Schwerbehinderung Merkzeichen „aG“ Restgehvermögen, LSG Berlin Brandenburg, Urt. v. 14.8.2013, L 11 SB 267/12

Soziales und Sozialversicherung
10.07.20142988 Mal gelesen
Schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung haben einen Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens aG. Besteht beim Betroffenen ein Restgehvermögen, entscheiden die Versorgungsämter oftmals rigide.

Die Versorgungsämter verfahren bei der Zuerkennung des Merkzeichens aG insbesondere in Großstädten mit immer beschränkterem Parkraum inzwischen recht rigide. 
Einen Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens aG haben schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung. Dies sind nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen solche Personen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind. 
Gehört der Betroffene nicht zu diesem Kreis, stellt sich in der Praxis stets die - meist sehr umstrittene - Frage, ob der Betroffene diesem Personenkreis gleichzustellen ist. Das LSG Berlin-Brandenburg hat in seinem folgend auszugsweise zitierten Urteil die Voraussetzungen hierfür sehr anschaulich zusammengefasst.
"Bei der Klägerin liegen die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" vor. Sie zählt zwar nicht zum Kreis der Querschnittsgelähmten, Doppeloberschenkelamputierten, Doppelunterschenkelamputierten, Hüftexartikulierten und einseitig Oberschenkelamputierten, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind. Sie ist aber ein schwerbehinderter Mensch, der dem vorstehenden Personenkreis gleichzustellen ist.".

"Für die Beurteilung einer Gleichstellung ist bei dem Restgehvermögen des Betroffenen anzusetzen. Ein anspruchsausschließendes Restgehvermögen lässt sich griffig jedoch weder quantifizieren noch qualifizieren. Weder der gesteigerte Energieaufwand noch eine in Metern ausgedrückte Wegstrecke taugen grundsätzlich dazu. Denn die maßgeblichen straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften stellen, wie die Anlage zu § 2 VersMedV im Übrigen auch, nicht darauf ab, über welche Wegstrecke ein schwerbehinderter Mensch sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges zumutbar noch bewegen kann, sondern darauf, unter welchen Bedingungen ihm dies nur noch möglich ist, nämlich nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung. Wer diese Voraussetzungen praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges erfüllt, qualifiziert sich für den entsprechenden Nachteilsausgleich auch dann, wenn er gezwungenermaßen auf diese Weise längere Wegstrecken zurücklegt. Die für den Nachteilsausgleich "aG" geforderte große körperliche Anstrengung ist gegeben, wenn die Wegstreckenlimitierung da-rauf beruht, dass der Betroffene bereits nach kurzer Wegstrecke erschöpft ist und Kräfte sammeln muss, bevor er weitergehen kann. Dass der betroffene Gehbehinderte nach einer bestimmten Strecke eine Pause machen muss, ist allerdings lediglich Indiz für eine Erschöpfung. Für die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "aG" reichen irgendwelche Erschöpfungszustände zudem nicht aus. Vielmehr müssen sie in ihrer Intensität mit den Erschöpfungszuständen gleichwertig sein, die bei den ausdrücklich genannten außergewöhnlich Gehbehinderten auftreten. Gradmesser hierfür kann die Intensität des Schmerzes oder die Luftnot nach dem Zurücklegen einer bestimmten Wegstrecke sein. Ein solches Erschöpfungsbild lässt sich u. a. aus der Dauer der erforderlichen Pausen sowie den Umständen herleiten, unter denen der Betroffene nach der Pause seinen Weg fortsetzt. Nur kurzes Pausieren mit anschließendem Fortsetzen des Weges ohne zusätzliche Pausen ist im Hinblick auf die von den Vergleichsgruppen gebildeten Maßstab zumutbar (vgl. zu Vorstehendem BSG, Urteile vom 29. März 2007 - B 9a SB 1/06 R und 5/05 R -, jeweils zitiert nach juris). Das Bundessozialgericht hat in diesem Zusammenhang zum Ausdruck gebracht, dass die für das Merkzeichen "aG" geforderte große körperliche Anstrengung gegeben sein dürfte, wenn der Betroffene bereits nach einer Wegstrecke von 30 Metern wegen Erschöpfung eine Pause einlegen muss (vgl. BSG, Urteil vom 10. Dezember 2002 - B 9 SB 7/01 R - juris)."

Der gesamte Urteilstext kann hier eingesehen werden.

 

Dr. Robert Heimbach

Rechtsanwalt