Rechtswörterbuch

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Obliegenheit - Versicherungsrecht

 Normen 

§ 254 BGB

§ 28 VVG

§ 5 KfzPflVV

 Information 

1. Allgemein

Obliegenheiten sind Nebenpflichten des Versicherungsnehmers aus dem Versicherungsvertrag, die der Versicherungsnehmer zur Erhaltung seiner Versicherungsdeckung nicht verletzten darf. Insbesondere im Versicherungsrecht bestehen mannigfaltige Obliegenheiten des Versicherungsnehmers. Es wird zwischen folgenden Obliegenheiten unterschieden:

  • im Versicherungsvertragsgesetz gesetzlich geregelte Obliegenheiten:

    • Die im § 19 VVG niedergelegte Pflicht des Versicherungsnehmers, den Versicherer vor dem Vertragsschluss über bestimmte Umstände zu informieren.

    • Die Verpflichtung zur Anzeige mehrerer Versicherungsverträge über dieselbe Gefahr gemäß § 77 VVG.

  • in den Allgemeinen Versicherungsbedingungen der jeweiligen Versicherungsart vereinbarte Obliegenheiten.

    Beispiel:

    E.1.1.3 AKB 2015: "Sie dürfen den Unfallort nicht verlassen, ohne die gesetzlich erforderlichen Feststellungen zu ermöglichen und die dabei gesetzlich erforderliche Wartezeit zu beachten (Unfallflucht)."

    Dazu sagt die Rechtsprechung: "E.1.1.3 AKB 2015 begründet keine der Verpflichtung aus § 142 Abs. 2 StGB entsprechende Obliegenheit, nachträglich Feststellungen zu ermöglichen. Das sich aus § 18 Abs. 8 StVO ergebende Halteverbot auf Autobahnen kann bei einem Schutzplankenschaden der Annahme einer Verletzung der Aufklärungsobliegenheit aus E.1.1.3 AKB 2015 entgegenstehen (OLG Celle 25.04.2019 - 8 U 210/18).

Es wird zudem gemäß § 28 VVG danach unterschieden, ob der Versicherungsnehmer vor oder nach dem Versicherungsfall gegen die Obliegenheit verstoßen hat. Auswirkungen hat diese Unterscheidung auf die Rechtsfolgen der Obliegenheitsverletzung.

2. Schadensminderungspflicht bei Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit durch Unfall

"Im Falle einer die Arbeitskraft beeinträchtigenden Gesundheitsverletzung obliegt es nach der ständigen Rechtsprechung des Senats als Ausfluss der Schadensminderungspflicht dem Verletzten im Verhältnis zum Schädiger, seine verbliebene Arbeitskraft in den Grenzen des Zumutbaren so nutzbringend wie möglich zu verwerten. (...)

Die Annahme einer Obliegenheit setzt also voraus, dass dem Geschädigten der Einsatz seiner Arbeitskraft in einer bestimmten Berufstätigkeit zugemutet werden kann und eine Prognose ergibt, dass ihm das bei entsprechender Anstrengung am Arbeitsmarkt auch mit Erfolg gelingt oder gelungen wäre. (...)

Verstößt der Geschädigte gegen die ihm obliegende Schadensminderungspflicht, indem er es unterlässt, obliegenheitsgerechte Maßnahmen zur Wiederherstellung seiner Arbeitskraft zu ergreifen und einer ihm zumutbaren Erwerbstätigkeit nachzugehen, sind nach der Rechtsprechung des Senats die erzielbaren (fiktiven) Einkünfte auf den Schaden anzurechnen. Eine quotenmäßige Anspruchskürzung kommt grundsätzlich nicht in Betracht, weil sie im Einzelfall zu sachwidrigen Ergebnissen führen kann" (BGH 21.09.2021 - VI ZR 91/19).

3. Rechtsfolgen für den Versicherungsnehmer bei der Verletzung einer Obliegenheit

Die Leistungspflicht des Versicherers nach einer Obliegenheitsverletzung richtet sich nach dem Grad des dem Versicherungsnehmer vorzuwerfenden Verschuldens. Es besteht folgendes abgestuftes System:

  1. a)

    Bei der Verletzung einer Anzeigepflicht kann gemäß § 19 VVG der Versicherungsnehmer bei grober Fahrlässigkeit des Versicherungsnehmers von dem Vertrag zurücktreten.

