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Bundesgerichtshof
Beschl. v. 07.04.2011, Az.: V ZB 111/10
Die zur Sicherung der Überstellung in einen anderen EU-Staat angeordnete Zurückschiebungshaft ist bei Nichteinhaltung der für Eilverfahren geltenden Fristen durch das Bundesamt aufzuheben
Gericht: BGH
Entscheidungsform: Beschluss
Datum: 07.04.2011
Referenz: JurionRS 2011, 15675
Aktenzeichen: V ZB 111/10
ECLI: [keine Angabe]

Verfahrensgang:

vorgehend:

AG Dresden - 01.03.2010 - AZ: 272 XIV 132/09

LG Dresden - 18.03.2010 - AZ: 2 T 201/10

Rechtsgrundlagen:

§ 426 Abs. 2 S. 1 FamFG

Art. 17 VO 343/2003/ EG

Art. 18 Abs. 6 VO 343/2003/ EG

Art. 20 Abs. 1 Buchst. b VO 343/2003/ EG

Art. 1 VO 1560/2003/EG

Art. 2 VO 1560/2003/EG

Fundstellen:

FGPrax 2011, 199

NVwZ 2011, 7

NVwZ 2011, 1214-1216

BGH, 07.04.2011 - V ZB 111/10

Amtlicher Leitsatz:

FamFG § 426 Abs. 2 Satz 1; Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 (Dublin II-Verordnung) Art. 17, Art. 18 Abs. 6, Art. 20 Abs. 1 Buchstabe b und der Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 der Kommission vom 2. September 2003 (Durchführungsverordnung) Art. 1 und 2

Beruht die Nichteinhaltung der für Eilverfahren geltenden Fristen (Art. 18 Abs. 6, Art. 20 Abs. 1 Buchstabe b Dublin II-Verordnung) auch auf Versäumnissen des Bundesamts, ist auf einen Antrag des Betroffenen nach § 426 Abs. 2 Satz 1 FamFG die zur Sicherung der Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union angeordnete Zurückschiebungshaft aufzuheben.

Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat
am 7. April 2011
durch
den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Krüger,
die Richterin Dr. Stresemann,
den Richter Dr. Czub und
die Richterinnen Dr. Brückner und Weinland
beschlossen:

Tenor:

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird festgestellt, dass die Beschlüsse des Amtsgerichts Dresden vom 1. März 2010 und der 2. Zivilkammer des Landgerichts Dresden vom 18. März 2010 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben.

Die zweckentsprechenden außergerichtlichen Auslagen des Betroffenen werden der Bundesrepublik Deutschland auferlegt. Im Übrigen findet eine Auslagenerstattung nicht statt; Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 3.000 €.

Gründe

I.

1

Der Betroffene, ein algerischer Staatsangehöriger, reiste am 20. Dezember 2009 aus der Tschechischen Republik in das Bundesgebiet ein und wurde von Beamten der Beteiligten zu 2 festgenommen. Der Betroffene hatte sich zuvor in verschiedenen europäischen Staaten aufgehalten; für Schweden ergab sich auf Grund dort gestellter Asylanträge ein Eintrag in der Eurodac-Datei. Das Amtsgericht ordnete auf den Haftantrag der Beteiligten zu 2 am 20. Dezember 2009 die Haft zur Sicherung der Zurückschiebung für die Dauer von sechs Monaten an.

2

Nachdem Schweden am 30. Dezember 2009 die Wiederaufnahme des Betroffenen unter Hinweis auf die Zuständigkeit Italiens für den in Schweden gestellten Asylantrag abgelehnt hatte, richtete das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (nachfolgend Bundesamt) am 4. Januar 2010 ein Wiederaufnahmeersuchen an Italien, und die Beteiligte zu 2 verfügte die Zurückschiebung des Betroffenen dorthin. Das Bundesamt teilte dem Betroffenen mit, dass sein während des polizeilichen Gewahrsams geäußertes Asylbegehren aufgrund der Zuständigkeit Italiens für den in Schweden gestellten Asylantrag in Deutschland nicht bearbeitet werde.

3

Die gegen die Zurückweisung seines Antrags auf Aufhebung der Sicherungshaft von dem Betroffenen eingelegte Beschwerde hat das Landgericht mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Haft längstens bis zum 31. März 2010 aufrecht zu erhalten ist. Hiergegen wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde, mit der er nach der Beendigung der Sicherungshaft durch seine Überstellung nach Italien am 30. März 2010 die Feststellung erreichen will, dass die Zurückweisung seines Antrags auf Aufhebung der Haftanordnung rechtswidrig gewesen sei.

II.

4

Das Beschwerdegericht meint, die Haftanordnung sei zu Recht ergangen, weil der Betroffene, der weder einen Pass noch das erforderliche Visum habe vorweisen können, unerlaubt eingereist und nach wie vor ausreisepflichtig sei. Die beabsichtigte Zurückschiebung müsse nicht zwingend in den Ausreisestaat erfolgen.

