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Bundesfinanzhof
Beschl. v. 11.03.2015, Az.: V B 83/14
Umfang des rechtlichen Gehörs im finanzgerichtlichen Verfahren; Begriff der Überraschungsentscheidung
Gericht: BFH
Entscheidungsform: Beschluss
Datum: 11.03.2015
Referenz: JurionRS 2015, 13634
Aktenzeichen: V B 83/14
ECLI: [keine Angabe]

Verfahrensgang:

vorgehend:

FG Sachsen - 02.06.2014 - AZ: 6 K 1308/13 (Kg)

Fundstelle:

BFH/NV 2015, 852-853

BFH, 11.03.2015 - V B 83/14

Redaktioneller Leitsatz:

Hat der Kläger im finanzgerichtlichen Verfahren behauptet, rechtzeitig Einspruch gegen den angefochtenen Bescheid eingelegt zu haben und insoweit auf ein als Anlage K1 beigefügtes Schriftstück Bezug genommen, so stellt es sich als gehörsverletzende Überraschungsentscheidung dar, wenn das Finanzgericht die Klage mit der Begründung abweist, das in Bezug genommene Schriftstück sei der Klage nicht beigefügt gewesen, ohne den Kläger zuvor hierauf hingewiesen zu haben.

Tenor:

Auf die Beschwerde der Klägerin wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Sächsischen Finanzgerichts vom 2. Juni 2014 6 K 1308/13 (Kg) aufgehoben.

Die Sache wird an das Sächsische Finanzgericht zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.

Gründe

1

I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) erhielt Kindergeld für ihre Tochter T. Mit Bescheid vom 23. April 2013 hob die Beklagte und Beschwerdegegnerin (die Familienkasse) die Kindergeldfestsetzung auf. Ob die Klägerin hiergegen mit Schreiben vom 3. Mai 2013 Einspruch eingelegt hat, ist streitig. Dokumentiert ist in der von der Familienkasse vorgelegten Aktenkopie nur der Eingang eines auf den 6. Juni 2013 datierten Schreibens der Klägerin am 11. Juni 2013.

2

Das Finanzgericht (FG) forderte die Kindergeldkasse am 16. September 2013 zur Vorlage der Akten auf. Die Familienkasse hat daraufhin die in Papierform geführten Akten gescannt und diese "E-Akte" dem FG zugeleitet. Das FG hat der Familienkasse am 17. November 2013 mitgeteilt, es stehe nicht fest, dass das übermittelte Material eine Überzeugung zugunsten der Familienkasse ermögliche. Gleichwohl hat die Familienkasse die Originalakte vernichtet. Die "E-Akte" wies diverse Mängel auf und bildete nur einen Teil des Verfahrens ab.

3

Mit der Klagebegründung vom 17. Oktober 2013 bot die Klägerin Beweis für den rechtzeitig eingelegten Einspruch u.a. durch "Schreiben der Klägerin vom 03.05.2013 (Anlage K 1)" an.

4

Das FG wies die Klage ab, weil die Klägerin die fristgerechte Einlegung des Einspruchs nicht bewiesen habe. Aufgrund der Mängel des Verwaltungsverfahrens und der Vernichtung der Originalakten sei zwar eine Beweislastumkehr zugunsten der Klägerin in Betracht zu ziehen. Diese greife im Ergebnis aber nicht durch, weil die Klägerin das Schreiben vom 3. Mai 2013 nicht vorgelegt und die angekündigte eidesstattliche Versicherung nicht abgegeben habe.

5

II. Die Beschwerde der Klägerin ist zulässig und begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung gemäß § 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung (FGO).

6

Der von der Klägerin ordnungsgemäß (§ 116 Abs. 3 Satz 3 FGO) geltend gemachte Verfahrensmangel liegt vor. Das FG hat das Recht der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes, § 96 Abs. 2 FGO) verletzt, indem es versäumt hat, die Klägerin darauf hinzuweisen, dass das von ihr als "K 1" bezeichnete Schriftstück nicht zur FG-Akte gelangt ist. Auf diesem Fehler kann das FG-Urteil beruhen.

