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Bundesgerichtshof
Beschl. v. 14.06.2012, Az.: V ZB 63/12
Gesetzliche Anforderungen an die Begründung der Sicherungshaft gegenüber einer Asyl beantragenden irakischen Staatsangehörigen
Gericht: BGH
Entscheidungsform: Beschluss
Datum: 14.06.2012
Referenz: JurionRS 2012, 18325
Aktenzeichen: V ZB 63/12
ECLI: [keine Angabe]

Verfahrensgang:

vorgehend:

AG Augsburg - 05.07.2011 - AZ: XIV 57/11 (B)

LG Augsburg - 18.07.2011 - AZ: 52 T 2557/11

BGH, 14.06.2012 - V ZB 63/12

Redaktioneller Leitsatz:

1.

Ein den gesetzlichen Anforderungen genügender Haftantrag muss sich zu allen in § 417 Abs. 2 S. 2 FamFG bestimmten Punkten verhalten. Die dazu notwendigen Darlegungen müssen die für die richterliche Prüfung wesentlichen Punkte des Falls ansprechen, auf den konkreten Fall zugeschnitten sein und dürfen sich insbesondere für die Ausführungen zur beantragten Dauer der Haft nicht in Leerformeln und Textbausteinen erschöpfen.

2.

Ein Haftantrag ist auch dann unzulässig, wenn er dem Betroffenen nach dem Anhörungsprotokoll und dem sonstigen Inhalt der Akten weder vor noch während der Anhörung in Kopie ausgehändigt oder auch nur zur Kenntnis gebracht worden ist. Das gilt auch dann, wenn der Verfahrensbevollmächtigte des Betroffenen über den Anhörungstermin unterrichtet worden ist.

Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 14. Juni 2012 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Krüger, die Richter Dr. Lemke und Prof. Dr. Schmidt-Räntsch und die Richterinnen Dr. Brückner und Weinland

beschlossen:

Tenor:

Der Betroffenen wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde gewährt.

Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird festgestellt, dass die Beschlüsse des Amtsgerichts Augsburg vom 5. Juli 2011 und der 5. Zivilkammer des Landgerichts Augsburg vom 18. Juli 2011 sie in ihren Rechten verletzt haben.

Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen der Betroffenen in allen Instanzen werden dem Landkreis Augsburg auferlegt.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 3.000 €.

Gründe

I.

1

Die Betroffene, eine irakische Staatsangehörige, kam mit einem gültigen Besuchsvisum nach Italien und reiste von dort am 15. April 2010 unerlaubt nach Deutschland ein, wo sie erfolglos Asyl beantragte. Zwei Anordnungen von vorläufiger Sicherungshaft vom 22. September 2010 und vom 6. Oktober 2010 konnten nicht vollzogen werden, weil sie nicht auffindbar war. Ihre Abschiebung wurde - seit dem 5. März 2011 vollziehbar - angeordnet. Mit seit dem 4. Juli 2011 bestandskräftigem Bescheid vom 18. Mai 2011 wurde sie ausgewiesen. Die italienischen Behörden sagten die Rücknahme der Betroffenen bis zum 7. März 2012 zu. Am 28. Juni 2011 beantragte diese erneut in Deutschland Asyl. Auf den Antrag der beteiligten Behörde auf Anordnung von Abschiebungshaft hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 5. Juli 2011 Haft zur Sicherung der Zurückschiebung bis zum 4. Oktober 2011 angeordnet. Die Beschwerde der Betroffenen hat das Landgericht zurückgewiesen. Dagegen wendet sie sich mit der Rechtsbeschwerde, nach ihrer Abschiebung nach Italien am 27. Juli 2011 mit dem Antrag, die Verletzung ihrer Rechte durch die Anordnung und Aufrechterhaltung der Haft festzustellen.

II.

2

Das Beschwerdegericht meint, die Betroffene sei vollziehbar ausreisepflichtig. Ihr Asylantrag vom 28. Juni 2011 stehe der Anordnung von Sicherungshaft nicht entgegen. Es bestehe der begründete Verdacht, dass sie sich der Abschiebung entziehe werde. Sie habe sich zwei Haftanordnungen entzogen. Es sei offensichtlich, dass sie das Besuchsvisum für Italien angestrebt habe, um von dort nach Deutschland zu gelangen, wo ihre Brüder wohnten. Sie werde der Abschiebung deshalb nicht Folge leisten. Ihre Zurückschiebung sei auch nicht unverhältnismäßig. Von der Betroffenen nicht zu vertretende Gründe, die einer Durchführung der Abschiebung in den nächsten drei Monaten entgegenstünden, seien nicht ersichtlich. Eine ergänzende Anhörung der Betroffenen sei nicht erforderlich.

III.