    Gemäß § 19 VVG ist die Anzeigepflicht auf solche Umstände beschränkt, nach denen der Versicherer in Textform gefragt hat. Die Einschätzung der für das versicherbare Risiko wesentlichen Umstände obliegt daher dem Versicherer.

    Das Rücktrittsrecht ist aber gemäß § 19 Abs. 4 VVG ausgeschlossen, wenn der Versicherer den Vertrag auch bei Kenntnis der anderen Umstände, wenn auch zu anderen Bedingungen, geschlossen hätte. Die anderen Bedingungen werden auf Verlangen des Versicherers rückwirkend, bei einer vom Versicherungsnehmer nicht zu vertretenden Pflichtverletzung ab der laufenden Versicherungsperiode Vertragsbestandteil. Die Einschätzung der für das versicherbare Risiko wesentlichen Umstände obliegt daher dem Versicherer.

    Der Begriff der "anderen Bedingungen" knüpft an die Verletzung der Anzeigepflicht nach § 19 Abs. 1 und 2 VVG hinsichtlich der anzugebenden gefahrerheblichen Umstände an. Es handelt sich mithin um verschwiegene oder falsch angegebene Gefahrumstände, bei deren richtiger Kenntnis der Versicherer den Vertrag gar nicht oder nicht zu diesen Bedingungen abgeschlossen hätte. Unter "anderen Bedingungen" sind vielmehr Risikoausschlüsse, Prämienerhöhungen, Selbstbehalte, andere Laufzeiten, andere Versicherungssummen oder ähnliches zu verstehen (BGH 27.04.2016 - IV ZR 372/15).

    Das Rücktrittsrecht des Krankenversicherers jedoch ist nicht deshalb gemäß § 19 Abs. 4 VVG ausgeschlossen, weil der Versicherungsnehmer einen Anspruch auf Versicherungsschutz im Basistarif hat (BGH 27.04.2016 - IV ZR 372/15).

    Der BGH hat mit der Entscheidung BGH 12.03.2014 - IV ZR 306/13 eine lang umstrittene Frage dahin gehend beantwortet, dass es auf die Erfüllung der Hinweispflicht gemäß § 19 Abs. 5 VVG dann nicht ankommt, wenn der Versicherungsnehmer arglistig getäuscht hat. Der Versicherer ist dann immer zum Rücktritt berechtigt.

  2. b)

    Der Versicherungsnehmer darf gemäß § 23 VVG nach Abgabe seiner Vertragserklärung ohne Einwilligung des Versicherers keine Gefahrerhöhung vornehmen oder deren Vornahme durch einen Dritten gestatten. Macht er dies dennoch, hat der Versicherer folgende Möglichkeiten:

    • Bei der schuldhaften Erhöhung der Gefahr durch den Versicherungsnehmer kann der Versicherer gemäß § 24 VVG das Versicherungsverhältnis kündigen. Bei einer vorsätzlichen oder grob fahrlässigen Gefahrerhöhung kann der Vertrag fristlos, bei einer einfachen Fahrlässigkeit mit einer Frist von einem Monat gekündigt werden.

    • Daneben kann der Versicherer statt der Kündigung eine Prämienerhöhung vornehmen, die wiederum durch den Versicherungsnehmer bei einer Erhöhung um mehr als 10 % abgelehnt werden kann.

    Die Leistungspflicht beim Eintritt eines Versicherungsfalls ist in § 26 VVG wie folgt geregelt:

    • Bei vorsätzlicher Gefahrerhöhung besteht eine gänzliche Leistungsfreiheit des Versicherers.

      Leistungsfreiheit des Versicherers wegen vorsätzlicher Gefahrerhöhung setzt das Bewusstsein des Versicherungsnehmers von der gefahrerhöhenden Eigenschaft der von ihm vorgenommenen Handlung voraus. Ein zum Leistungsausschluss führender Vorsatz des Versicherungsnehmers ergibt sich nicht allein aus der Kenntnis der gefahrerhöhenden Umstände (BGH 10.09.2014 - IV ZR 322/13).