7

1. Nach § 96 Abs. 2 FGO, der im finanzgerichtlichen Verfahren der Verwirklichung des verfassungsrechtlich garantierten Anspruchs auf rechtliches Gehör dient, darf das Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten. Aus dieser Vorschrift folgt u.a. das Verbot von Überraschungsentscheidungen. Danach darf ein bisher nicht erörterter Gesichtspunkt, der dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der ein gewissenhafter und kundiger Beteiligter nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht hat rechnen müssen, nicht zur Grundlage der Entscheidung gemacht werden (Urteil des Bundesfinanzhofs —BFH— vom 21. August 2007 VII R 37/04, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 2008, 254, unter II.; BFH-Beschlüsse vom 22. Juli 2014 XI B 103/13, BFH/NV 2014, 1761, unter II.2.a und b; vom 1. Februar 2012 VI B 71/11, BFH/NV 2012, 767, unter Gründe 2.d).

8

2. Eine derartige Überraschungsentscheidung liegt hier vor, weil das FG sein Urteil u.a. darauf gestützt hat, dass die Klägerin das streitige Schreiben vom 3. Mai 2013 dem FG nicht vorgelegt habe. Die Klägerin hat mit der Klagebegründung vom 17. Oktober 2013 Beweis angeboten durch Vorlage des Schreibens vom 3. Mai 2013 und mit dem Hinweis "Anlage K 1" zum Ausdruck gebracht, dass diese Anlage dem Schriftsatz beigefügt sei. Für das FG war erkennbar, dass die Klägerin von der —unzutreffenden— Annahme ausging, dass das Schreiben dem FG damit vorliege. Unter diesen Umständen durfte das FG sein Urteil nicht (auch) auf die Nichtvorlage des Schreibens vom 3. Mai 2013 stützen, ohne die Klägerin zuvor darüber in Kenntnis zu setzen, dass das Schreiben tatsächlich nicht vorlag.

9

3. Auf diesem Verfahrensmangel kann die Entscheidung des FG beruhen.

10

a) Das FG hat sein Urteil darauf gestützt, dass der Einspruch verfristet war. Die Einspruchsfrist des § 355 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) ist nur gewahrt, wenn der Einspruch der Behörde (§ 357 Abs. 2 AO) rechtzeitig zugegangen ist. Dafür trägt der Einspruchsführer die Feststellungslast (vgl. BFH-Beschlüsse vom 24. Juli 2008 VII B 41/08, juris, unter II.1.; vom 21. September 2007 IX B 79/07, BFH/NV 2008, 22).

11

b) Die Klägerin hat den Beweis des rechtzeitigen Zugangs des Schreibens vom 3. Mai 2013 zwar nicht geführt. Das FG ist aber zutreffend davon ausgegangen, dass eine schuldhafte Beweisvereitelung, die anzunehmen ist, wenn ein Prozessbeteiligter einen Gegenstand vernichtet oder vernichten lässt, obwohl für ihn erkennbar ist, dass jenem eine Beweisfunktion zukommen kann, oder er dem Gegner auf sonstige Weise die Beweisführung schuldhaft unmöglich macht, zu Beweiserleichterungen bis hin zur Umkehr der Beweislast führen kann (BFH-Urteil vom 3. März 2004 X R 17/98, BFH/NV 2004, 1237, unter II.4.; BFH-Beschluss vom 7. April 2003 V B 28/02, BFH/NV 2003, 1195, unter II.2.; vgl. auch Urteile des Bundesgerichtshofs vom 24. Januar 2012 II ZR 119/10, Der Betrieb 2012, 794, unter II.2.a; vom 12. März 2007 II ZR 315/05, Neue Juristische Wochenschrift —NJW— 2007, 3130, unter II.2.a bb; vom 1. Februar 1994 VI ZR 65/93, NJW 1994, 1594, 1595; vom 15. November 1984 IX ZR 157/83, Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 1985, 312, 314, unter II.2.e). Nach den Feststellungen des FG hatte die Familienkasse die Nachvollziehbarkeit des genauen Ablaufs des Verwaltungsverfahrens anhand des Aktenbestandes schuldhaft vereitelt. Das FG hat deshalb zwar eine Umkehr der Beweislast in Betracht gezogen, im Ergebnis aber deshalb nicht angenommen, weil die Klägerin das Schreiben vom 3. Mai 2013 nicht vorgelegt und die angekündigte eidesstattliche Versicherung nicht abgegeben habe. Die Entscheidung des FG wäre deshalb möglicherweise anders ausgefallen, wenn die Klägerin Kenntnis davon erhalten hätte, dass das Schreiben vom 3. Mai 2013 dem FG tatsächlich nicht vorlag und es dem FG noch rechtzeitig vorgelegt hätte.

12

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.

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