3

Die gemäß § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 FamFG mit dem Feststellungsantrag analog § 62 FamFG statthafte (Senat, Beschluss vom 25. Februar 2010 - V ZB 172/09, FGPrax 2010, 150, 151 Rn. 9) und auch sonst zulässige (§ 71 FamFG) Rechtsbeschwerde ist begründet. Die Betroffene ist durch die Haftanordnung und ihre Aufrechterhaltung durch das Beschwerdegericht in ihren Rechten verletzt worden.

4

1. Die Haft hätte nach §§ 417, 420 FamFG nicht angeordnet werden dürfen, weil der vorgelegte Haftantrag nicht zulässig war und weil er der Betroffenen nicht ausgehändigt worden ist.

5

a) Sicherungshaft darf nur angeordnet werden, wenn der von der beteiligten Behörde vorgelegte Haftantrag die nach § 417 Abs. 2 Satz 1 FamFG vorgeschriebene Begründung enthält und diese den gesetzlichen Anforderungen des § 417 Abs. 2 Satz 2 FamFG entspricht (Senat, Beschluss vom 15. September 2011 - V ZB 123/11, FGPrax 2011, 317 Rn. 8). Daran fehlt es hier.

6

aa) Den gesetzlichen Anforderungen an die Begründung genügt ein Haftantrag nicht schon dann, wenn darin entsprechend § 23 FamFG "die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel angegeben" werden. Vielmehr muss er sich zu allen in § 417 Abs. 2 Satz 2 FamFG bestimmten Punkten verhalten. Die dazu notwendigen Darlegungen dürfen zwar knapp gehalten sein, sie müssen aber die für die richterliche Prüfung wesentlichen Punkte des Falls ansprechen (vgl. Senat, Beschluss vom 15. September 2011 - V ZB 123/11, FGPrax 2011, 317 f. Rn. 9), auf den konkreten Fall zugeschnitten sein und dürfen sich nicht in Leerformeln und Textbausteinen erschöpfen (Senat, Beschluss vom 27. Oktober 2011 - V ZB 311/10, FGPrax 2012, 82, 83 Rn. 13). Das gilt insbesondere für die Ausführungen zur beantragten Dauer der Haft. Hieran fehlt es.

7

bb) Dem Haftantrag ist eine Mitteilung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 29. Oktober 2010 beigefügt, aus welcher sich ergibt, dass eine Rückführung der Betroffenen nach Italien bis zum 7. März 2012 möglich war. Aus welchen Gründe die beteiligte Behörde angesichts der offenbar vorhandenen Rücknahmebereitschaft der italienischen Behörden die Anordnung einer Haft von bis zu drei Monaten für notwendig hielt, ist weder dem Antrag noch den beigefügten Unterlagen zu entnehmen. Ausführungen dazu waren aber geboten. Die in § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG aF bestimmte Frist von drei Monaten darf nur ausgeschöpft werden, wenn eine schnellere Abschiebung nicht möglich ist. Das ist heute in § 62 Abs. 1 Satz 2 AufenthG ausdrücklich geregelt, galt aber auch schon vor Inkrafttreten dieser Regelung. Mit dieser Norm setzte der deutsche Gesetzgeber nämlich Art. 15 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. EG Nr. L 348 S. 98) um, die bis zum 24. Dezember 2010 umzusetzen und seit diesem Zeitpunkt bei der Anwendung des Aufenthaltsgesetzes zu beachten war (Senat, Beschluss vom 17. Juni 2010 - V ZB 9/10 InfAuslR 2010, 384, 387 [BGH 17.06.2010 - V ZB 9/10] = [...] Rn. 27 für Art. 17 der Richtlinie).

8

b) Die Haft hätte auch deshalb nicht angeordnet werden dürfen, weil der Haftantrag der Betroffenen nach dem Anhörungsprotokoll und dem sonstigen Inhalt der Akten weder vor noch während der Anhörung in Kopie ausgehändigt oder auch nur zur Kenntnis gebracht worden ist. Der Haftantrag kann dem Betroffenen zwar erst zu Beginn der Anhörung eröffnet werden, wenn dieser einen einfachen, überschaubaren Sachverhalt betrifft, zu dem der Betroffene auch unter Berücksichtigung einer etwaigen Überraschung ohne weiteres auskunftsfähig ist (Senat, Beschluss vom 4. März 2010 - V ZB 222/09, BGHZ 184, 323, 330 Rn. 16 mwN). Hier ist dem Anhörungsprotokoll schon nicht zu entnehmen, dass die Betroffene überhaupt mit dem Inhalt des Haftantrags vertraut gemacht worden ist. Eine solche Information über den Inhalt des Haftantrags wäre aber ohnehin nicht ausreichend gewesen. Denn aus dem Umstand, dass der Haftantrag in einfachen Fällen erst zu Beginn der Anhörung eröffnet werden kann, folgt nicht, dass sich der Haftrichter in einem solchen Fall darauf beschränken dürfte, den Inhalt des Haftantrags mündlich vorzutragen. Vielmehr muss dem Betroffenen in jedem Fall eine Kopie des Haftantrags ausgehändigt werden und dies in dem Anhörungsprotokoll oder an einer anderen Aktenstelle schriftlich dokumentiert werden (Senat, Beschluss vom 21. Juli 2011 - V ZB 141/11, FGPrax 2011, 257, 258 Rn. 8). Das gilt auch dann, wenn der Verfahrensbevollmächtigte des Betroffenen über den Termin unterrichtet worden ist. Denn durch die - hier zudem aus den Akten nicht ersichtliche - Unterrichtung über den Termin allein erfährt auch dieser nichts von dem Inhalt des Haftantrags.