5

Das während des Polizeigewahrsams geäußerte Asylgesuch des Betroffenen stehe der Zurückschiebungshaft nach § 14 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AsylVfG nicht entgegen, weil es erst nach der Haftanordnung bei dem Bundesamt eingegangen sei und die Voraussetzungen des Haftgrunds nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG vorgelegen hätten. Der Betroffene habe sich nämlich der zuvor versuchten Überstellung von Schweden nach Italien bei einem Umsteigen auf dem Flughafen Wien entzogen.

6

Ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot bei der Durchführung der Haft sei unter Berücksichtigung der internationalen Gepflogenheiten nicht festzustellen. Wegen der für den 30. März 2010 vorgesehenen Zurückschiebung habe die angeordnete Haftdauer allerdings verkürzt werden müssen.

III.

7

1.

Die Rechtsbeschwerde ist nach § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 FamFG statthaft und auch im Übrigen zulässig.

8

a)

Statthaft ist auch eine Rechtsbeschwerde mit dem Ziel, die Rechtsverletzung des Betroffenen durch die Zurückweisung eines Antrags auf Haftaufhebung nach § 426 Abs. 2 Satz 1 FamFG festzustellen.

9

Für diesen Feststellungsantrag kann nichts anderes gelten als für entsprechende Anträge nach Erledigung gegen die Haftanordnung eingelegter Beschwerden, in denen Feststellungsanträge analog § 62 Abs. 1 FamFG auch im Rechtsbeschwerdeverfahren gestellt werden können, ohne dass es einer Zulassung des Rechtsmittels bedarf (std. Rspr.: vgl. Senat, Beschluss vom 25. Februar 2010 - V ZB 172/09, FGPrax 2010, 150, 151 Rn. 9, 10; Beschluss vom 4. März 2010 - V ZB 184/09, FGPrax 2010, 152, 153 Rn. 4). Die besonderen Rechtsschutzmöglichkeiten beruhen auf dem Rehabilitierungsinteresse des Betroffenen nach einem Eingriff in sein Freiheitsgrundrecht und hängen nicht von dem konkreten Ablauf des Verfahrens ab (vgl. BVerfGE 104, 220, 235).

10

b)

Der im Rechtsbeschwerdeverfahren gestellte Feststellungsantrag ist so auszulegen, dass die Verletzung des Betroffenen in seinem Freiheitsgrundrecht durch die Fortdauer der Haft festgestellt werden soll.

11

2.

Dieser Antrag hat Erfolg, weil die Rüge, dass dem Haftaufhebungsantrag wegen Verletzung des Beschleunigungsgebots hätte stattgegeben werden müssen, im Ergebnis begründet ist.

12

a) Das Beschleunigungsgebot verpflichtet die Behörden, alle notwendigen Anstrengungen zu unternehmen, damit der Vollzug der Haft auf eine möglichst kurze Zeit beschränkt werden kann (vgl. Senat, Beschluss vom 11. Juli 1996 - V ZB 14/96, BGHZ 133, 235, 239). Die Gerichte müssen, wenn sie auf Grund eines Rechtsmittels oder eines Aufhebungsantrags mit einer nach § 62 Abs. 2 AufenthG erlassenen Haftanordnung befasst sind, stets prüfen, ob die Behörde die Zurück- oder Abschiebung des Ausländers ernstlich und mit der größtmöglichen Beschleunigung betreibt (vgl. Senat, Beschlüsse vom 10. Juni 2010 - V ZB 204/09, NVwZ 2010, 1172, 1173 Rn. 21 und vom 18. August 2010 - V ZB 119/10, Rn. 18, [...]).

13

Das Beschleunigungsgebot gilt auch für die Auf- und Wiederaufnahmeverfahren nach Art. 17, 20 Dublin II-Verordnung und für die Überstellungen nach Art. 19 der Verordnung in den für die Sachentscheidung über den von einem Drittstaatsangehörigen gestellten Asylantrag zuständigen Mitgliedstaat der Europäischen Union, wenn sich der Asylbewerber wegen verweigerter oder illegaler Einreise in Zurückweisungs- oder Zurückschiebungshaft befindet. Versäumnisse des in der Bundesrepublik Deutschland für die Auf- und Wiederaufnahmeersuchen und die Modalitäten der Überstellung nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 AsylZBV zuständigen Bundesamts sind der für die Beantragung der Haft zuständigen Ausländerbehörde zuzurechen (Marx, AsylVfG, 7. Aufl., § 14 Rn. 95).

