz gegen die Zurückschiebung nach Griechenland beantragt hatte.

5

Mit der Rechtsbeschwerde will der Betroffene die Feststellung erreichen, dass die Entscheidung des Landgerichts ihn in seinen Rechten verletzt hat.

II.

6

Das Beschwerdegericht hat u.a. ausgeführt, dass die Haftgründe nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 5 AufenthG erfüllt seien. Der Betroffene habe nicht nach § 62 Abs. 2 Satz 3 AufenthG glaubhaft gemacht, dass er sich der Zurückschiebung nicht entziehen werde. Zwar habe er sich bei der Bundespolizei gemeldet. Jedoch verfüge er weder über einen festen Wohnsitz noch über persönliche Bindungen und sei schon zweimal aus Griechenland ausgereist. Es könne auch davon ausgegangen werden, dass die Zurückschiebung innerhalb der Drei-Monats-Frist (§ 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG) erfolge.

III.

7

1.

Die auf Feststellung nach § 62 Abs. 1 FamFG gerichtete Rechtsbeschwerde ist nach § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 FamFG statthaft (vgl. Senat, Beschluss vom 4. März 2010 - V ZB 184/09, FGPrax 2010, 152 Rn. 4; Beschluss vom 17. Juni 2010 - V ZB 13/10, [...] Rn. 7, 9) und auch im Übrigen zulässig (§ 71 Abs. 1 FamFG).

8

2.

Die Rechtsbeschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Die Entscheidung des Beschwerdegerichts hat den Betroffenen in seinen Rechten verletzt (§ 62 Abs. 1 FamFG). Denn die Feststellung, der Betroffene habe durch sein Verhalten deutlich gemacht, dass er nicht nach Griechenland möchte, sondern in Deutschland bleiben und sich der Zurückschiebung entziehen wolle, hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Das Beschwerdegericht hätte den Betroffenen anhören müssen.

9

a)

Die persönliche Anhörung des Betroffenen ist nach Art. 103 Abs. 1 GG, § 68 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 420 Abs. 1 Satz 1 FamFG und Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG auch im Beschwerdeverfahren grundsätzlich zwingend vorgeschrieben. Hiervon darf das Beschwerdegericht nach § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG nur absehen, wenn eine ordnungsgemäße persönliche Anhörung des Betroffenen in erster Instanz erfolgt ist und zusätzliche Erkenntnisse durch eine erneute Anhörung nicht zu erwarten sind (Senat, Beschluss vom 28. Januar 2010 - V ZB 2/10, FGPrax 2010, 163; Beschluss vom 4. März 2010 - V ZB 222/09, BGHZ 184, 323 Rn. 13; Beschluss vom 17. Juni 2010 - V ZB 3/10, [...] Rn. 8).

10

b)

Diese Voraussetzungen lagen nicht vor. Denn seit dem Erlass der Haftanordnung hatten sich neue Gesichtspunkte ergeben, die eine persönliche Anhörung erforderlich machten. Der Betroffene hatte nämlich im Beschwerdeverfahren u.a. geltend gemacht, er sei nach Deutschland gekommen, um hier einen Asylantrag zu stellen; deshalb habe er sich bei der Bundespolizei gemeldet. Er werde sich bis zur Entscheidung darüber, ob ein Asylverfahren in Deutschland durchgeführt werde, in einer Aufnahmeeinrichtung zur Verfügung halten und nicht untertauchen.

11

c)

Zutreffend weist der Betroffene darauf hin, dass der ernsthafte Wille, ein Asylverfahren durchzuführen, in die Beurteilung, ob er ohne die Freiheitsentziehung untertauchen wird, einzustellen ist. Dabei kommt insbesondere dem Umstand, dass der Betroffene sich aus freien Stücken bei der Bundespolizei gemeldet hat, eine Bedeutung zu, die nicht ohne weiteres hinter die nach Ansicht des Beschwerdegerichts maßgeblichen Umstände - den fehlenden festen Wohnsitz, die fehlenden sozialen Bindungen in Deutschland und die zweimalige Ausreise aus Griechenland - zurücktreten kann. Denn der Betroffene hat die wiederholte Ausreise aus Griechenland mit den Verhältnissen, unter denen Asylbewerber dort leben müssen, plausibel begründet. Ob dieses Vorbringen glaubhaft ist, kann nur aufgrund einer persönlichen Anhörung des Betroffenen hinreichend sicher beantwortet werden (vgl. Senat, Beschluss vom 4. März 2010 - V ZB 184/09, FGPrax 2010, 152 Rn. 10).

12

3.

Wegen dieses Verfahrensfehlers hat die Entscheidung des Beschwerdegerichts den Betroffenen in seinem Freiheitsgrundrecht (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) verletzt (vgl. § 62 Abs. 1 FamFG). Denn das Unterlassen der notwendigen mündlichen Anhörung im Beschwerdeverfahren drückt wegen deren grundlegender Bedeutung der gleichwohl aufrechterhaltenen Haft zur Sicherung der Zurückschiebung den Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung auf, der durch die Nachholung der Maßnahme - jedenfalls im Fall der Erledigung der Hauptsache - rückwirkend nicht mehr zu tilgen ist (Senat, Beschluss vom 4. März 2010 - V ZB 184/09, FGPrax 2010, 152 Rn. 10).

IV.

13

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 83 Abs. 2, 81 Abs. 1, 430 FamFG; unter Berücksichtigung der Regelung in Art. 5 Abs. 5 EMRK entspricht es billigem Ermessen, das Land Hessen als derjenigen Körperschaft, der die Beteiligte zu 2 angehört, zur Erstattung der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen zu verpflichten (vgl. Senat, Beschluss vom 22. Juli 2010 - V ZB 28/10, [...] Rn. 18).

14

Die Festsetzung des Beschwerdewerts folgt aus § 128c Abs. 2 KostO i.V.m. § 30 Abs. 2 KostO.

Krüger
Lemke
Schmidt-Räntsch
Roth
Brückner

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