9

2. Die Aufrechterhaltung der Haftanordnung durch das Beschwerdegericht hat die Betroffene in ihren Rechten verletzt, weil die beteiligte Behörde den Haftantrag nicht ergänzt hatte, es deshalb immer noch an den Haftvoraussetzungen fehlte, und weil es sie nicht selbst angehört hat, obwohl es dazu verpflichtet war.

10

a) Die angeordnete Haft durfte nur aufrechterhalten werden, wenn zu diesem Zeitpunkt ein zulässiger Haftantrag vorlag. Das ist der Fall, wenn die beteiligte Behörde die fehlenden Angaben im Beschwerdeverfahren nachholt und dem Betroffenen rechtliches Gehör dazu gewährt wird (Senat, Beschluss vom 15. September 2011 - V ZB 136/11, FGPrax 2011, 318 f. Rn. 8). Das ist nicht geschehen.

11

b) Das Beschwerdegericht durfte von der auch in einem Beschwerdeverfahren grundsätzlich erforderlichen Anhörung (vgl. Senat, Beschlüsse vom 28. Januar 2010 - V ZB 2/10, FGPrax 2010, 163, vom 4. März 2010 - V ZB 184/09, FGPrax 2010, 152, 153 Rn. 7 und vom 4. März 2010 V ZB 222/09, BGHZ 184, 323, 329 Rn. 13) nicht absehen. Nach § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG ist dies zwar ausnahmsweise - auch unter Berücksichtigung von Art. 6 Abs. 1 EMRK - zulässig, wenn eine persönliche Anhörung in erster Instanz bereits erfolgt ist und zusätzliche Erkenntnisse durch eine erneute Anhörung nicht zu erwarten sind (Senat, Beschlüsse vom 4. März 2010 - V ZB 184/09, FGPrax 2010, 152, 153 Rn. 7 und vom 4. März 2010 V ZB 222/09, BGHZ 184, 323, 329 Rn. 13). Daran fehlt es aber, wenn die angegriffene Haft ohne zulässigen Haftantrag angeordnet worden ist. Das Fehlen eines zulässigen Haftantrags entzieht nicht erst der Haftanordnung die Grundlage, sondern schon der vorausgehenden Anhörung des Betroffenen durch den Haftrichter. Ohne zulässigen Haftantrag kann der Haftrichter dem Betroffenen nicht, wie geboten, Gelegenheit geben, sich zu den tatsächlichen und rechtlichen Grundlagen der gegen ihn zu verhängenden Freiheitsentziehung sowie zu allen wesentlichen Gesichtspunkten zu äußern, auf die es für die Entscheidung über die Freiheitsentziehung ankommt (vgl. Senat, Beschlüsse vom 29. April 2010 V ZB 218/09, NVwZ 2010, 1508, 1510 Rn. 25 und vom 18. August 2010 V ZB 119/10, NVwZ 2010, 1575 (Ls.) Rn. 14, Abdruck bei [...]). Außerdem hatte das Amtsgericht versäumt, die Betroffene, wie geboten (Senat, Beschluss vom 19. Januar 2012 - V ZB 221/11, FGPrax 2012, 84, 85 Rn. 5), dazu zu befragen, ob sie der Abschiebungsanordnung trotz grundsätzlicher Ausreiseunwilligkeit, die für sich genommen eine Inhaftierung nicht rechtfertigt (Senat, Beschluss vom 12. Juni 1986 V ZB 9/86, BGHZ 98, 109, 113), freiwillig Folge leisten werde.

IV.

12

Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2, § 83 Abs. 2, § 430 FamFG, Art. 5 Abs. 5 EMRK analog. Die Festsetzung des Beschwerdewerts folgt aus § 128c Abs. 2 KostO i.V.m. § 30 Abs. 2 KostO.

Krüger

Lemke

Schmidt-Räntsch

Brückner

Weinland

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