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Bundesfinanzhof
Urt. v. 18.12.2013, Az.: III R 50/11
Gericht: BFH
Entscheidungsform: Urteil
Datum: 18.12.2013
Referenz: JurionRS 2013, 56694
Aktenzeichen: III R 50/11
ECLI: [keine Angabe]

Verfahrensgang:

vorgehend:

FG Düsseldorf - 13.07.2011 - AZ: 15 K 1821/08 Kg

Fundstellen:

BFH/NV 2014, 1191-1193

FamRZ 2014, 1367

BFH, 18.12.2013 - III R 50/11

Gründe

1

I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist polnischer Staatsangehöriger. Er arbeitete von Mai bis September 2005 als Saisonarbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland). Er lebt mit seiner --im Streitzeitraum nicht erwerbstätigen-- Ehefrau und seinem minderjährigen Sohn K in Polen. Dort bezog seine Frau auch polnische Familienleistungen.

2

Auf seinen Antrag hin setzte die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) für den Zeitraum Mai bis September 2005 Kindergeld in Höhe von monatlich 77 € fest. Seine auf die Gewährung des vollen monatlichen Kindergelds gerichtete Klage wies das Finanzgericht (FG) ab. Es ging davon aus, dass dem Kläger kein höheres als das von der Familienkasse bereits festgesetzte Kindergeld zustehe. Der dem Grunde nach gemäß § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b i.V.m. § 1 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) bestehende Kindergeldanspruch werde zwar nicht durch gemeinschaftsrechtliche Vorschriften ausgeschlossen. Doch greife wegen des Bezugs polnischer Familienleistungen der Ausschlusstatbestand des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ein.

3

Mit seiner Revision verfolgt der Kläger sein Ziel, das volle deutsche Kindergeld zu erhalten, weiter. Er rügt, dass die vom FG zur Begründung des Anspruchsausschlusses herangezogene Vorschrift des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG gegen Gemeinschaftsrecht verstößt.

4

Der Kläger beantragt,

das FG-Urteil aufzuheben und die Familienkasse unter Aufhebung ihres Bescheids vom 14. Februar 2008 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 22. April 2008 sowie in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 23. April 2008 zu verpflichten, gegenüber dem Kläger Kindergeld für das Kind K für die Monate Mai bis September 2005 in gesetzlicher Höhe von insgesamt 770 € festzusetzen und unter Berücksichtigung der bereits erfolgten hälftigen Festsetzung zu gewähren.

5

Die Familienkasse beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

6

Der Kläger sei nach den Feststellungen des FG weder in Deutschland noch in Polen sozialversichert gewesen, so dass der persönliche Geltungsbereich der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (VO Nr. 1408/71), in ihrer durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 --VO Nr. 118/97-- (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften 1997, Nr. L 28, S. 1) geänderten und aktualisierten Fassung (VO Nr. 1408/71), im Streitfall nicht eröffnet gewesen sei. Ob das auch im Hinblick auf seine Ehefrau gelte, lasse sich dem angegriffenen Urteil nicht entnehmen. Es müsse daher auf die spezielle gemeinschaftsrechtliche Konkurrenzregelung in Art. 12 Abs. 2 der VO Nr. 1408/71 mit der Folge zurückgegriffen werden, dass hälftiges deutsches Kindergeld festzusetzen sei.

7

II. Die Familienkasse ... der Bundesagentur für Arbeit ist aufgrund eines Organisationsaktes (Beschluss des Vorstands der Bundesagentur für Arbeit Nr. 21/2013 vom 18. April 2013 gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 des Finanzverwaltungsgesetzes, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Ausgabe Mai 2013, S. 6 ff., Nr. 2.2 der Anlage 2) im Wege des gesetzlichen Parteiwechsels in die Beteiligtenstellung der Agentur für Arbeit ... --Familienkasse-- eingetreten (s. dazu Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 3. März 2011 V B 17/10, BFH/NV 2011, 1105, unter II.A.).

8

III.

Die Revision ist begründet. Sie führt gemäß § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils und zur Zurückverweisung der nicht spruchreifen Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung.

9

1. Das FG ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass ein Kindergeldanspruch des Klägers nach dem EStG jedenfalls wegen der in Polen bezogenen Leistungen durch § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG insgesamt ausgeschlossen wird. Im Streitfall kommt die Gewährung von Differenzkindergeld in Betracht. Der Senat kann aufgrund der vom FG getroffenen Feststellungen nicht abschließend beurteilen, ob ein solcher Anspruch tatsächlich besteht.