    • Bei grob fahrlässiger Pflichtverletzung ist der Versicherungsnehmer berechtigt, seine Leistung in einem zur Schwere des Verschuldens stehenden Verhältnis zu kürzen.

    • Bei einer einfach fahrlässigen Pflichtverletzung bleibt der Versicherer zur Leistung verpflichtet.

    • Immer bleibt die Leistungspflicht des Versicherers bestehen, wenn

      • die Gefahrerhöhung nicht ursächlich für den Eintritt des Versicherungsfalls oder den Umfang der Leistungspflicht war

        oder

      • wenn bei dem Eintritt des Versicherungsfalls die Frist für die Kündigung des Versicherers abgelaufen war, ohne dass eine Kündigung ausgesprochen wurde.

    • Unerhebliche Gefahrerhöhungen sind immer unbeachtlich (§ 27 VVG).

  3. c)

    Bei Obliegenheitsverletzungen besteht folgende Rechtslage:

    • Verletzung einer vertraglichen Obliegenheit, die vor dem Versicherungsfall (§ 28 Abs. 1 VVG) zu erfüllen war:

      • Der Versicherer bleibt bei einer einfachen Fahrlässigkeit zur Leistung verpflichtet.

      • Bei grob fahrlässiger oder vorsätzlicher Pflichtverletzung kann er den Vertrag innerhalb eines Monats kündigen.

    • Sofern nach dem Versicherungsvertrag der Versicherer bei (irgendeiner) vertraglichen Obliegenheitsverletzungen zur Leistungsfreiheit berechtigt ist, gilt diese Leistungsfreiheit gemäß § 28 Abs. 2 VVG nur mit folgenden Maßgaben:

      • Die gänzliche Leistungsfreiheit gilt bei vorsätzlicher Verletzung.

      • Bei grob fahrlässiger Verletzung kann die Leistung in einem zur Schwere des Verschuldens entsprechenden Verhältnis gekürzt werden.

      • Daraus ergibt sich, dass die Leistungspflicht bei einfacher Fahrlässigkeit bestehen bleibt.

      • Immer bleibt der Versicherer zur Leistung verpflichtet, wenn die Obliegenheitsverletzungen weder für den Eintritt noch die Feststellung des Versicherungsfalls noch für die Feststellung oder den Umfang der Leistungspflicht ursächlich war.

    • Bei mehreren Obliegenheitsverletzungen des Versicherungsnehmers werden die Beträge addiert (OLG Frankfurt am Main 24.07.2014 - 6 U 45/13).

 Siehe auch 

Mitverschulden

Obliegenheit - Zivilrecht

Regress

Rügepflicht

Unterhalt - Obliegenheiten

Versicherungsvertrag

Versicherungsvertrag - Grobe Fahrlässigkeit

Versicherungsvertrag - Prozess

BGH 13.01.2010 - IV ZR 28/09 (Obliegenheit zur Vorlage eines Verzeichnisses abhanden gekommener Sachen bei der zuständigen Polizeidienststelle)

BGH 26.01.2005 - IV ZR 239/03 (Obliegenheitsverletzung Kfz-Versicherung sowie Erfordernis der Erklärung des Versicherers)

BGH 01.12.2004 - IV ZR 291/03 (Obliegenheiten in der Frachtführerhaftpflichtversicherung)

BGH 24.05.2000 - IV ZR 186/99 (Zur Abgrenzung zwischen objektivem Risikoausschluss und verhüllter Obliegenheit)

Bauer: Obliegenheiten des Versicherungsnehmers in der Rechtsschutzversicherung; Neue Juristische Wochenschrift - NJW 2011, 646

Halm/Engelbrecht/Krahe: Handbuch des Fachanwalts Versicherungsrecht; 6. Auflage 2018

Langheid/Müller-Frank: Rechtsprechungsübersicht zum Versicherungsvertragsrecht im zweiten Halbjahr 2018; Neue Juristische Wochenschrift - NJW 2019, 341

Looschelders/Pohlmann: VVG. Kommentar; 4. Auflage 2023

Wussow: Obliegenheit in der privaten Unfallversicherung; Versicherungsrecht - VersR 2003, 1481