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Bundesgerichtshof
Beschl. v. 07.04.2011, Az.: V ZB 211/10
Fehlen eines Rehabilitierungsinteresses des Abzuschiebenden bei dessen Untersuchungshaft in dem von der Anordnung der Sicherungshaft erfassten Zeitraum; Anordnung und Aufrechterhaltung von Sicherungshaft im Vorfeld der Abschiebung
Gericht: BGH
Entscheidungsform: Beschluss
Datum: 07.04.2011
Referenz: JurionRS 2011, 15116
Aktenzeichen: V ZB 211/10
ECLI: [keine Angabe]

Verfahrensgang:

vorgehend:

AG Hamburg-Mitte - 01.07.2010 - AZ: 219i XIV 41063/09

AG Hamburg - 01.07.2010 - AZ: 219i XIV 41063/09

LG Hamburg - 21.07.2010 - AZ: 329 T 66/10

LG Hamburg - 21.07.2010 - AZ: 329 T 67/10

BGH - 18.08.2010 - AZ: V ZB 211/10

BGH, 07.04.2011 - V ZB 211/10

Redaktioneller Leitsatz:

Die Sicherungshaft darf nicht angeordnet werden, wenn das nach § 72 Abs. 4 S. 1 AufenthG erforderliche Einvernehmen der Staatsanwaltschaft mit der Abschiebung eines Ausländers fehlt.

Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat
am 7. April 2011
durch
den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Krüger,
die Richterin Dr. Stresemann,
den Richter Dr. Czub und
die Richterinnen Dr. Brückner und Weinland
beschlossen:

Tenor:

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird festgestellt, dass der Beschluss der 29. Zivilkammer des Landgerichts Hamburg vom 21. Juli 2010 und der Beschluss des Amtsgerichts Hamburg vom 1. Juli 2010 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben, soweit darin Sicherungshaft für die Zeit vom 2. bis 18. August 2010 angeordnet bzw. aufrechterhalten worden ist. Die weitergehende Rechtsbeschwerde wird zurückgewiesen.

Die gerichtlichen Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens werden dem Betroffenen zu 72 % auferlegt. Gerichtskosten für die Betroffenen sämtliche notwendigen Auslagen aus den Vorinstanzen sowie 28 % seiner notwendigen Auslagen aus dem Rechtsbeschwerdeverfahren zu erstatten. Eine weitergehende Auslagenerstattung findet nicht statt. Dolmetscherkosten werden nicht erhoben.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 3.000 €.

Gründe

I.

1

Der Betroffene, ein Staatsangehöriger von Montenegro, reiste nach eigenen Angaben am 6. Mai 2010 in das Bundesgebiet ein und wurde am 17. Juni 2010 vorläufig festgenommen. Auf Antrag der Beteiligten zu 2 ordnete das Amtsgericht am 18. Juni 2010 Haft zur Sicherung der Zurückschiebung des Betroffenen und die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung an.

2

Am selben Tag wurde der Betroffene im Zusammenhang mit einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren in Untersuchungshaft genommen. Aus diesem Grund scheiterte seine für den 1. Juli 2010 geplante Rückführung nach Montenegro. Mit Beschluss vom 1. Juli 2010 verlängerte das Amtsgericht die Sicherungshaft bis längstens vier Wochen nach Ende der Untersuchungshaft. Ein Einvernehmen mit der Staatsanwaltschaft hinsichtlich der Zurückschiebung des Betroffenen wurde nicht hergestellt.

3

Die gegen die Anordnung und Verlängerung der Sicherungshaft gerichteten Beschwerden des Betroffenen sind ohne Erfolg geblieben. Die Untersuchungshaft ist am 2. August 2010 aufgehoben worden. Der Senat hat die sich anschließende Sicherungshaft einstweilen ausgesetzt. Der Betroffene, der darauf hin am 18. August 2010 entlassen worden ist, möchte mit der Rechtsbeschwerde festgestellt wissen, dass die Haftanordnungen des Amtsgerichts vom 18. Juni und 1. Juli 2010 sowie die Beschwerdeentscheidung ihn in seinen Rechten verletzt haben.

