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Arbeitsunfall - Haftungsbeschränkung

 Normen 

§§ 104 ff. SGB VII

 Information 

1. Allgemein

Bei einem Arbeitsunfall besteht ein Ausschluss oder eine Beschränkung der Haftung des Arbeitskollegen oder des Arbeitgebers im Arbeitsbereich.

Durch die Gründung der Berufsgenossenschaften und der damit verbundenen Absicherung der Arbeitnehmer wurde in der Reichsversicherungsordnung unter bestimmten Voraussetzungen bei einem Arbeitsunfall des Versicherten zum Zwecke des Betriebsfriedens eine Haftungsbeschränkung des den Arbeitsunfall verursachenden Arbeitgebers bzw. der Arbeitskollegen gesetzlich begründet.

Das SGB VII hat diese Haftungsbeschränkungen bzw. den Haftungsausschluss modifiziert übernommen:

Durch das Eingreifen der Unfallversicherung ist die Haftung des Arbeitgebers und/oder der Kollegen gegenüber dem Verletzten ausgeschlossen, es sei denn der Arbeitsunfall wurde vorsätzlich oder durch die Teilnahme am Straßenverkehr (§ 8 Abs. 2 Nr. 1 - 4 SGB VII) herbeigeführt.

2. Geltungsbereich der Haftungsfreistellung

Der Arbeitgeber haftet grundsätzlich nicht für Personenschäden des Arbeitnehmers:

Gemäß § 104 SGB VII ist die Haftung des Arbeitgebers für den Fall der Verletzung oder der Tötung des Arbeitnehmers ausgeschlossen, wenn

Eintrittspflichtig sind die Berufsgenossenschaften.

Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts hat den Haftungsausschluss bei Vorliegen der Voraussetzungen auf alle aus Personenschäden resultierenden Ansprüche ausgedehnt.

Hintergrund ist, dass die gesetzliche Unfallversicherung nur materielle Personenschäden ersetzt, wie z.B. die Behandlungskosten oder zerstörte Kleidung. Ausgeschlossen ist der Schmerzensgeldanspruch. Nach der Rechtsprechung kann somit der verletzte Arbeitnehmer bei der Eintrittspflicht der gesetzlichen Unfallversicherung keinen Schmerzensgeldanspruch gegen den Arbeitgeber geltend machen. Etwas anderes gilt bei der vorsätzlichen Herbeiführung des Arbeitsunfalls durch den Arbeitgeber.

Diese Rechtsprechung wurde verfassungsrechtlich bestätigt: BVerfG 08.02.1995 - 1 BvR 753/94

Nicht nur Betriebsangehörige, sondern alle Personen, die durch eine betriebliche Tätigkeit einen Versicherungsfall verursachen, haften dem Geschädigten bzw. seinen Angehörigen oder Hinterbliebenen nur dann direkt, wenn sie den Versicherungsfall vorsätzlich oder auf einem in § 8 Abs. 2 Nr. 1 - 4 SGB VII genannten Weg (Arbeitsunfall - Wegeunfall) verursachen.

Als Beschäftigter und damit als Versicherter des Betriebes gilt ein Arbeitnehmer, wenn er in den Betrieb eingegliedert ist. Ob eine solche Eingliederung vorliegt, ist nicht anhand rechtlicher Erwägungen, sondern vor allem anhand der tatsächlichen Verhältnisse zu prüfen:

Kommt es auf die Frage an, ob der Geschädigte in den Betrieb eines anderen Unternehmers eingegliedert war, ist entscheidend, ob der Geschädigte Aufgaben des anderen Unternehmens wahrgenommen hat und die Förderung der Belange dieses Unternehmens seiner Tätigkeit auch im Übrigen das Gepräge gegeben hat, d.h. er muss wie ein Beschäftigter dieses Unternehmens tätig geworden sein. Dies setzt voraus, dass die von diesem Unternehmer zu erfüllenden Pflichten der Hilfeleistung des einem anderen Unternehmen (Stammunternehmen) angehörenden Geschädigten das Gepräge gegeben haben. War der Geschädigte hingegen zur Wahrnehmung von Aufgaben seines Stammunternehmens tätig, liegen die Voraussetzungen nicht vor.

Hat der Verletzte eine Aufgabe wahrgenommen, die sowohl in den Aufgabenbereich seines Stammunternehmens als auch in den des Unfallunternehmens fiel, so ist in der Regel anzunehmen, dass er allein zur Förderung der Interessen seines Stammunternehmens tätig geworden ist (BAG 19.02.2009 - 8 AZR 188/08).

Ist der Versicherungsfall daher weder vorsätzlich hervorgerufen worden noch hat er sich auf einem in § 8 SGB VII genannten Weg ereignet, kann der Geschädigte nur Ansprüche gegen die gesetzliche Unfallversicherung geltend machen.

Daher sind auch Schmerzensgeldansprüche eines Kindergartenkindes gegen den Träger einer Kindertageseinrichtung ausgeschlossen (BGH 04.06.2009 - III ZR 229/07).

Bei einem vom Arbeitgeber verursachten Verkehrsunfall kann der Versicherte auch direkt die Kfz-Haftpflichtversicherung in Anspruch nehmen.

