Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit - Zur Anwendung des Mehrstufenschemas

Soziales und Sozialversicherung
01.09.20131341 Mal gelesen
Mit der Rentenreform 2001 wurde die Unterscheidung zwischen Erwerbsunfähigkeits- und Berufsunfähigkeitsrente grundsätzlich abgeschafft und durch die Rente wegen Erwerbsminderung ersetzt. Für ältere Jahrgänge gibt es Ausnahmen.

Die gesetzliche Grundlage hierfür findet sich in § 240 SGB VI. Versicherte, die vor dem 2. Januar 1961 geboren und berufsunfähig sind, können bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung beanspruchen. Berufsunfähig sind nach der gesetzlichen Definition Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung im Vergleich zur Erwerbsfähigkeit von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten auf weniger als sechs Stunden gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfasst alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Berufsunfähig ist nicht, wer eine zumutbare Tätigkeit mindestens sechs Stunden täglich ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

Es reicht also nicht aus, dass der Versicherte seinen "bisherigen Beruf" aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben kann. Das Gesetz verlangt von dem Versicherten, dass er, bezogen seinen bisherigen Beruf, einen "zumutbaren" beruflichen Abstieg in Kauf nimmt und sich mit einer geringerwertigen Erwerbstätigkeit zufrieden gibt, bevor er eine Rente in Anspruch nimmt. Erst wenn der Versicherte in diesem Sinne nicht auf einen zumutbaren anderen Beruf "verwiesen" werden kann, ist er berufsunfähig i.S. des Gesetzes.

Welcher Verweisungsberuf ist zumutbar?

Ausgangspunkt der Beurteilung der Berufsunfähigkeit ist der bisherige Beruf. Darunter ist im Allgemeinen diejenige versicherungspflichtige Beschäftigung zu verstehen, die zuletzt auf Dauer, d.h. mit dem Ziel verrichtet worden ist, sie bis zum Eintritt der gesundheitlichen Unfähigkeit oder bis zum Erreichen der Altersgrenze auszuüben; in der Regel ist das die letzte versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit, jedenfalls dann, wenn sie die qualitativ höchste ist.

Das Mehrstufenschema des Bundessozialgerichts

In der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts wurde eine Einteilung der Berufe der Versicherten nach ihrer Wertigkeit in verschiedene Gruppen entwickelt. Aus der Einstufung in dieses Schema ist diejenige Tätigkeit abzuleiten, auf die der Versicherte verwiesen werden kann. Die Berufsgruppen wurden nach Leitberufen gebildet. Maßgeblich für die Qualität eines Berufes ist die ihm zugrunde liegende Ausbildung. An der Spitze steht der Beruf des Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion bzw. des besonders hoch qualifizierten Facharbeiters, dann folgen der Facharbeiter (anerkannter Ausbildungsberuf mit einer Ausbildungszeit von mehr als zwei Jahren), der angelernte Arbeiter (sonstiger Ausbildungsberuf mit einer Regelausbildungszeit von bis zu zwei Jahren) und der ungelernte Arbeiter. Bei diesen Kategorien handelt es sich lediglich um Leitberufe. Aus der Dauer der Ausbildung wird der Schluss gezogen, dass die vermittelten Kenntnisse und Fertigkeiten diese Lehrdauer benötigen und entsprechend umfangreich sind. Im Vergleich zu seinem bisherigen Beruf darf der Versicherte grundsätzlich auf die nächstniedrigere Gruppe verwiesen werden.

Die Zuordnung einer bestimmten Tätigkeit zu einer dieser Gruppen richtet sich jedoch nicht allein nach der Ausbildung, sondern auch nach den Qualitätsanforderungen der verrichteten Arbeit insgesamt. Aus einer Mehrzahl von Faktoren im Rahmen eines sog. "Gesamtbildes" ist der Wert der Arbeit für den Betrieb nach der Dauer und des Umfangs der Ausbildung sowie des bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen der bisherigen Berufstätigkeit zu ermitteln.

Tarifliche Qualifizierung

Neben Art und Dauer der Ausbildung kommt es für die Bewertung einer Tätigkeit auch auf den qualitativen Wert an, den ihr die Tarifvertragsparteien beigemessenen. Wenn sich eine Einstufung als Facharbeiter nicht bereits aus der durchlaufenen Ausbildung ergibt und auch nicht festgestellt werden kann, dass die Tätigkeit theoretische Kenntnisse und praktische Fertigkeiten in einem Umfang voraussetzt, die von einem Facharbeiter in regulärer Ausbildung und längerer Berufstätigkeit erworben werden, kann eine Tätigkeit, dennoch einer gelernten oder angelernten gleichstehen, sofern sie tariflich entsprechend eingeordnet ist, selbst wenn sie nicht diese Ausbildungsdauer erfordert.