II.

4

Das Beschwerdegericht hält den Betroffenen aufgrund unerlaubter Einreise für vollziehbar ausreisepflichtig. Da er nicht glaubhaft gemacht habe, dass er sich einer Abschiebung nicht entziehen werde, sei die Haft anzuordnen gewesen. Anhaltspunkte dafür, dass die Abschiebung nicht innerhalb der nächsten drei Monate durchgeführt werden könne, lägen nicht vor. Im Hinblick darauf, dass Verhandlungstermine bis zum 2. August 2010 angesetzt seien, bestünden keine Hinweise darauf, dass sich das Strafverfahren länger hinauszögern werde. Die Staatsanwaltschaft werde einer Abschiebung dann gegebenenfalls zustimmen.

III.

5

Die zulässige Rechtsbeschwerde ist zum Teil begründet.

6

1.

Mangels Feststellungsinteresses (§ 62 Abs. 1 FamG) bleibt sie allerdings ohne Erfolg, soweit der Zeitraum vom 18. Juni bis zum 1. August 2010 in Rede steht. In Freiheitsentziehungssachen besteht nach einer Erledigung der Hauptsache zwar grundsätzlich ein Rehabilitierungsinteresse und damit ein Rechtsschutzbedürfnis des Betroffenen für einen Antrag, mit dem die Rechtswidrigkeit der Inhaftierung festgestellt werden soll (vgl. § 62 Abs. 2 Nr. 1 FamFG sowie BVerfGE 104, 220, 235). An einem Rehabilitierungsinteresse fehlt es aber, wenn der Betroffene in dem von der Anordnung der Sicherungshaft erfassten Zeitraum eine Freiheitsstrafe verbüßt oder sich - wie hier - in Untersuchungshaft befunden hat (vgl. Senat, Beschluss vom 2. Dezember 2010 - V ZB 162/10, [...]; BayObLG FGPrax 2004, 307, 308 [BayObLG 16.08.2004 - 4 Z BR 45/04]).

7

2.

Bezogen auf den Zeitraum, in dem die Sicherungshaft vollstreckt wurde (2. bis 18. August 2010), ist die Rechtsbeschwerde begründet. Die Entscheidung des Beschwerdegerichts und die Verlängerung der Haftanordnung durch das Amtsgericht vom 1. Juli 2010 verletzen den Betroffenen insoweit in seinen Rechten.

8

a)

Das folgt bereits daraus, dass die Staatsanwaltschaft ihre Zustimmung zu einer Zurückschiebung des Betroffenen im Zeitpunkt der Haftanordnung nicht erteilt hatte.

9

Das Fehlen des nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG erforderlichen Einvernehmens der Staatsanwaltschaft mit der Abschiebung eines Ausländers führt dazu, dass Sicherungshaft nicht angeordnet werden darf; dass das Einvernehmen zu einem späteren Zeitpunkt hergestellt werden könnte, ist unerheblich (Senat, Beschlüsse vom 3. Februar 2011 - V ZB 224/10, Rn. 9, [...], vom 20. Januar 2011 - V ZB 226/10, Rn. 22, [...], vom 18. August 2010 - V ZB 211/10, InfAuslR 2010, 440 Rn. 10, vom 17. Juni 2010 - V ZB 93/10, NVwZ 2010, 1574 Rn. 6 ff.). In dem - hier gegebenen - Fall einer Zurückschiebung gilt nichts anderes (Senat, Beschluss vom 24. Februar 2011 - V ZB 202/10, Rn. 11 ff., [...]). Bereits im Haftantrag muss deshalb nach § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 FamFG dargelegt werden, dass die zuständige Staatsanwaltschaft - allgemein für bestimmte Fallgruppen oder im Einzelfall - ihr Einvernehmen mit der Ab- bzw. Zurückschiebung erklärt hat, wenn sich aus dem Antrag, wie hier, ohne Weiteres ergibt, dass ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen den Betroffenen anhängig ist (Senat, Beschluss vom 20. Januar 2011 - V ZB 226/10, aaO). Daran fehlte es vorliegend.

