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Rücksichtnahmegebot - baurechtliches

 Normen 

§ 15 BauNVO

 Information 

1. Allgemein

Subjektiv öffentliches Recht.

Nach dem Gebot der Rücksichtnahme kann jede Grundstücksnutzung nicht ohne Rücksicht auf die benachbarten Nutzungen genehmigt und ausgeübt werden. Es verpflichtet zum einen die Behörde, bei der Erteilung der Baugenehmigung die gegenläufigen Nachbarinteressen gegeneinander abzuwägen und die Zumutbarkeit des Vorhabens für die Nachbarschaft zu berücksichtigen, und gewährt andererseits unter bestimmten Voraussetzungen dem Einzelnen ein subjektives Recht, dient somit (auch) dem Schutz individueller Interessen.

Das Rücksichtnahmegebot ist (nur) anwendbar, wenn in qualifizierter und individualisierter Weise auf schutzwürdige Interessen eines erkennbar abgegrenzten Kreises Dritter Rücksicht zu nehmen ist (BVerwG 06.10.1989 - 4 C 14/87).

2. Rechtsgrundlagen

Diese "baurechtliche Rücksichtnahme" hat aber weder eine generelle gesetzliche Regelung gefunden, noch gibt es ein das gesamte Baurecht umfassendes - außergesetzliches - Rücksichtnahmegebot. Es besteht vielmehr nur nach Maßgabe der (einfachen) Gesetze (vgl. BVerwG 20.09.1984 - 4 B 181/84). Eine spezialgesetzliche Ausformung dieses Gebots enthalten z.B.:

  • § 15 BauNVO für Bauvorhaben im Bereich eines Bebauungsplans:

    Bauliche Anlagen werden danach unzulässig, wenn sie nach Anzahl, Lage oder Zweckbestimmung der Eigenart des Baugebiets widersprechen oder/und wenn von ihnen Belästigungen oder Störungen ausgehen können, die nach der Eigenart des Baugebiets im Baugebiet selbst oder in dessen Umgebung unzumutbar sind, oder wenn sie solchen Belästigungen oder Störungen ausgesetzt werden.

  • Bestimmungen in den Landesbauordnungen

Darüber hinaus lässt sich dem Wortlaut folgender Normen entnehmen, dass der Bauherr auf die Interessen des Nachbarn Rücksicht zu nehmen hat:

  • § 31 BauGB regelt die Möglichkeit von Ausnahmen und Befreiungen von den Festsetzungen eines Bebauungsplans:

    Nach § 31 Abs. 2 BauGB i.V.m. dem Rücksichtnahmegebot kann der Nachbar Schutz verlangen, wenn die vom Bauherrn beantragten Ausnahmen von den Festsetzungen des Bebauungsplans mit seinen nachbarlichen Interessen unvereinbar sind.

  • § 34 Abs. 1 BauGB:

    Rücksichtnahme kann hier insofern verlangt werden, als sich das Vorhaben in die nähere Umgebung einfügen muss:

    Die Rechtsprechung (u.a. OVG Berlin-Brandenburg 27.02.2012 -10 S 39/11) hat klargestellt, dass das aus dem Begriff des Einfügens (...) abgeleitete Rücksichtnahmegebot (nur) verletzt ist, "wenn sich ein Vorhaben objektivrechtlich nach der Art der baulichen Nutzung, dem Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise oder der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, nicht in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt (...). Andere als diese vier Normelemente des § 34 Abs. 1 BauGB sind für die Bewertung der Frage, ob sich ein Bauvorhaben in die nähere Umgebung einfügt, ohne Belang".

  • § 35 Abs. 3, S. 1 Nr. 3 BauGB:

    Im Außenbereich verlangt das Rücksichtnahmegebot, dass keine schädlichen Umwelteinwirkungen zulasten der Umgebung verursacht werden dürfen bzw. dass sich solchen Einwirkungen nicht ausgesetzt werden darf.

3. Inhalt

Das Rücksichtnahmegebot bezweckt, einen angemessenen Interessenausgleich herzustellen. Die Abwägung beiderseitiger Interessen hat sich daran zu orientieren, was dem Rücksichtnahmebegünstigten und dem Rücksichtnahmeverpflichteten jeweils nach Lage der Dinge zuzumuten ist: Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung des Rücksichtnahmebegünstigten ist, desto mehr kann an Rücksichtnahme verlangt werden. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen (vgl. BVerwG 14.01.1993 - 4 C 19/90).

Das Rücksichtnahmegebot beinhaltet nicht, jede Beeinträchtigung eines Nachbarn zu vermeiden. Ein Nachbar kann lediglich solche Nutzungsstörungen abwehren, die als rücksichtslos zu werten sind. Davon kann erst die Rede sein, wenn die mit dem genehmigten Bauvorhaben verbundenen Beeinträchtigungen bei der Nutzung des eigenen Grundstücks bei einer Abwägung, in der die Schutzwürdigkeit der Betroffenen, die Intensität der Beeinträchtigung und die Interessen des Bauherrn zu berücksichtigen sind, billigerweise unzumutbar erscheint (OVG Hamburg 28.07.2009 - 2 Bs 67/09).

