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Bundesgerichtshof
Beschl. v. 12.02.2015, Az.: V ZB 185/14
Aufenthaltsanordnung zur Sicherung der Abreise eines vermeintlich minderjährigen kongolesischen Staatsangehörigen; Besondere Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei der Anordnung von Sicherungshaft gegenüber Minderjährigen
Gericht: BGH
Entscheidungsform: Beschluss
Datum: 12.02.2015
Referenz: JurionRS 2015, 12416
Aktenzeichen: V ZB 185/14
ECLI: [keine Angabe]

Verfahrensgang:

vorgehend:

AG Frankfurt am Main - 21.08.2014 - AZ: 934 XIV 1331/14 B

LG Frankfurt am Main - 06.10.2014 - AZ: 2-29 T 230/14

Fundstellen:

InfAuslR 2015, 238-240

JAmt 2015, 395-396

NVwZ 2015, 840

ZAR 2015, 21

BGH, 12.02.2015 - V ZB 185/14

Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 12. Februar 2015 durch die Vorsitzende Richterin Dr. Stresemann, den Richter Dr. Roth, die Richterinnen Dr. Brückner, Weinland und den Richter Dr. Kazele
beschlossen:

Tenor:

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss der 29. Zivilkammer des Landgerichts Frankfurt am Main vom 6. Oktober 2014 aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweitigen Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Beschwerdegericht zurückverwiesen.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.

Gründe

I.

1

Der Betroffene, ein kongolesischer Staatsangehöriger, traf am 27. Juli 2014 auf dem Flughafen in Frankfurt am Main ein. Er gab an, 16 Jahre alt zu sein. Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 21. August 2014 zur Sicherung seiner Abreise den Aufenthalt in der Asylbewerberunterkunft auf dem Flughafen bis zum 16. Oktober 2014 angeordnet. Die dagegen gerichtete Beschwerde hat das Landgericht zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde will der Betroffene, der am 13. Oktober 2014 aus der Asylbewerberunterkunft entlassen worden ist, die Feststellung erreichen, durch die Aufenthaltsanordnung und deren Aufrechterhaltung in seinen Rechten verletzt worden zu sein.

II.

2

Nach Ansicht des Beschwerdegerichts ist die Aufenthaltsanordnung zur Sicherung der Abreise rechtmäßig, insbesondere verstößt sie nicht gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Aufgrund der Einschätzungen des Jugendamtes und des Amtsgerichts sei nicht von einer Minderjährigkeit des Betroffenen auszugehen.

III.

3

Diese Erwägungen halten einer rechtlichen Prüfung nicht stand.

4

1. Die Rechtsbeschwerde rügt zu Recht einen Verstoß des Haftrichters und des Beschwerdegerichts gegen die Amtsermittlungspflicht (§ 26 FamFG), weil sie keine ausreichenden Ermittlungen zur Frage der Minderjährigkeit des Betroffenen und daraus folgend zur Verhältnismäßigkeit der Anordnung nach § 15 Abs. 6 AufenthG angestellt haben.

5

a) Bei der Anordnung von Sicherungshaft gegenüber Minderjährigen kommt dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wegen der Schwere des Eingriffs besondere Bedeutung zu (Senat, Beschluss vom 29. September 2010 - V ZB 233/10, NVwZ 2011, 320; Beschluss vom 7. März 2012 - V ZB 41/12, InfAuslR 2012, 224). Nach § 62a Abs. 3 AufenthG sind bei minderjährigen Abschiebungsgefangenen unter Beachtung der Maßgaben der in Art. 17 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L 348 vom 24. Dezember 2008, S. 98) alterstypische Belange zu berücksichtigen. Nach Art. 17 Abs. 1 und 4 der Rückführungsrichtlinie wird bei unbegleiteten Minderjährigen Haft nur im äußersten Fall und für die kürzestmögliche Dauer eingesetzt; sie müssen so weit wie möglich in Einrichtungen untergebracht werden, die personell und materiell zur Berücksichtigung ihrer altersgemäßen Bedürfnisse in der Lage sind (vgl. Senat, Beschluss vom 7. März 2012 - V ZB 41/12, InfAuslR 2012, 224).

6

Gleiches gilt für eine Anordnung nach § 15 Abs. 6 AufenthG, da das Festhalten auf dem Flughafen trotz der Möglichkeit, auf dem Luftweg abzureisen, nach einer gewissen Dauer und wegen der damit verbundenen Eingriffsintensität einer Freiheitsentziehung gleichsteht. Grundsätzlich ist der Haftrichter daher auch bei einer solchen Anordnung gemäß § 26 FamFG von Amts wegen verpflichtet zu prüfen, ob eine altersgerechte Unterbringung des Minderjährigen gewährleistet und die über 30 Tage hinausgehende Unterbringung auf dem Flughafen auch im Übrigen noch verhältnismäßig ist (Senat, Beschluss vom 11. Oktober 2012 - V ZB 154/11, FGPrax 2013, 38 Rn. 13 ff.).