Die tariflichen Regelungen haben Bedeutung in doppelter Hinsicht:

  • Zum einen ist die abstrakte - "tarifvertragliche" - Klassifizierung der Tätigkeit (im Sinne eines verselbständigten Berufsbildes) innerhalb eines nach Qualitätsstufen geordneten Tarifvertrags von der - "tariflichen" - Eingruppierung des Versicherten in eine bestimmte Tarifgruppe des jeweiligen Tarifvertrags durch den Arbeitgeber zu unterscheiden. Soweit die Tarifvertragsparteien eine bestimmte Berufsart im Tarifvertrag aufführen und einer Tarifgruppe zuordnen, kann in der Regel davon ausgegangen werden, dass die tarifvertragliche Einstufung der einzelnen in der Tarifgruppe genannten Tätigkeiten auf deren Qualität beruht; denn die Tarifparteien als unmittelbar am Arbeitsleben Beteiligte nehmen relativ zuverlässig eine Bewertung von Berufstätigkeiten vor, die den Anforderungen auch des Mehrstufenschemas und der Qualität des Berufs in Bezug auf die gesetzlichen Merkmale entspricht. Dies ergibt sich aus der "Tarifrechtsprechung" des BSG. Sie basiert auf der Überlegung, dass das Gesetz auf die in der Gesellschaft vorhandenen Wertvorstellungen verweist, wenn es in von der "Zumutbarkeit" einer Beschäftigung spricht, und dass die damit angesprochene soziale Wirklichkeit insbesondere von den Tarifvertragsparteien nicht bloß wiedergeben, sondern erst geschaffen wird. Diese in die Auslegung der genannten Vorschriften einbezogene Erkenntnis erlaubt es, gesellschaftliche Entwicklungsprozesse und einen Wandel der sie begleitenden Wertungen zu berücksichtigen. Die abstrakte (tarifvertragliche) Einordnung einer bestimmten Berufstätigkeit in eine Tarifgruppe, in der auch Facharbeiter eingeordnet sind, lässt demzufolge in der Regel den Schluss zu, dass diese Berufstätigkeit im Geltungsbereich des Tarifvertrags als Facharbeitertätigkeit zu qualifizieren ist. Ausnahmen von diesem Grundsatz gelten lediglich dann, wenn die Einstufung durch qualitätsfremde Merkmale bestimmt ist.
  • Zum anderen ist auch die tarifliche (konkrete) Zuordnung des einzelnen Versicherten durch den Arbeitgeber zu prüfen. Sie ist Anhaltspunkt dafür, dass die vom Versicherten ausgeübte Tätigkeit in ihrer Wertigkeit der Berufs- und Tarifgruppe entspricht, nach der er bezahlt wird. Die Richtigkeit dieser Eingruppierung kann aber durchaus "widerlegt" werden.
 

Der Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit hat folgende Voraussetzungen:

  • Das Leistungsvermögen des Versicherten ist allein wesentlich bedingt durch Krankheit oder Behinderung ab einem bestimmten Zeitpunkt dauerhaft, d.h. für mehr als 26 Wochen, derart herabgesunken, dass er seinen rentenversicherten "bisherigen Beruf", d.h. den sog. Hauptberuf, nicht mehr zumindest täglich sechsstündig vollwertig ausüben kann. Die Darlegungs- und Beweislast trägt der Versicherte.
  • Kann dies im Sinne des Vollbeweises festgestellt werden, muss von Amts wegen der zumutbare Vergleichsberuf (Verweisungsberufs) geprüft werden. D.h. es ist festzustellen, ob der Versicherte gesundheitlich fähig ist, einen Beruf, der im Vergleich zu seinem bisherigen Beruf qualitativ zumutbar ist, noch vollwertig mindestens sechsstündig zu verrichten. Die Darlegungs- und Beweislast hierfür obliegt dem Versicherungsträger.

Kann der Versicherte den typischen Aufgaben eines zumutbaren Verweisungsberufs (d.h. dem sog. fachlichen Anforderungsprofil) und den mit diesen fachlichen Anforderungen üblicherweise verbundenen gesundheitlichen Belastungen (d.h. dem sog. gesundheitlichen Belastungsprofil) genügen, ist er grundsätzlich nicht berufsunfähig. Liegen aber besondere ("spezifische") Leistungseinschränkungen oder eine ungewöhnliche Summierung von Leistungseinschränkungen vor oder ist der benannte Vergleichsberuf nicht "arbeitsmarktgängig", wofür der Versicherte die Darlegungs- und Beweislast trägt, muss konkret festgestellt werden, ob es gleichwohl genügend (grundsätzlich mehr als 300) Arbeitsplätze des Vergleichsberufs gibt, an denen der Versicherte arbeiten könnte.

Für Facharbeiter ist der Grundsatz, wonach der Versicherte im Vergleich zu seinem bisherigen Beruf grundsätzlich auf die nächstniedrigere Gruppe verwiesen werden darf, dahingehend zu konkretisieren, dass ein Facharbeiter nur auf solche Tätigkeiten verwiesen werden kann, die eine betriebliche Anlernzeit von wenigstens drei Monaten erfordern oder sich aus dem Kreis der ungelernten Tätigkeiten nach der tariflichen Eingruppierung durch den Arbeitgeber bzw. der tarifvertraglichen Eingruppierung oder aufgrund besonderer qualitativer Merkmale hervorheben und deshalb einer Anlerntätigkeit gleichstehen. Für die Prüfung, ob eine tarifliche Eingruppierung der Verweisungstätigkeit als Qualitätsmerkmal im Sinne des Mehrstufenschemas herangezogen werden kann, ist von dem zur Zeit der gerichtlichen Entscheidung zeitlich und örtlich einschlägigen Tarifvertrag auszugehen. Der Tarifvertrag ist sodann daraufhin zu überprüfen, ob die Lohngruppen allgemein nach Qualitätsstufen geordnet sind und ob der zu prüfende Beruf darin als solcher eingestuft ist, oder ob der Tarifvertrag insoweit lediglich allgemeine Merkmale enthält, anhand deren der jeweilige Arbeitgeber eine Eingruppierung der betreffenden Tätigkeit vorzunehmen hat.

vgl. hierzu mit zahlreichen weiteren Rechtsprechungshinweisen:

LSG Nds.-Bremen - U.v. -16.08.2006 - L 2 KN 17/05

 

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