10

b)

Die Entscheidung des Beschwerdegerichts und die Haftanordnung des Amtsgerichts vom 1. Juli 2010 sind im Übrigen auch deshalb rechtsfehlerhaft, weil es an einer den Anforderungen des § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG genügenden Prognose fehlt, dass eine Zurückschiebung innerhalb der nächsten drei Monate möglich sein würde.

11

Anordnung und Aufrechterhaltung von Sicherungshaft setzen eine Sachverhaltsermittlung und -bewertung voraus, aus der sich ergibt, dass eine Abschiebung innerhalb der nächsten drei Monate prognostiziert oder eine zuverlässige Prognose zunächst nicht getroffen werden kann (vgl. BVerfG, NJW 2009, 2659, 2660 [BVerfG 27.02.2009 - 2 BvR 538/07] Rn. 22 f.; Senat, Beschluss vom 25. März 2010 - V ZA 9/10, Rn. 17, [...]). Die Prognose muss auf einer hinreichend vollständigen Tatsachengrundlage basieren und sich auf alle im konkreten Fall ernsthaft in Betracht kommenden Gründe erstrecken, die der Abschiebung entgegenstehen oder sie verzögern können (BVerfG, NJW 2009, 2659, 2660 [BVerfG 27.02.2009 - 2 BvR 538/07]). Erforderlich sind konkrete Feststellungen zu dem Verfahrensablauf und zu dem Zeitraum, in dem die einzelnen Schritte unter normalen Bedingungen durchlaufen werden. Der Tatrichter darf sich insoweit nicht auf die Wiedergabe der Einschätzung der Ausländerbehörde beschränken, die Abschiebung werde voraussichtlich innerhalb von drei Monaten stattfinden können. Soweit diese keine konkreten Tatsachen hierzu mitteilt, obliegt es ihm gemäß § 26 FamFG, diese durch Nachfragen zu ermitteln (vgl. Senat, Beschluss vom 18. August 2010 - V ZB 119/10, Rn. 22, [...], mwN).

12

Diesen Anforderungen werden die angefochtenen Entscheidungen nicht gerecht. Sie setzen sich mit § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG nur im Hinblick auf die Frage auseinander, ob innerhalb von drei Monaten das Strafverfahren voraussichtlich beendet und das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft hinsichtlich der Zurückschiebung hergestellt sein würde. Feststellungen zur voraussichtlichen Dauer der Passersatzpapierbeschaffung und dem konkreten Ablauf der Zurückschiebung fehlen hingegen.

13

Eine Zurückverweisung der Sache an das Beschwerdegericht zwecks Nachholung dieser Feststellungen kommt nicht in Betracht, da bereits infolge der fehlenden Zustimmung der Staatsanwaltschaft zu der Zurückschiebung des Betroffenen im Zeitpunkt der Haftanordnung feststeht, dass die angefochtenen Beschlüsse diesen in seinen Rechten verletzt haben.

IV.

14

Die Kostenentscheidung beruht auf § 83 Abs. 2, § 81 Abs. 1 Satz 1, § 430 FamFG (vgl. Senat, Beschluss vom 18. August 2010 - V ZB 119/10, Rn. 24, [...]). Die Kostenquote von 28 % zu 72 % zu Lasten des Betroffenen entspricht dem Verhältnis des Haftzeitraums, dessen Rechtswidrigkeit festgestellt werden sollte (18. Juni 2010 bis 18. August 2010 = 61 Tage), zu dem Zeitraum, für den die Rechtsbeschwerde Erfolg hat (2. August 2010 bis 18. August 2010 = 17 Tage).

Krüger
Stresemann
Czub

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