7

b) Bestehen Zweifel an der Volljährigkeit des Betroffenen, hat das Gericht gemäß § 26 FamFG den Sachverhalt aufzuklären. Solche Zweifel werden allerdings nicht bereits dadurch begründet, dass der Betroffene angibt, minderjährig zu sein; ist diese Behauptung schon aufgrund des äußeren Erscheinungsbildes des Betroffenen offenkundig falsch - was von dem Haftrichter nachvollziehbar darzulegen ist -, sind weitere Ermittlungen zum Alter des Betroffenen nicht erforderlich. Liegt eine Volljährigkeit des Betroffenen hingegen nicht klar zutage, sind weitere Aufklärungen erforderlich, wobei hohe Anforderungen an die Ausfüllung des Amtsermittlungsgrundsatzes zu stellen sind. Eine Einschätzung des Haftrichters, der Betroffene sei volljährig, reicht in der Regel - selbst wenn sie auf ein großes Erfahrungswissen gestützt ist - nicht aus, um ein sicheres Bild zu gewinnen. Vielmehr sind die nach § 49 Abs. 3 i.V.m. Abs. 6 AufenthG vorgesehenen Maßnahmen zu ergreifen. Im Zweifel ist zugunsten des Betroffenen von einer Minderjährigkeit auszugehen (vgl. Senat, Beschluss vom 29. September 2010 - V ZB 233/10, NVwZ 2011, 320 Rn. 11).

8

c) Diesen Anforderungen hat weder der Haftrichter noch das Beschwerdegericht Rechnung getragen. Sie sind der Frage einer altersgerechten Unterbringung des Betroffenen nicht nachgegangen, da sie unter Verletzung der Amtsermittlungspflicht zu der Feststellung gelangt sind, dass er volljährig ist.

9

aa) Wie sich bereits aus der Schätzung des Alters des Betroffenen auf 18 Jahre ergibt, handelt es sich nicht um einen eindeutigen Fall, der keine Zweifel an der Volljährigkeit aufwirft. Der Haftrichter war daher zur Aufklärung des Sachverhalts verpflichtet. Seine Einschätzung von der Volljährigkeit des Betroffenen gründete sich jedoch allein auf die in der Ausländerakte befindliche Niederschrift des Jugendamtes über die Altersangabe eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings vom 1. August 2014, der er sich "aufgrund des in der Anhörung gewonnenen persönlichen Eindrucks" angeschlossen hat. Dies reicht als Grundlage für die Beurteilung des Lebensalters des Betroffenen nicht aus. In der Niederschrift des Jugendamtes ist lediglich die vorgedruckte Formulierung angekreuzt "Nach dem äußeren Erscheinungsbild, dem Verhalten der Person und den weiteren Umständen (ggfs. ergänzender Erläuterungen vornehmen) ist nach Überzeugung der o.a. davon auszugehen, dass die Altersangabe den tatsächlichen VerhältnissenNICHT entspricht". Ergänzende Erläuterungen enthält die Niederschrift nicht, insbesondere ist nicht erkennbar, anhand welcher konkreten Tatsachen die beiden Mitarbeiter des Jugendamtes die Erkenntnis gewonnen haben, dass der Betroffene volljährig ist. Angesichts dessen waren die weitere Aufklärung und die Vornahme von Ermittlungen durch den Haftrichter zum tatsächlichen Alter des Betroffenen unerlässlich. Hierfür genügte es nicht, dass er, ohne sich auf weitere Umstände zu stützen (vgl. Senat, Beschluss vom 29. September 2010 - V ZB 233/10, NVwZ 2011, 320 Rn. 12), allein auf seinen persönlichen Eindruck abstellte.

10

bb) Der Verstoß des Amtsgerichts gegen die Amtsermittlungspflicht ist nicht von dem Beschwerdegericht geheilt worden (vgl. Senat, Beschluss vom 20. Januar 2011 - V ZB 226/10, FGPrax 2011, 144 Rn. 12). Im Hinblick auf die unzureichende Aufklärung durch den Haftrichter durfte sich dieses nicht mit dem bloßen Hinweis begnügen, dass es aufgrund der Einschätzungen des Jugendamtes und des Haftrichters von einer Volljährigkeit des Betroffenen ausgehe.

11

2. Die Sache ist nicht zur Entscheidung reif und daher nach § 74 Abs. 6 Satz 2 FamFG an das Beschwerdegericht zurückzuverweisen. Wie die Rechtsbeschwerde vorträgt, ist dem Betroffenen im Oktober 2014 die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland gestattet worden. Da die gebotene Sachaufklärung somit nachgeholt werden kann, lässt sich nicht ausschließen, dass sich die Anordnung des Aufenthalts des Betroffenen in der Asylbewerberunterkunft als verhältnismäßig erweist.

Stresemann

Roth

Brückner

Weinland

Kazele

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