Beispiel:

Nimmt der Arbeitgeber seinen Mitarbeiter auf dem Nachhauseweg mit und verursacht einen Unfall, kann der Versicherte direkt gegen seinen Arbeitgeber und/oder dessen Kfz-Haftpflichtversicherung Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche anmelden.

Dabei ist nach der folgenden Rechtsprechung auch der Ehepartner der Arbeitgeberin privilegiert, wenn er aus Gefälligkeit eine Versorgungsfahrt mit der geschädigten Arbeitnehmerin ausführt:

"Als Schädiger ist nicht nur derjenige privilegiert, der als Arbeitnehmer desselben Betriebes - als Betriebsangehöriger - tätig ist, sondern auch derjenige, der lediglich eine betriebliche Tätigkeit ausübt. Auch betrieblich tätige unversicherte Personen, die aus Gefälligkeit dem Betrieb dienliche Verrichtungen vornehmen oder solche, die aufgrund enger verwandtschaftlicher Beziehungen eine betriebliche Tätigkeit verrichten, sind ebenfalls Begünstigte der Haftungsprivilegierung" (LG Münster 29.03.2018 - 016 O 213/17).

3. Schädigungen des Arbeitgebers

Im Gegensatz zu der zuvor die gesetzliche Unfallversicherung regelnden Reichsversicherungsordnung beziehen die Haftungsbeschränkungen des SGB VII auch Schädigungen des Arbeitgebers mit ein, d.h. wenn z.B. ein Arbeitnehmer durch einen Arbeitsunfall den Arbeitgeber verletzt, kann unter den oben genannten Voraussetzungen auch der Arbeitgeber nicht direkt gegen den Arbeitnehmer Ansprüche geltend machen.

4. Gemeinsame Betriebsstätte

4.1 Allgemein

Die Privilegierung ist nicht auf Betriebsangehörige beschränkt und erfasst daher auch Betriebsfremde. Auch dieser Anspruch ist aber auf den Ersatz von Personenschäden begrenzt:

Verrichten Versicherte mehrerer Unternehmen vorübergehend betriebliche Tätigkeiten auf einer gemeinsamen Betriebsstätte, gelten gemäß § 106 Abs. 3 SGB VII die § 104 f. SGB VII für die Ersatzpflicht der für die beteiligten Unternehmen Tätigen untereinander. Dies gilt auch beim Zusammenwirken mehrerer Unternehmen zur Hilfe bei Unglücksfällen oder Unternehmen des Zivilschutzes.

Nach inzwischen gefestigter Rechtsprechung erfasst der Begriff der gemeinsamen Betriebsstätte über die Fälle der Arbeitsgemeinschaft hinaus betriebliche Aktivitäten von Versicherten mehrerer Unternehmen, die bewusst und gewollt bei einzelnen Maßnahmen ineinander greifen, miteinander verknüpft sind, sich ergänzen oder unterstützen (Miteinander im Arbeitsablauf), wobei es ausreicht, dass die gegenseitige Verständigung stillschweigend durch bloßes Tun erfolgt (BGH 24.06.2003 - VI ZR 434/01).

Der Begriff der betrieblichen Tätigkeit ist ein objektiver Begriff. Eine betriebliche Tätigkeit liegt vor, wenn sie unmittelbar mit dem Zweck der betrieblichen Beschäftigung zusammenhängt und dem Betrieb dienlich ist. Es kommt damit für die Haftungsfreistellung des Schädigers darauf an, ob er den Schaden in Ausführung einer betriebsbezogenen Tätigkeit verursacht hat. Demgegenüber wird ein Schaden, den der Schädiger nur bei Gelegenheit seiner Arbeit im Betrieb verursacht hat, von der Haftungsfreistellung nicht erfasst. Um einen solchen Fall handelt es sich insbesondere dann, wenn der Schaden die Folge einer neben der betrieblichen Arbeit verübten gefahrenträchtigen Spielerei oder Neckerei ist (BGH 30.06.1998 - VI ZR 286/97).

4.2 Verletzter war für beide Unternehmen tätig

Hat der Verletzte Aufgaben wahrgenommen, die sowohl in den Aufgabenbereich seines Stammbetriebs als auch in denjenigen des Unfallbetriebs fielen, so ist in der Regel davon auszugehen, dass er allein zur Förderung der Interessen seines "Stammbetriebs" tätig geworden ist, sodass ein Versicherungsschutz im "Unfallbetrieb" nicht herbeigeführt wird. Erst wenn seine Tätigkeit nicht mehr als Wahrnehmung einer Aufgabe seines "Stammbetriebs" gewertet werden kann, ist die Frage nach seiner Eingliederung in den fremden "Unfallbetrieb" aufzuwerfen. Für die Einordnung der Tätigkeit ist zunächst von den schriftlichen vertraglichen Vereinbarungen der beteiligten Unternehmen auszugehen.

Dabei trägt im Rechtsstreit derjenige die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass die Tätigkeit des Verletzten im Unfallzeitpunkt in den Aufgabenbereich des "Unfallbetriebs" fiel, der sich auf den daraus herzuleitenden Haftungsausschluss berufen will.