Berechtigte Belange müssen nicht zurückgestellt werden, um gleichwertige fremde Belange zu schonen. Sind von dem in Rede stehenden Vorhaben Immissionen zu erwarten, so kann bezüglich der Zumutbarkeit auf Grundsätze und Begriffe des Bundesimmissionsschutzgesetzes zurückgegriffen werden. Ob Belästigungen im Sinne des Immissionsschutzrechts erheblich sind, richtet sich nach der konkreten Schutzwürdigkeit und Schutzbedürftigkeit der betroffenen Rechtsgüter, die sich ihrerseits nach der bebauungsrechtlichen Prägung der Situation und nach den tatsächlichen oder planerischen Vorbelastungen bestimmen, und ggf. die Schutzwürdigkeit der Betroffenen mindern, wobei wertende Elemente wie die Herkömmlichkeit, die soziale Adäquanz und die allgemeine Akzeptanz mitbestimmend sind. Die Beantwortung der Zumutbarkeitsfrage verlangt eine einzelfallbezogene Interessenbewertung, wobei ein objektiver Maßstab anzuwenden ist und zur Konkretisierung immissionsschutzrechtlicher Grundanforderungen Verwaltungsvorschriften und technische Regelwerke heranzuziehen sind. Die Schutzwürdigkeit der Umgebung hängt wiederum von dem Umfang der bereits gegenwärtig zulässigen Immissionen ab; die daraus folgende Vorbelastung bestimmt das Maß der gebotenen Rücksichtnahme (VGH Baden-Württemberg 12.04.2010 - 3 S 2786/09).

Ein Verstoß gegen das in § 15 BauNVO enthaltene Rücksichtnahmegebot ist ausgeschlossen, wenn alle durch das Gebot geschützten, möglicherweise beeinträchtigten Belange auch durch spezielle bauordnungsrechtliche Regelungen geschützt sind und das Vorhaben deren Anforderungen genügt (BVerwG 16.09.1993 - 4 C 28/91).

4. Beispiele

Praktische Relevanz erfährt das Rücksichtnahmegebot z.B. bei einem Nebeneinander von landwirtschaftlichem Betrieb (z.B. Schweine-, Hühnerhaltung, Biogasanlagen) und Wohnbebauung wegen der auftretenden Geruchsimmissionen. Je nach Fallkonstellation muss entweder der Landwirt oder/und der Wohnungseigentümer die sich aus der Gebietsnutzung des jeweils anderen ergebenden zumutbaren Einschränkung der eigenen Nutzung hinnehmen.

Dabei kann es auch dem Eigentümer eines Wohnhauses verwehrt sein, Nachbarschutz nach Maßgabe des in § 34 Abs. 3 BauGB enthaltenen Rücksichtnahmegebots gegenüber einer Baugenehmigung für einen Schweinemaststall im Außenbereich geltend zu machen:

Beispiel:

Liegt ein Wohnhaus am Rand eines (faktischen) Dorfgebiets mit hohem Anteil an Schweinehaltungsbetrieben, muss es grds. auch den Geruch aus einem im Außenbereich liegenden, nach § 34 Abs. 1 BauGB privilegierten Schweinemaststall hinnehmen, sofern dieser Geruch ortsüblich und für sich zumutbar ist (VGH Baden-Württemberg 09.10.1991 - 3 S 1344/91).

 Siehe auch 

Gemeinschaftsverhältnis - nachbarliches

Nachbar

Nachbarrecht - privates

Nachbarrecht - öffentliches

Nachbarrecht - öffentliches - Rechtsschutz

BVerwG 18.12.2007 - 4 B 55/07 (Nachbarschutz außerhalb der Plangrenzen)

BVerwG 07.12.2000 - 4 C 3/00 (Rücksichtnahmegebot kann nicht durch Landesrecht ausgeschlossen werden)

BVerwG 14.01.1993 - 4 C 19/90

BVerwG 20.09.1984 - 4 B 181/84

Diehr/Geßner: Die Abwehr landwirtschaftlicher Betriebe gegen heranrückende Wohnbebauung; Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht - NVwZ 2001, 985

Jeromin/Praml: Hochwasserschutz und wasserrechtliches Rücksichtnahmegebot; Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht - NVwZ 2009, 1079

Seibel: Das Rücksichtnahmegebot im öffentlichen Baurecht. Zugleich Anmerkung zu BVerwG, U. v. 25.01.2007; Baurecht - BauR 2007, 1831

Voßkuhle/Kaufhold: Das baurechtliche Rücksichtnahmegebot; Juristische Schulung - JuS 2010, 497

Waechter: Abstandsklage, nachbarliches Gemeinschaftsverhältnis und planungsrechtliche Schicksalsgemeinschaft; Baurecht - BauR 2009, 1237