14

Die Beachtung des Beschleunigungsgebots erfordert, dass die Ersuchen um Auf- und Wiederaufnahme des Asylbewerbers nach Art. 17, 20 Dublin II-Verordnung korrekt unter Einhaltung der Vorschriften der Durchführungsverordnung der Kommission (= Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 vom 2. September 2003 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist) an den anderen Mitgliedstaat gestellt werden. In ihnen sind die die Zuständigkeit des ersuchten Mitgliedstaats begründenden Umstände richtig und vollständig anzugeben und die Beweismittel - soweit in der Verordnung vorgesehen - beizufügen. Anfragen der Behörden zur Vorlage von Beweismitteln des um Auf- oder Wiederaufnahme des Ausländers ersuchten Mitgliedstaats müssen unverzüglich beantwortet werden. Nur wenn diese Voraussetzungen eingehalten werden, kann eine Prüfung und Entscheidung durch die zuständigen Behörden eines anderen Mitgliedstaats innerhalb kurzer Frist erwartet werden (vgl. Lehnert/Pelzer, ZAR 2010, 41, 43).

15

b)

Gemessen daran sind hier der Beteiligten zu 2 zuzurechende Verstöße gegen das Beschleunigungsgebot durch das Bundesamt bei der Durchführung des Aufnahmeersuchens an die Italienische Republik festzustellen.

16

aa)

Eine erste vermeidbare Verzögerung trat bereits dadurch ein, dass das Bundesamt am 4. Januar 2010 an Italien ein Wiederaufnahmeersuchen nach Art. 2 der Durchführungsverordnung der Kommission ohne Beifügung der erforderlichen Beweismittel gerichtet hat. Da sich aus der Eurodac-Datei nur Treffer wegen von dem Betroffenen in M. (Schweden) gestellter Asylanträge, jedoch keine Hinweise auf einen in Italien gestellten Asylantrag ergaben, wäre an Italien ein Aufnahmeersuchen unter Beifügung der Beweismittel und der von der Eurodac-Zentraleinheit mitgeteilten Angaben (Art. 1 Abs. 1 Satz 3 Buchstabe a und Abs. 2 der Durchführungsverordnung der Kommission) zu ü-bermitteln gewesen.

17

bb)

Ein weitere Verzögerung ergab sich daraus, dass das Bundesamt auf die dringende Anfrage des Innenminsteriums der Italienischen Republik vom 5. Januar 2010, die für die Entscheidung über das Ersuchen der Bundesrepublik Deutschlands notwendigen Beweismittel zur Verfügung zu stellen, verspätet - nämlich erst nach einer Woche - reagierte.

18

Das Bundesamt hatte zur Begründung des Wiederaufnahmeersuchens vom 4. Januar 2010 darauf hingewiesen, dass der in Deutschland in Haft befindliche Betroffene diejenige Person sei, die am 16. Dezember 2009 von Schweden nach Italien überstellt werden solle. Das Innenministerium der Italienischen Republik hatte am folgenden Tage um Vorlage der für die Feststellung der Identität erforderlichen Beweismittel gebeten, weil es prüfen müsse, ob der in Deutschland in Haft befindliche Betroffene die Person sei, die in Schweden den Asylantrag gestellt habe, über den Italien nach der Dublin II-Verordnung zu entscheiden habe.

19

Aus dieser Anfrage ergab sich entgegen der Stellungnahme des Bundesamts vom 17. März 2010 nicht, dass Italien Wiederaufnahmeersuchen eines anderen Mitgliedstaats nach Art. 20 Dublin II-Verordnung bereits mit einer Bitte um Vorlage von Beweismitteln als beantwortet ansieht. Unabhängig davon hätte das Bundesamt die von dem Innenministerium Italiens erbetenen Beweismittel sofort und nicht erst nach Ablauf einer Woche im normalen Postgang nach R. übermitteln müssen, also zu einem Zeitpunkt, als bereits die Hälfte der von dem Bundesamt in dem Ersuchen vom 4. Januar 2010 gesetzten Zwei-Wochen-Frist für die Erledigung des Wiederaufnahmeersuchens verstrichen war und eine Einhaltung der für das Eilverfahren bestimmten Frist nicht mehr erwartet werden konnte.

20

cc)

Da die Nichteinhaltung der für Eilverfahren geltenden Fristen auch auf Fehlern und Versäumnissen des Bundesamts beruht, ist ein Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz festzustellen. Ist die Zurück- oder Abschiebung von der Behörde nicht mit der gebotenen Beschleunigung betrieben worden, stellt sich die weitere Fortdauer der Haft als ein unverhältnismäßiger Eingriff in das Freiheitsgrundrecht des Betroffenen dar. Die Haftanordnung wäre daher auf den Aufhebungsantrag des Betroffenen nach § 426 Abs. 2 Satz 1 FamFG aufzuheben gewesen. Auf den Feststellungsantrag des Betroffenen ist daher entsprechend § 62 Abs. 1 FamFG auszusprechen, dass er durch die die Zurückweisung dieses Antrags durch die von ihm angefochtenen gerichtlichen Entscheidungen in seinen Rechten verletzt worden ist.

IV.

21

Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2, § 83 Abs. 2 FamFG, § 128c Abs. 3 Satz 2 KostO; die Festsetzung des Beschwerdewerts folgt aus § 128c Abs. 2 KostO i.V.m. § 30 Abs. 2 KostO.

Krüger
Stresemann
Czub
Brückner
Weinland

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