10

a) § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG sieht zwar vor, dass Kindergeld nicht für ein Kind gezahlt wird, für das Leistungen für Kinder, die im Ausland gewährt werden und dem Kindergeld oder einer der unter § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG genannten Leistungen vergleichbar sind, zu zahlen ist oder bei entsprechender Antragstellung zu zahlen wäre. Die Auslegung dieser Vorschrift hat jedoch in den Fällen, in denen der persönliche Anwendungsbereich der VO Nr. 1408/71 eröffnet und Deutschland nach Art. 13 ff. VO Nr. 1408/71 der nicht zuständige Mitgliedstaat und auch nicht der Wohnmitgliedstaat des betreffenden Kindes ist, unter Beachtung der Anforderungen des Primärrechts der Europäischen Union auf dem Gebiet der Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu erfolgen (Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union --EuGH-- vom 12. Juni 2012 C-611/10, C-612/10, Hudzinski/Wawrzyniak, Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst 2012, 999). Werden in einem solchen Fall in dem anderen Mitgliedstaat dem Kindergeld vergleichbare Leistungen gewährt, darf der Anspruch auf Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz gemäß § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG nur in entsprechender Höhe gekürzt, jedoch nicht völlig ausgeschlossen werden, wenn anderenfalls das Freizügigkeitsrecht des Wanderarbeitnehmers beeinträchtigt wäre.

11

b) Nach diesen Grundsätzen könnte eine Anspruchsberechtigung des Klägers bestehen.

12

Das FG ist davon ausgegangen, dass der Kläger nicht dem persönlichen Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 unterliegt, weil er nicht die Voraussetzungen erfüllt, die in ihrem Anhang I Teil I Buchst. D aufgeführt sind. Darauf kommt es indes nach der Rechtsprechung des Senats nicht an (BFH-Urteil vom 4. August 2011 III R 55/08, BFHE 234, 316, BStBl II 2013, 619). Das angegriffene Urteil erweist sich in diesem Punkt auch nicht aus einem anderen Grund als zutreffend. Das FG hat zwar festgestellt, dass der Kläger weder in Polen noch in Deutschland sozialversichert sei. Dies widerspricht jedoch der von der polnischen Sozialversicherungsanstalt (ZUS) ausgestellten Bescheinigung vom 22. Mai 2009, deren gesamter Inhalt durch die ausdrückliche Erwähnung im FG-Urteil als festgestellt gilt. Danach war der Kläger im Streitzeitraum zwar nicht bei der ZUS sozialversichert, er soll aber freiwillig der Landwirtschaftlichen Sozialversicherung (KRUS) unterlegen haben. Die freiwillige Mitgliedschaft eines Selbständigen kann ausreichen, um den persönlichen Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 zu eröffnen (BFH-Urteil in BFHE 234, 316, BStBl II 2013, 619). Das FG wird daher im zweiten Rechtsgang Feststellungen zum polnischen System der sozialen Sicherheit und zu dem konkreten Versichertenstatus des Klägers insbesondere im Hinblick auf die für Selbständige geltenden Regelungen in Art. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 zu treffen haben. Ist die VO Nr. 1408/71 einschlägig, was nicht fernliegend erscheint, dann kommt im Hinblick auf die vom Kläger ausgeübte Tätigkeit als Saisonarbeitnehmer gemäß Art. 13 Abs. 1 i.V.m. Art. 14a Nr. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 zwar polnisches Recht zur Anwendung. Dies schließt für sich genommen die Gewährung deutschen (Differenz-)Kindergeldes aber nicht aus (BFH-Urteil vom 16. Mai 2013 III R 8/11, BFHE 241, 511, BStBl II 2013, 1040).

13

2. Der Senat weist für den zweiten Rechtsgang außerdem auf Folgendes hin:

14

a) Ausgangspunkt für die Prüfung des Kindergeldanspruchs des Klägers ist die Frage, ob die Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 EStG vorgelegen haben. Wenn § 62 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 Buchst. a EStG nicht eingreift, muss das FG prüfen, ob der Kläger gemäß § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG kindergeldberechtigt war. Dies setzt voraus, dass der Antragsteller aufgrund eines entsprechenden Antrages vom zuständigen Finanzamt (FA) nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wurde. Maßgeblich ist nach der Senatsrechtsprechung nicht die Antragstellung durch den Steuerpflichtigen, sondern wie er die hierauf erfolgende Reaktion des FA in dem maßgeblichen Einkommensteuerbescheid verstehen durfte (s. hierzu im Einzelnen Senatsurteile vom 24. Mai 2012 III R 14/10, BFHE 237, 239, BStBl II 2012, 897; in BFHE 241, 511, BStBl II 2013, 1040, und vom 18. Juli 2013 III R 9/09, BFHE 243, 170).

15

b) Wie das FG in der angegriffenen Entscheidung bereits zutreffend entschieden hat, kann ein Kindergeldanspruch nach § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG i.V.m. § 1 Abs. 3 EStG nur für die Zeiträume entstehen, in denen der Kläger inländische Einkünfte erzielt hat (BFH-Urteile vom 24. Oktober 2012 V R 43/11, BFHE 239, 327, BStBl II 2013, 491; in BFHE 241, 511, BStBl II 2013, 1040, und vom 18. Juli 2013 III R 59/11, BFHE 242, 228). Insoweit hätte das FG demnach für den Fall, dass das FA den Kläger nach § 1 Abs. 3 EStG behandelt hat, zu prüfen, ob diesem im Streitzeitraum Einkünfte nach § 49 Abs. 1 Nr. 4 EStG i.V.m. § 11 EStG zugeflossen sind.

16

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.

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