Bei einem derartigen Tätigwerden mehrerer Haupt- und Subunternehmer im Rahmen eines größeren Bauvorhabens bleiben die Beschäftigten jedes Unternehmens in ihrer Tätigkeit nur diesem zugeordnet (BGH 24.03.1998 - VI ZR 337/96).

5. Regress

Von der Haftung zu unterscheiden ist der Regress der Unfallversicherung, d.h. inwieweit der Arbeitgeber oder ein am Unfall beteiligter Arbeitskollege gegenüber der Unfallversicherung ersatzpflichtig ist. Die Ersatzpflicht tritt gemäß § 110 SGB VII bereits bei grob fahrlässiger Unfallverursachung ein, ist aber in der Höhe auf einen zivilrechtlichen Schadensersatzanspruch begrenzt.

Dabei trägt der Sozialversicherungsträger die Beweislast für die Höhe des fiktiven zivilrechtlichen Schadensersatzanspruchs des Geschädigten gegen den haftungsprivilegierten Schädiger (BGH 29.01.2008 - VI ZR 70/07).

6. Bindung der Gerichte an die Entscheidung des Versicherungsträgers

Die unanfechtbare Entscheidung des für den Verleiher zuständigen Versicherungsträgers, in der der Unfall eines aufgrund eines wirksamen Vertrags entliehenen Arbeitnehmers im Unternehmen des Entleihers als Arbeitsunfall anerkannt wird, hindert die Zivilgerichte nicht, den Unfall haftungsrechtlich dem Unternehmen des Entleihers zuzuordnen und diesen als haftungsprivilegiert anzusehen.

Zwar ist der Zivilrichter gemäß § 108 SGB VII an unanfechtbare Entscheidungen der Unfallversicherungsträger hinsichtlich der Frage gebunden, ob ein Arbeitsunfall vorliegt, in welchem Umfang Leistungen zu erbringen sind und ob der Unfallversicherungsträger zuständig ist. Nach der neueren Rechtsprechung des Senats erstreckt sich die Bindungswirkung auch auf die Entscheidung darüber, ob der Verletzte den Unfall als Versicherter aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses erlitten hat und welchem Unternehmen der Unfall zuzurechnen ist.

Diese Erwägungen lassen sich nach der Rechtsprechung des BGH jedoch nicht auf die Arbeitnehmerüberlassung übertragen. Sie ist durch Besonderheiten gekennzeichnet, die der Annahme entgegenstehen, dass die Beschränkung der Zuordnung eines Arbeitsunfalls zu einem Unternehmen auch in dieser Fallkonstellation dem Willen des Gesetzgebers entspricht (BGH 18.11.2014 - VI ZR 47/13).

 Siehe auch 

Arbeitsunfall

Arbeitsunfall - Berufskrankheit

Arbeitsunfall - Betriebliche Gemeinschaftsveranstaltung

Arbeitsunfall - Wegeunfall

Gemeinschaftsbetrieb

Gesetzliche Unfallversicherung

Haftung des Arbeitnehmers

BGH 17.06.2008 - VI ZR 257/06 (Haftungsfreistellung auch gegenüber Unternehmer, der freiwillig oder kraft Satzung versichert ist)

BGH 22.01.2008 - VI ZR 17/07(Bauarbeiter und ein mit der Sicherung der Arbeiten beauftragter Arbeitnehmer eines anderen Unternehmens auf gemeinsamer Betriebsstätte)

BGH 07.11.2006 - VI ZR 211/05 (Haftungsfreistellung bei entsendeten Arbeitnehmern)

BGH 11.11.2003 - VI ZR 13/03 (Haftung des Unternehmers bei Personenschäden im gestörten Gesamtschuldnerausgleich)

Eichenhofer/Wenner: Sozialgesetzbuch VII - Gesetzliche Unfallversicherung. Kommentar; 3. Auflage 2017

Kampen: Die gemeinsame Betriebsstätte. Entwicklung und aktuelle Bedeutung der Haftungsprivilegierung bei Personenschäden; Neue Juristische Wochenschrift - NJW 2012, 2234

Kampen: Beteiligung des Schädigers am Verwaltungsverfahren des Unfallversicherungsträgers; Neue Juristische Wochenschrift - NJW 2010, 2311

Krasney: Haftungsbeschränkungen bei Verursachung von Arbeitsunfällen; Neue Zeitschrift für Sozialrecht - NZS 2004, 7

Matz/Baumann: Die Reichweite der Haftungsprivilegien nach dem SGB VII außerhalb des klassischen Arbeitsunfalls; Neue Juristische Wochenschrift - NJW 2016, 673

Waltermann: Haftungsfreistellung bei Personenschäden - Grenzfälle und neue Rechtsprechung; Neue Juristische Wochenschrift - NJW 2004, 901

Waltermann: Haftungsfreistellung gegenüber versichertem Unternehmer bei Arbeitsunfall auf gemeinsamer Betriebsstätte (Anmerkung zu: BGH, U. v. 17.06.2008 - VI ZR 257/06); Neue Juristische Wochenschrift - NJW 2008, 2895